Er hätte weggehen können, und vielleicht wäre ihm Anne nicht gefolgt; Christian spürte, daß sie mit ihm sprechen wollte, aber er haßte Sentimentalitäten: Tränen, Eingeständnis von Schwäche, Verzweiflung, er dachte: den ganzen Frauenkram eben; er stellte sich vor, seine Mutter würde ihn auf einem solchen Spaziergang mit Gejammer und Schluchzen — oder noch schlimmer: mit nichts von alledem, nur mit verständnisvollem Schweigen — windelweich machen: wozu? Was hätte es geändert? Sie saßen vor dem Bungalow, ein Windlicht brannte, nicht genug für Regines Briefe, die Richard vorlesen wollte; Niklas knipste die Lampe über dem Eingang an. Christian ging nicht. Er war müde, angenehmerweise fragte ihn niemand etwas, die Luft war lau, Grillen zirpten schläfernd, im Liegestuhl lag es sich bequem. Gudrun machte den Vorschlag, auf der Rückfahrt Ina in Berlin zu besuchen; der kleine Erik sei inzwischen aus dem Gröbsten heraus, da falle Besuch nicht mehr lästig. Anne hatte Tee gekocht. Trillerpfeifengeschrill zerkleinerte die Ferienlagerruhe, Kinder traten vor den Bungalows in zwei Reihen an. Richard las nicht lauter.
«… die Tür wurde von außen zugeschlagen. Schon fuhr der Zug an. Wir verstauten das Gepäck. Keine Umarmung vor der Grenze, wir waren abergläubisch! Der Zug hielt auf freier Strecke. Draußen rannten so kleine Uniformierte herum, ich dachte, das sind Russen; ein Gewusel und Getrappel, schon stand einer im Abteil.»Ausweise und Zollkontrolle!«im vogtländischen Dialekt. Und noch mal Angst, geht alles gut? Die Gepäckstücke wurden gemustert. Als erstes kramte er in meiner Handtasche.»Was ist denn das«? Philipps Wunschliste, ich hatte sie für ihn aufgeschrieben. Darauf stand: Papa. Ein Pfirsich, so groß wie ein Fußball. Der Uniformierte steckte den Zettel ein.»Und das?«Ich hatte für Philipp eine Fahrerlaubnis mit Paßbild und gemaltem Stempel für seinen Liliput gebastelt (er war ein Meister auf dem Tretroller, konnte besser rückwärts einparken als ich mit dem Auto). Ich rang mir eine Erklärung ab. Meine Nerven waren ziemlich überreizt. Er klappte das Mäppchen zu, steckte es in die Handtasche, gab sie mir.»Gute Reise!«— und war aus dem Abteil. Kurze Zeit noch Lärm auf dem Gang, Poltern, mißvergnügte Stimmen. Dann setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Hansi ärgerte sich, daß der Kerl die Wunschliste gestohlen hatte. Philipp hat seelenruhig alles verschlafen. Vor Erschöpfung sind wir dann auch eingenickt. Bremsengekreisch,»Loandshuut «von draußen. Gegen 11 Uhr war die Familie glücklich im Hauptbahnhof München vereint.«
Robert ging in den Bungalow; er wollte zum Nachtangeln an den Bodden. Das Windlicht knisterte von stürzenden, aufflitternden Insekten. Die Fliegenpilzlampen wehten an, eine nach der anderen, und aus jeder fiel Helligkeit, dachte Christian, wie Milch aus einem Krug in der Hand eines Mädchens. Da war ein Sog in der Kiefernwand hinter dem Ferienlager, Rausch und Auflösung am fließend ins Dunkle gezogenen Himmel, Christian fühlte sich beklommen. Niklas zündete sich die Shagpfeife an. Gudrun gurgelte mit Tee, lehnte sich zurück, beide Arme auf den Liegestuhlstützen; begann zu rezitieren, Verse, die Christian nicht kannte:
«Schlaflosigkeit. Homer. Die Segel, die sich strecken.
Ich las im Schiffsverzeichnis, ich las, ich kam nicht weit:
Der Strich der Kraniche, der Zug der jungen Hecke
Hoch über Hellas, einst, vor Zeit und Aberzeit.«
Sagte:»Mandelstam«. Jetzt nahm Niklas die Pfeife aus dem Mund und deklamierte:
«Und vom Apfelbaum fällt der Schnee
in des Vaters Bart blütenweiß.
Wie ein goldner Frosch weit im See
schwimmt der Mond seinen stillen Kreis.«
Sagte» Jessenin«. Sagte Anne:
«Wie jener Kranichkeil, in Fremdestes getrieben –
Die Köpfe, kaiserlich, der Gottesschaum drauf, feucht –
Ihr schwebt, ihr schwimmt — wohin? Wär Helena nicht drüben,
Achäer, solch ein Troja, ich frag, was gält es euch?«
Sagte» Mandelstam«. Sagte Robert:»Ich geh’ jetzt angeln. «Sagte Christian nichts.
Holte Richard das Akkordeon, sang:
«Hand und Wort? Nein, laß — wozu noch reden?
Gräm dich nicht und werd mir nicht so fahl.
Sterben —, nun, ich weiß, das hat es schon gegeben;
doch: auch Leben gabs ja schon einmal.«
Setzte ab, sagte:»Jessenin«. Sagte Gudrun:
«Homer, die Meere, beides: die Liebe, sie bewegt es.
Wem lausch’ ich, und wen hör ich? Sieh da, er schweigt, Homer.
Das Meer, das schwarz beredte, an die Ufer schlägt es
Zu Häupten hör ichs tosen, es fand den Weg hierher.«
Sagte:»Mandelstam«. Christian sagte nichts. Anne weinte.
Trudelte da nicht eine von den grauen Schwestern, wie Falkenhausen sie genannt hatte? Kreuzspinne mein, Querspinne dein. Oder war’s eine Flügelfrucht von den Schattengebern, die um die» Lietzenburg «standen und der Sonne nur Zehenspitzen gestatteten? Die Spinne trippelte am Fensterrahmen hoch, verharrte, hob das Hinterteil (jetzt ließ sie wohl die Flugfäden schießen, man sah es nicht), wartete, bis die Zugspannung ihr signalisiert haben würde, daß sie loslassen konnte — weg. Meno sah zum Himmel: klare, wolkenlose Tage, trockenes Blau, Marienwetter, hatten das die alten Leute in Schandau genannt. Angeschürfter, nicht mehr müheloser Sommer, erste Wärmeschulden, quittiert von Nachtkälte; Überhänge schon im Blüten- und Insektengeschehen, Last, die aufwärtsweisende Kräfte niederbog. Er dachte an die Kliffs im Norden der Insel. Dort quirlte Svantevits Zorn, kochte Strömung und Schlamm, fuhr über Lehmkleister, das glattgespülte, kitthelle Zahnfleisch des Strands, drehte Dünungs-Töpferscheiben, knarrte auf Wasserorgeln, zurrte Wellen-Frisbees, die jeden Schwimmer mitrissen, spitzte die Brandung zu Messern, die tief in den Inselrumpf stachen, krallte sich Kies und Ton, schälte, unermüdlich in immer neu aufgeschaukelter Rage, Hohlkehlen, Stollen, Höhlen in die Steilwände, von denen es bröselte, bröckelte, sackte; Miniergänge rutschten zwischen Steinnasen voran, die längst zernagtes Festland markierten und, angekündigt von rieselndem, kollerndem Grus und Staubfahnen, in die See oder auf den schmalen, noch verbliebenen Strandstreifen brachen. An der Hangkante rissen Wiesen wie nasses Papier. Kiefern, tapfer und zäh gegen Wind-, gegen Orkankarussells, knickten nach unten. Die karge Vegetation auf den lichtlastenden Kliffflanken wurde geschleift. In den Brandungsrinnen gluckerte, toste, peitschte, schluchzte, sirrte, paukte, stampfte es, nach Windrichtung und — stärke; in den Herbstböen, sagte der Alte vom Berge, der das Zimmer gegenüber Philipp Londoners am Ende des Flurs hatte, hörte es sich manchmal an wie ein wrackgehendes Schiff: Holzknirschen, Mastsplittern, brodelndes, in die Meeresgurgel geschlungenes, vom Knurren und Heulen der Sturmorchester umtanztes Ertrinken. Kreuzspinne auf der Räderharfe. So flogen sie also schon, die jungen Spinnen. Kam der Altweibersommer früh dies’ Jahr. Für Judith Schevola nur ein Grund mehr, sich fremde Kleidung zu borgen (trotz Gepäck im Halbdutzend —»ich finde immer jemanden, der mir das schleppt«), zu Philipps Anzügen Menos Pullover zu tragen, wenn man abends in der Halle am Kaminfeuer beisammensaß. Es klopfte.
«Kommen Sie mit? Wir wollen baden. «Judith Schevola wog eine aus Stoffstreifen zusammengenähte, regenbogenbunte Strandtasche mit dem Zeigefinger ihrer Linken, kam ins Zimmer, ohne auf Menos Antwort zu warten, verschob den Schlitten der Schreibmaschine bis zum» Pling «des Glöckchens, öffnete, nachdem sie die Tasche an das Zeilenschaltrad gehängt hatte, den Spind und begann Menos Sachen zu durchwühlen.»Ich hätte wetten können, daß Sie mehrere von diesen Dingern haben. Eine zum Trocknen, eine zum Gebrauch, eine als Ersatz. Na bitte. «Triumphierend hielt sie drei Badehosen hoch.»Wie kann man bei diesem Wetter nur hier drin hocken und — was tun? Sagen Sie bloß, Sie schreiben. Gedichte?«Ihr sandiges Lachen hatte sich etwas geglättet, die Seeluft bekam ihr offenbar, und sie schien weniger zu rauchen.»Hier kann man doch nicht schreiben. Diese gehäkelten Lampenschirme, diese Tischdecken, ein Karo rot, ein Karo weiß, das gleiche auf der Bettdecke, Karo rot, Karo weiß, und ganz kleine Karos immer. «Sie stellte den Zimmer-Rundfunk an.»Man hört: das Meer!«kommentierte sie die von Knistern und Knacken, einzelnen Tiefsee-Skandinaviern und ebenso abrupt glasklaren wie abbrechenden Tschaikowski-Klängen durchkreiselten Gischtgeräusche aus dem» RFT«-Gitter unter der gebleichten Fotografie des FDGB-Vorsitzenden. Meno sah auf Judith Schevolas nackte Füße, die beim Gehen, vielmehr: Tänzeln, die fransigen Jeansröhren in den Kniekehlen zu einer vorwitzigen Knick-Mimik brachten. Sie lief zum Waschbecken, roch an der» Fa«-Seife (ein Geschenk von Ulrich), schnupperte am Rasierwasser, beäugte den buschig geblähten, gamsbarthaften Rasierpinsel, schraubte die Zahncremetube auf, drückte ein Würstchen auf den Zeigefinger und fuhr sich damit rasch und ungründlich im Mund herum. Dann gurgelte sie, spuckte aus, sagte zu ihrem Spiegelbild» Gurke«, streckte dem fasziniert-verdatterten Meno die Zunge heraus.»Na los! Worauf warten Sie? Daß uns dieser Heimdrache mit sozialistischer Moral kommt?«Von der» Lietzenburg «führte ein Pfad durch Heckenrosen und Sanddorngestrüpp. Bilsenkraut roch. Auf geborstenen Treppenstufen sonnten sich Eidechsen und wichen nur zögernd dem vorsichtigen Fuß. Philipp Londoner und der Alte vom Berge waren schon am Strand. Philipp hatte eine Sandburg gebaut, in den Wall einen Windschutz gesteckt. Jetzt war er damit beschäftigt, mit Kieseln die Namen der Nutzer zu legen, SCHEVOLA und ALTBERG hatte er schon fertig. Er saß nackt und gebräunt, ganz vertieft in diese, wie Judith Schevola lachend befand, sehr deutsche Tätigkeit, hatte einen Strohhut aufgesetzt, unter dem das lange Haar offen im Wind wehte. Auch der Alte vom Berge war nackt. Meno hatte etwas gegen FKK, und erst recht gegen die ungezwungene Art, mit der Schevola damit umging. Mit raschen Griffen war sie ausgezogen, behielt nur die Gummisandaletten an; der Strand war steinig, wie überall an diesem Küstenabschnitt. Etwas entfernt winkte der Autor Lührer, wies nach oben, wahrscheinlich war das Fernrohr der» Lietzenburg «auf Judith Schevola gerichtet. Meno beobachtete sie. Auf ihren Lippen lag ein boshaftes Lächeln, sie cremte sich genüßlich ein. War man nicht schon genügend Indiskretionen ausgesetzt hierzulande? Der nackte Körper war Geheimnis, und er sollte es bleiben. Der gleiche nackte Körper war beim Baden unberührbar, bei Flirts geisterte er in den Vorstellungen; er fand, daß man sich etwas vergab, wenn man ihn ohne Hüllen präsentierte, mochte er auch noch so anziehend sein. Man hatte ihn gesehen, für die Phantasie blieb kein Raum mehr. Im Tausendaugenhaus, im dichten Gartengestrüpp allein an heißen Sommermorgen, war Nacktheit etwas anderes. Meno starrte auf Schevolas Strandtasche, Philipp auf seine Steinchen, der Alte vom Berge spitzte die Lippen und tat angelegentlich, als ob er sich die Ohren ausschütteln müßte.
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