Uwe Tellkamp - Der Turm

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Hausmusik, Lektüre, intellektueller Austausch: Das Dresdner Villenviertel, vom real existierenden Sozialismus längst mit Verfallsgrau überzogen, schottet sich ab. Resigniert, aber humorvoll kommentiert man den Niedergang eines Gesellschaftssystems, in dem Bildungsbürger eigentlich nicht vorgesehen sind. Anne und Richard Hoffmann, sie Krankenschwester, er Chirurg, stehen im Konflikt zwischen Anpassung und Aufbegehren: Kann man den Zumutungen des Systems in der Nische, der "süßen Krankheit Gestern" der Dresdner Nostalgie entfliehen wie Richards Cousin Niklas Tietze — oder ist der Zeitpunkt gekommen, die Ausreise zu wählen? Christian, ihr ältester Sohn, der Medizin studieren will, bekommt die Härte des Systems in der NVA zu spüren. Sein Weg scheint als Strafgefangener am Ofen eines Chemiewerks zu enden. Sein Onkel Meno Rohde steht zwischen den Welten: Als Kind der "roten Aristokratie" im Moskauer Exil hat er Zugang zum seltsamen Bezirk "Ostrom", wo die Nomenklatura residiert, die Lebensläufe der Menschen verwaltet werden und deutsches demokratisches Recht gesprochen wird.

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Die Frau kocht, putzt, geht arbeiten, kümmert sich um die Kinder

Kleingartensparte, Hollywoodschaukel, Gartengrill, Regentonne, Biervorräte, portabler Fernseher

Datsche

Hofft auf den Bundeskanzler

Hofft auf M. Gorbatschow

Die Welt des frühen Aufstehens

Die Welt des Spätnachhausekommens

Ich gehöre der Arbeiterklasse an, sagte der Dozent eisig, ich halte es mit Marx, Engels und Lenin! Er verlangte» Ihren Namen, Genosse«, Philipp bedauerte, daß immer mehr Kader immer weniger Spaß verstünden, nahm eine Broschüre aus dem Institut für Gesellschaftswissenschaften vom Pult, suchte ein wenig, wobei er sich die Schnurrbartenden zu Schlittenhörnchen zwirbelte, gab dem Genossen Dozenten ein Autogramm.

(Freitag)

Wahlprogramm (»die Heimleitung empfiehlt«): Ausflug zur Warnowwerft in Rostock (5 Stimmen), Besichtigung von Saßnitz und des kleinsten Museums der Republik (der vor dem Bahnhof ausgestellte Waggon, in dem Lenin, Funke in einer langen Lunte, ins Pulverfaß des vorrevolutionären Rußland reiste, 4 Stimmen). Daneben hatte ein Witzbold BADEN gekritzelt (19 Stimmen). Also Warnowwerft. Ich schrieb dem Schiffsarzt eine Karte (das maritime Motiv des Neubaugebiets Lütten Klein war mir gerade recht), dann rief ich Libussa an. Arbogasts Bleistift-Sendung ist eingetroffen. Sie meinte, die Honich würde bei mir herumschnüffeln, und schlug vor, mit der Polizei zu drohen. Ich habe meine Manuskripte Anne zur Verwahrung gegeben, riet also zum Frieden, wenngleich mir der Gedanke schwer erträglich ist, daß dieses Weibsstück an der Zehnminutenuhr — wie vertraut, wie beruhigend der Gong, den ich durchs Telefon hörte — herumfingert, womöglich, um sie zu demolieren: manche Menschen können fremdes Glück nicht ertragen, manche Menschen reizt die Würde aristokratischer und wehrloser Gegenstände, sie zu verkrüppeln. Libussa sagte, Chakamankabudibaba habe eine schlechtverdaute Maus auf den Schelling erbrochen.

(Sonnabend)

Wer trägt noch weiße Handschuhe? Marisas schienen aus Rehleder zu sein, so fein gegerbt, daß sie, wenn Marisa die Finger zur Faust schloß, über den Knöcheln glänzende Säuglingsnasen bildeten. Sie trug sie zu khakifarbenen Drillichhosen, aus deren rechter Vordertasche der Kopf einer Zahnbürste lugte, einem leuchtendblauen Nicki mit aufgedruckten orangeroten Flamingos und einer Jeansjacke, die sie lässig über die Schulter geworfen hatte und mit dem kleinen Finger hielt. Sie kam ohne Gepäck. Als sie mich sah (ich hörte gerade mit dem Stethoskop einige Bäume ab, vor allem anbrüchige sind akustische Kathedralen, Ulmen wachsen mit anderen Geräuschen als Buchen), riß sie die Militärmütze herunter und schwenkte sie rundherum, als wollte sie einen Flugzeugpropeller anwerfen. Eben hatte ich mit Judith einen kleinen Disput über Wirklichkeit gehabt — Judiths Antwort auf meine Aufklärungen war, daß sie eine Brennessel ausriß und mir unbewegten Gesichts vorwies:»Das ist für mich Wirklichkeit«; da, die Brennessel noch in der Hand, auf der sich schon Quaddeln und rote Juck-Atolle gebildet hatten, sah sie Marisa, wie sie fröhlich die Mütze schwenkte. Philipp schaukelte hinter uns in der Kniekehle eines elefantenbeinstarken Ulmenasts und blätterte in einem Reclamband über utopische Sozialisten (Babeuf, Blanqui); der Alte vom Berge streifte an der Westseite der» Lietzenburg «auf und ab, bewunderte die architektonische Mischung aus Jugendstil und englischem Landhaus, die weitarmigen Frau-Holle-Fenster; hin und wieder rief er einen Vers:»Jetzt gleich wie wenn im Keller zwischen Tod und Leben / Der Blumen Knospen ein vergrämtes Dasein weben.«— Sah Judith Marisa, ging lächelnd auf sie zu, umarmte sie, hob die Hand mit der Brennessel.

«Ach, Sie sind das«, sagte Marisa. Ihr Deutsch war inzwischen fast ohne Akzent.

«Ja. Schönes Nicki haben Sie an, Frau Sanchez.«

«Aus Santiago de Chile. Darf ich mir erst noch meine Handschuhe reinigen? Ich habe vorhin dummerweise ein klebriges Eis gegessen. Guten Tag, Herr Rohde. «Ich nahm die Stethoskopbügel von den Ohren.

Judith:»Ich hab’ ein Messer.«

Marisa:»Ein gutes?«

Judith reichte es Marisa, die es aufklappte und kennerisch untersuchte:»Ein gutes Messer«, sagte sie und gab es Judith zurück,»woher haben Sie das? Wissen Sie auch, wohin Sie stechen müssen?«

«Dahin, wo es weh tut, nehme ich an. Es ist ein echtes französisches Laguiole, ein Leser hat es mir geschenkt.«

«Ich bitte Sie — schenken Sie mir das Messer. Sie können ja doch nicht damit umgehen.«

«Ich würde Ihnen jetzt gerne eine verpassen. Dahin. «Judith hob die Faust und stoppte kurz vor Marisas Jochbogen.

«Hat wenig Wirkung, wenngleich es spektakulär aussieht. Sie dürfen sich auch nicht täuschen: Ins Gesicht zu schlagen fällt den meisten Menschen schwerer, als sie glauben. Ich würde schneller sein als Sie, den Schlag nach oben lenken, sehen Sie, so«, Marisa demonstrierte es,»und Sie dann dort treffen«, Marisa stoppte ihre kleine weißbehandschuhte Faust vor Judiths Adamsapfel.

«Erst der Mann, dann das Messer. «Judith betrachtete die offene, stabheuschreckenhaft schlanke Klinge.

«Sie würden für Philipp zustechen?«

Judith blickte sich nach Philipp um, der das Buch beiseite gelegt und rittlings auf dem Ast sitzend begonnen hatte, sich die Fingernägel zu schneiden. Hin und wieder rief er» albern«, schob sich den cremefarbenen Hut aus der Stirn, kam aber nicht näher, und ich sah nach dem Alten vom Berge, der inzwischen an seiner Schreibmaschine in der Sonne saß, Leimtopf, Konzeptpapier und Schere neben sich, und ohne aufzumerken am Bergprojekt werkelte. Judith sagte:»Sie können das Messer haben. Ihre Forderung ist derart unverschämt, daß sie mir schon wieder gefällt. Ich mag es, wenn eine Waagschale eindeutig nach unten saust. Wenn schon verlieren, dann richtig, sagt die andere Schale. Aber sie ist leer und frei.«

«Sie wollen von außen zustechen, aber das ist ganz falsch. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen. «Marisa entwand ihr das Messer, henkelte Judith unter, sie gingen in Richtung» Lietzenburg «davon, in ihr Gespräch vertieft, die Köpfe eng beieinander.

Der Alte vom Berge schrak zusammen beim Klang der Uhr; im Bibliothekszimmer der» Lietzenburg «saß außer ihm und Meno niemand. Er nahm die Lesebrille ab, erhob sich ächzend, stellte das Apollodor-Buch zurück ins Regal neben den Stapel» Sibylle«-Zeitschriften, aus denen Karlfriede Sinner-Priest abends, wenn der Wachtturm auf dem Dornbusch Lichtsektoren über die Insel und das Meer tasten ließ, Stil-Kostproben zum besten gab; es waren vom Ticktack der Standuhr und, da es mit Einbruch der Dämmerung schon kalt wurde, dem beifälligen Schmauchen des mit Windmühlen-Kacheln verkleideten Ofens gehätschelte Stunden. Da saß Zensor neben Zensorin, sie in Häkel-Stola, er in Strickjacke, und beide mit beflogenen Wangen, denn machte ihr Schaukelstuhl» knirr«, machte sein Schaukelstuhl» knarr«.»Zeit, Herr Rohde. Barsano läßt man nicht warten.«

Marisa und Philipp stießen am Strand zu ihnen. Sie trugen Gitarren an folkloristisch bunten Flechtgurten geschultert und sahen wie Abenteurer aus mit ihrem salzstarren Haar unter Strohhüten, die zerfranste Schattensterne auf die Füße warfen, die sie, am vor- und zurückschwingenden Wassersaum mit seinen bewußtlos taumelnden Muscheln watend, von glitzernden Händen abtasten ließen. Sie gingen in Richtung Kap, dessen Schroffen schon Abendröte sammelten, nahmen einen der Pfade, die davor die Steilküste hinaufführten. Am Pfadrand wuchsen Odermennig und Schafgarbe, Schwarze Königskerze und der Bittersüße Nachtschatten, die der Alte vom Berge, zu Menos Erstaunen, ohne langes Besinnen ansprach:»Ein Apothekerssohn, Herr Rohde, sollte hinreichende botanische Kenntnisse besitzen — «. Den Rest des Satzes verschluckte Motorengebell. Hinter dem Kap preschten Buggies durch die Brandung und die Düne hinauf, die hier durch Sandabbrüche flacher anstieg. Philipp beschattete die Augen. Meno erkannte die Kaminski-Zwillinge, in den übrigen drei Wagen saßen Mitglieder des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Einer der Zwillinge brauste die Anhöhe hinauf, stoppte vor Philipp.»Na, Herr Londoner, in welche Spalte Ihrer Tabelle fällt diese Aktivität?«»Frechheit«, versetzte Philipp, ohne sich zu besinnen; Meno griff ihm in den Arm.

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