Uwe Tellkamp - Der Turm

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Hausmusik, Lektüre, intellektueller Austausch: Das Dresdner Villenviertel, vom real existierenden Sozialismus längst mit Verfallsgrau überzogen, schottet sich ab. Resigniert, aber humorvoll kommentiert man den Niedergang eines Gesellschaftssystems, in dem Bildungsbürger eigentlich nicht vorgesehen sind. Anne und Richard Hoffmann, sie Krankenschwester, er Chirurg, stehen im Konflikt zwischen Anpassung und Aufbegehren: Kann man den Zumutungen des Systems in der Nische, der "süßen Krankheit Gestern" der Dresdner Nostalgie entfliehen wie Richards Cousin Niklas Tietze — oder ist der Zeitpunkt gekommen, die Ausreise zu wählen? Christian, ihr ältester Sohn, der Medizin studieren will, bekommt die Härte des Systems in der NVA zu spüren. Sein Weg scheint als Strafgefangener am Ofen eines Chemiewerks zu enden. Sein Onkel Meno Rohde steht zwischen den Welten: Als Kind der "roten Aristokratie" im Moskauer Exil hat er Zugang zum seltsamen Bezirk "Ostrom", wo die Nomenklatura residiert, die Lebensläufe der Menschen verwaltet werden und deutsches demokratisches Recht gesprochen wird.

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(Mittwoch, abends)

Grillen —

Prag 68. Der dritte Weg. Versteinerte, monumentale Gesichter an den Canyons Heiliger Theorien. Das kahle Du oder Ich, das, wie alle Unausweichlichkeiten, weder ohne Komik noch ohne Langweile ist. Dort, in der ČSSR 68, schien sie möglich, die humane Gesellschaft, die nicht vergißt, daß sie aus Individuen besteht. Demokratie und Offenheit im Gespräch. Kritische, aber nicht Öffentlichkeit um ihrer selbst willen.

Schevola:»Ein Traum, Herr Rohde. Von Panzern überrollt.«

Der Alte vom Berge:»Vielleicht haben Dubček und seine Freunde nur Glück gehabt.«

Philipp:»Sie als Ketzer? Man höre!«

Der Alte vom Berge:»Die leuchtendsten Träume sind die, die nie Wirklichkeit zu werden brauchten. Halten Sie denn, Herr Londoner, einen kapitalistischen Sozialismus ernsthaft für möglich? Freiheit der Produktion, der Reaktion auf den Markt, erfordert Freiheit der Gedanken. Ihr Vater hat jüngst Interessantes darüber geäußert.«

Philipp:»Die Gedanken müssen nicht unfrei sein im Sozialismus. Der unfreie Sozialismus ist keiner. Die echte sozialistische Gesellschaft entwickelt sich aus ihren benannten und bemeisterten Widersprüchen.«

Schevola:»Dann leben wir nicht im Sozialismus.«

Der Alte vom Berge:»Sagen Sie das nicht so nachdrücklich, meine Liebe. — Dubček steht als Märtyrer da, Prag achtundsechzig als Legende. Sie konnte ein Mythos werden, weil ihr das Scheitern erspart worden ist. Nun sind die Bruderstaaten schuld, und wir haben eine Märchenblume, die nie im Acker der Wirklichkeit beweisen mußte, ob sie tatsächlich so schön blüht wie verheißen. — Sie halten mich für einen Opportunisten. Mag sein, daß ich das bin. Mag sein, daß ich feige bin. Ich sitze in Verlagsbeiräten, habe hin und wieder das Ohr des Buchministers — und habe es nicht gewagt, energisch für Ihr Buch einzutreten, Judith. Ich bin sogar bereit, in mir selbst zu forschen und zuzugeben, ein häßliches Stückchen Neid dort unten entdeckt zu haben. Ich bin ein Zensor, und kein angenehmer. Ich war in der SA. Ich war Soldat in der Wehrmacht. Ich war im Lager. Ich glaubte an das Gute im Menschen, trotz allem, was ich sah. Ich bin ein Kind geblieben. Ich habe Angst. Auch um dieses Land. Ich bin nicht mehr jung, und mein Leben bestand aus kaputtgehenden Träumen, Tag um Tag. Ich glaube an nichts mehr.«

Schevola:»Amen.«

Philipp:»Sie sind alt, das ist alles. Verdauungsprobleme, Juckreiz, man hat alles schon gesehen … der ganze Kram eben! Aber uns machen Sie es schwer. Solche wie Sie gibt es viele hierzulande, und leider oft in einflußreichen Positionen. Abwinken, müde Hände, müdes Blut — aber wir brauchen Kraft, Zuspruch, es ist nicht leicht«

Schevola:»— ein Revolutionär zu sein? Täterätää! Es ist so schwer, die Menschheit zu beglücken.«

Der Alte vom Berge:»Und dabei höflich zu bleiben. Ich nehme Ihnen nicht übel, daß Sie mich als alten Mann abtun. Aber der Juckreiz … das ist indiskret, mein Junge.«

Philipp:»Judith Schevola, die Gelassene, die Zynische, die Ironische. Reiß nur deine Klappe auf. Mach dich lustig über uns. Wir glauben noch an etwas. Und woran glaubst du? An nichts! Wie Sie, Herr Altberg.«

Der Alte vom Berge:»Jaja, ich sagte es schon. Früher hieß das Defätismus. Erschießen stand darauf.«

Philipp:»Dann treten Sie doch ab, wenn Sie nicht mehr können! Ihre Generation klebt an der Macht, eher stirbt man, als das Steuer anderen zu überlassen. Und was soll uns dann das Gedöns von der Jugend, der Kampfreserve der Partei, wenn sie genau das bleibt: Reserve … Ach was, das ist ja gar nicht das Problem. Sondern daß die Geronten das Land in den Abgrund fahren! Wir haben neue Daten, die Wirtschaft steuert auf eine Katastrophe zu — und niemanden scheints zu kümmern!«

Schevola:»In Polen wurde ein Priester ermordet. Popieluszko heißt er. Das kümmert mich.«

Philipp:»Du glaubst, du hast jetzt Narrenfreiheit.«

Schevola:»Ich werde für eine Weile denken, was ich sage. Rausgeschmissen habt ihr mich doch schon. Bleibt einsperren oder totmachen. Ach was, Herr Altberg. Das Kastanienlaub über uns nimmt auch bei längerem Hinsehen nicht die Form von Ohren an.«

Der Alte vom Berge:»Doch. Von Dackelohren. Uns bleibt nichts als Genauigkeit.«

Schevola:»Wie stellt ihr euch das eigentlich vor, so eine Weltrevolution? Bißchen Che Guevara im Urwald spielen? Damit verführt man nur unbedarfte Studentinnen.«

Philipp:»Mach dich lustig, wenn du willst. Was tut’s. — Übrigens wird Marisa herkommen.«

Schevola:»Deine chilenische Hure.«

Philipp:»Naja, weder unbedarft noch Studentin, was bleibt dir da schon. Wie war das, als wir zu Eschschloraque unterwegs waren?«Der Alte vom Berge:»Herr Rohde, erklären Sie mir doch mal dieses Kreuzspinnennetz.«

Schevola:»Bleiben Sie ruhig hier, wir haben nichts zu verbergen. Wär’ doch schade um den schönen Klatsch, der Ihnen entginge, Herr Altberg. Keine Angst, ich stand damals nur in der Nähe; Herr Rohde ist verschwiegen wie die Prawda.«

Philipp:»›Bürgerliche Moralvorstellungen fand ich noch nie besonders spannend … kannst deine kleine Chilenin ruhig mal mitbringen!‹«

Schevola:»Quak, quak, quak!«

Wir sahen die Bucht, im Dunst die Klippen von Møn. Sonne legte sich auf die tiefenklare Bucht; ein endloses Flirren auf der schleppenden Wasseroberfläche: als ob Schwärme von Heuschrecken die Flügel summen ließen. Daneben Szenerien, so friedlich wie ein Nachtcreme-Topf.

(Donnerstag)

Schriftsteller brauchen Schulung! Aber den Dozenten, der von Stralsund mit der Fähre gekommen war, Softeis mitgebracht hatte, Kopien aus dem» Parteilehrjahr «und einer Zeitschrift für Gesellschaftswissenschaften, machte Philipp» fix und fertig«(»rund«, sagte der Alte vom Berge nachher schadenfroh,»kugelrund«), wies ihm Denkfehler nach, ungenaues Zitieren — Philipp hatte das meiste, was der Dozent aus fleißigen Schreibmaschinenskripten herausbuchstabierte, auswendig parat, exakt bis in die originale Orthographie (»Gemüth«,»Styl«); und da saß er, der junge Professor, eine Strähne seines langen Haars in der linken Faust, einen Bleistift, den er Spitze-Ende-Spitze-Ende Halbkreise klopfen ließ, in der Rechten, die Füße in den durchbrochenen Slippern wippten im Takt zum Aufklacken des Bleistifts auf der Sprelacart-Platte, bis der Dozent angeödet seine Fingerspitzen betrachtete und vorschlug: 1) Genosse Neunmalklug möge doch bitte übernehmen und 2) was man davon halte, das Studium der Klassiker an den Strand zu verschieben? Philipp sprang auf, schrieb an die Tafel:

Kleinbürger

(Bildungs-)Bürger

Vertiko, Wellensittich, Nippes, Schondeckchen

Telefon, Insel-Bücherei, Pfeifensammlung

Besuch: Schuhe werden gewechselt (Gästepantoffeln)

Schuhe können anbleiben

Umhäkelte Toilettenpapierrolle im Auto, Duft-Tannenbäume überm Armaturenbrett, Wackel-Dackel, Schlümpfe

Verkleideter Schaltknüppel, Aufkleber: Rauchen verboten,»Ein Herz für Kinder «auf dem Armaturenbrett

Wenn Hund: Schäferhund, Spitz, Promenadenmischung

Wenn Hund: Pudel, Afghane, Dogge

Einladung zum Grillfest

Einladung zum Kaffee oder Tee

Brigadefeier, Hausgemeinschafts-Bowle

Einsame Spaziergänge (mit Handgelenkstasche)

Geht zum Fußball (mit Fan-Schal)

Redet über Fußball, zitiert präzise aus der legendären Zimmermann-Übertragung von 1954

Vorwärts nach Mallorca

Zurück zur Natur

Die Frau kocht, putzt, geht arbeiten, kümmert sich um die Kinder

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