Als nach dem Krieg meine Arbeit für den DMAD beendet war, hatte ich zuerst vor, von Tokio nach Lissabon zu fliegen, Margarida abzuholen und mit ihr nach Wien zu fahren, um dort endlich unser gemeinsames Leben zu beginnen. Aber ich entschied mich schon nach ein paar Tagen in Lissabon, allein nach Wien zu ziehen. Ich war zu feige, mich zu stellen. Was für ein ungleicher Kampf wäre das gewesen! Profane Zeitlichkeit trifft auf ewige Gegenwärtigkeit. Und was, wenn Daniel immer der Geliebte bleiben würde, gleich, was geschähe? Vielleicht war er ja zum Geliebten geboren, vielleicht bestand ja sein einziges Lebensziel darin, Margaridas Geliebter zu sein. Ich war immer der Meinung gewesen, der Mensch weiß bei den meisten Dingen, die er tut oder läßt, nicht, warum er sie tut oder läßt, und zwar nicht deshalb nicht, weil er die Zusammenhänge nicht versteht, sondern weil gar keine Gründe für Tun und Lassen existieren. Nur weil in der logisch-physikalischen Welt Kausalität herrscht, heißt das noch lange nicht, daß es Gründe gibt, warum Margarida nicht von diesem Mann, dessen Bestes sein Name war, loskommen konnte. Ich schrieb Margarida aus Wien einen Brief, gleich nachdem ich gelandet war. ›Wenn Du es willst, komm!‹ Die Wahrscheinlichkeit, daß sie der Brief erreichte, war sehr gering. Tatsächlich hat sie ihn nicht erhalten. In Wien bewegte ich mich in einem Niemandsland und in einer Niemandszeit, im Nirgendwo und Nirgendwann. Das hat mir die Brust erleichtert.
Im Herbst 1947 trafen wir uns in Marseille. Ich hatte mit ihr telefoniert, hatte sie angelogen, hatte gesagt, ich müsse in Marseille etwas erledigen, etwas Geschäftliches. ›Treffen wir uns auf halbem Weg‹, hatte ich am Telefon zu ihr gesagt. Aber Margarida hat dies nicht in einem übertragenen Sinn verstanden, wie es von mir beabsichtigt war. Am Abend sind wir trotz der Warnung des Hotelmanagers durch den Hafen spaziert, der sich immer noch in einem schreienden Zustand befand. Wir waren uns vertraut wie ein altes Ehepaar. Ich fragte sie, und sie antwortete: ›Ja.‹ Ich habe nur gefragt: ›Hast du ihn getroffen?‹ Mehr nicht. Mehr wollte ich nicht wissen. Weil ich mich vor den Details fürchtete. Solange ich die Box nicht allzuweit öffne, dachte ich, so lange darf ich Hoffnung haben, die Katze sei moribund und nicht in der Lage, mir ins Gesicht zu springen. Nach diesem Treffen haben wir fast zwei Jahre lang nichts voneinander gehört.
Schließlich schrieb ich ihr noch einmal einen Brief. Das war im März 1949. Ich hatte deinen Vater kennengelernt und deine Mutter und hatte meinen Beitrag geleistet, damit sie zueinanderfanden, und nun wollte ich, daß auch Margarida und ich wieder zueinanderfinden. ›Ich lebe in einem leeren Haus‹, schrieb ich. ›Komm zu mir!‹ Und sie ist gekommen. Wieder habe ich sie gefragt. ›Ja‹, sagte sie, ›ich habe Daniel getroffen.‹ ›Getroffen?‹ fragte ich. ›Wir haben zusammengelebt‹, sagte sie. ›Ihr habt zusammengelebt‹, sagte ich, ›wie wir beide nie zusammengelebt haben. Du kennst ihn viel besser als mich. Du hast viel mehr Nächte neben ihm gelegen als neben mir. Wäre es nicht logisch, sich einzugestehen, daß er der richtige ist für dich? Willst du die Scheidung?‹ Und sie sagte wieder: ›Was für eine verrückte Frage! Natürlich will ich mich nicht scheiden lassen.‹ Sie zog zu mir nach Wien. Nicht die geringsten Anzeichen von Sehnsucht konnte ich an ihr feststellen. Daß ihr Daniel fehlte. Nein. Was für eine kapitale Frau! Wir haben nie mehr über ihn gesprochen.
In den folgenden Jahren waren Margarida und ich dreimal in Lissabon, jeweils im Sommer, in den Semesterferien. Ich weiß es nicht, aber ich nehme an, sie hat sich bei diesen Gelegenheiten mit Daniel getroffen.
Als wir gemeinsam mit dir in der Rua do Salitre waren, habe ich es ihr eines Abends angesehen. Überdeutlich. Ich sah ihr an, daß sie soeben mit ihm aus dem Bett gestiegen war. Ich sah es ihr an. Und ich fragte sie wieder. Und sie sagte: ›Ja.‹ Wir waren noch keine fünf Tage in Lissabon. Ich fragte: ›Wirst du ihn weiterhin treffen?‹ Sie sagte: ›Ja.‹ Sie verabredeten sich an den späten Nachmittagen nach seiner Arbeit in einem Hotel. Er war inzwischen verheiratet, ein Mann Mitte Vierzig, hatte einen Job in einem biologischen Institut, einen Verwaltungsjob. Ich wußte, es mußte etwas geschehen. Wenn nichts geschähe, würde es so weitergehen bis an unser Lebensende. Würde ich mich daran gewöhnen können? Vielleicht. Aber ich wollte es nicht. Unter gar keinen Umständen! Und wahrscheinlich würde ich mich gar nicht daran gewöhnen können. Als Margarida vorschlug, daß du mich an ihrer Stelle nach São Paulo begleiten solltest, sagte ich zu ihr: ›Denk’ über eine Lösung nach, Margarida! Denk’ darüber nach! Und wenn ich aus São Paulo zurück bin, sag’ mir, was du rausgekriegt hast!‹ Ich wolle ebenfalls darüber nachdenken, sagte ich. Und ich habe darüber nachgedacht. Das Ergebnis dieses Nachdenkens lautete: Entweder läßt sich Margarida von mir scheiden, oder sie bricht jeden Kontakt zu Daniel Guerreiro Jacinto ab, sofort und für immer. Wenn weder das eine noch das andere, werde ich Maßnahmen ergreifen müssen. Ich zählte die Stunden bis zu unserer Rückkehr.
In der Nacht, nachdem du und ich wieder in Lissabon gelandet waren, fragte ich sie wieder. Sie sagte: ›Ja, ich habe Daniel getroffen.‹ ›Und die Lösung?‹ fragte ich, ›was ist die Lösung?‹ ›Wir fahren ja in ein paar Monaten wieder nach Wien zurück‹, gab sie zur Antwort.
Es war klar, es würde so weitergehen. Bis zu unserem Lebensende. Also ergriff ich Maßnahmen.«
Ich höre mich auf dem Band aus der Ferne sagen:»Ich ahnte in São Paulo, daß du etwas Furchtbares vorhattest.«
Carl sagt:»Das will ich dir glauben, ja. Du bist ein sensibler Mensch. Ich erinnere mich, daß du auf dem Rückflug sehr einsilbig warst, und ich dachte: Was habe ich falsch gemacht? Womit habe ich ihn gekränkt?«
Ich:»Ich dachte, du nimmst mich gar nicht wahr.«
Er:»Dieser Eindruck war falsch.«
Ich höre, wie er die Teetasse auf den Unterteller setzt, ein Geräusch, ungeheuer nahe — die Tasse stand auf dem Beistelltischchen neben dem Diktiergerät —, so nahe, als wäre im Vordergrund ein Dritter, der Dinge tut, aber nichts sagt, der mithört, auf den aber nicht Rücksicht genommen wird.
Carls Stimme:»Jemand, der keinen Mord begangen hat, kann nicht wissen, was in ihm nach einer solchen Tat vorgehen wird. Ich aber wußte es, denn ich hatte zweiunddreißig Jahre zuvor Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin ermordet. Er war zwar nicht daran gestorben — wenn ich diesen Witz loswerden darf —, aber das hatte ich sechs Jahre lang nicht gewußt. Sechs Jahre lang hatte ich geglaubt, einen Menschen getötet zu haben. Also durfte ich behaupten: Ich weiß, was in mir vorgehen wird, wenn ich einen Mord begangen habe. Der Gedanke, ein Mörder zu sein, war für mich sehr unangenehm, wirklich sehr unangenehm gewesen, aber ich hatte ihn ausgehalten, und irgendwann hatte wieder Normalität in meinem Kopf geherrscht, so viel Normalität, daß ich mich mit dem besten Gewissen über eine Mordtat empören konnte, von der ich in der Zeitung las. Als mir Frau Professor Noether in Kinnelon, New Jersey, mitteilte, Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin lebe in New York und sei wohlauf und lasse mich grüßen, da stellte ich zu meiner heiteren Verwunderung fest, daß ich mich neben aller Erleichterung auch mit einem Gran Wehmut von dem Gedanken verabschiedete, ein Mörder zu sein. Der Mörder hatte sich mir eingebrannt, er war zu einem Teil meiner Identität geworden, zu einem Element meines Ichs. Ich hatte eine Tat abgelitten, die ich zwar beabsichtigt, aber nachweislich nicht begangen hatte.
Ob ich ein Verbrechen begehe oder nicht, hängt selbstverständlich von mir ab, das will ich um Himmels willen nicht bestreiten, aber es hängt nicht nur von mir ab. So viele Gelegenheiten hat ein Mensch im Laufe seines Lebens, ein Verbrechen zu begehen! Wie lange dauert dieses Leben? Je länger es dauert, desto öfter, statistisch gesehen, gerät er in Zusammenhänge, die ihm ein Verbrechen nahelegen. Zu welcher Zeit findet dieses Leben statt? An welchem Ort? Ein Mann, der im vierzehnten Jahrhundert in der Nähe von Paris lebt und siebzig Jahre alt wird, hat gute Chancen, ein Verbrechen zu begehen, eine Menge Faktoren kommen zusammen, die ein Verbrechen begünstigen — außer er ist ein halber Heiliger oder hat einfach Glück. Du siehst, Sebastian, ich versuche, die böse Tat zu relativieren. Und das im moralischen Sinn Fatale daran ist, daß ich das Wort ›relativieren‹ völlig korrekt verwende, daß ich mich nicht zu schämen brauche, nicht von ›rechtfertigen‹ oder gar von ›entschuldigen‹ gesprochen zu haben. Diese beiden Begriffe hätten ja nur Bedeutung in bezug auf eine Gemeinschaft, die moralisch höher steht als der, der diese Begriffe zu seiner Verteidigung vorträgt. Zur Zeit des Hundertjährigen Krieges waren Verstöße gegen Gesundheit und Leben an der Tagesordnung, es wurde gemordet nicht nur aus Gier oder Haß oder perverser Lust, sondern bereits aus purer Bequemlichkeit oder einfach weil einem langweilig war. Das Gewissen der Gemeinschaft war auf dem Hund. Wie sollte man vom Gewissen eines Mannes verlangen, daß es sich über den Konsens erhebt? Außer eben, er ist ein halber Heiliger oder ein ganzer oder er hat das Glück und ist gierig, wenn gerade kein anderer in der Nähe ist, oder er haßt, wenn gerade kein anderer in der Nähe ist, oder er hat perverse Gelüste, wenn gerade kein anderer in der Nähe ist, an dem er sie ausleben könnte, und das gleiche, wenn er sich unbequem fühlt oder wenn ihm langweilig ist. Im Vergleich zu meinem Jahrhundert aber war das vierzehnte Jahrhundert ein Lehrling. Ich war gerade acht Jahre alt, als eine Massenschlächterei begann, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte. Und in was für schönen Bildchen wurde für diesen Krieg geworben! Und dann: Zu der Zeit, als Stalin sich anschickte, Hunderttausende, ja Millionen umbringen zu lassen, war ich als Student für ein Semester in Moskau und habe Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin die Faust gegen die Brust geschlagen, so daß er in den Vodootvodnyi-Kanal gefallen ist — was soll’s? In der Blüte meines Lebens habe ich drei Jahre mitgeholfen, eine Bombe zu bauen, die in Sekunden achtzigtausend Menschen getötet hat. Nach dem Krieg bin ich in ein Land zurückgekehrt, in dem Abermillionen Menschen ermordet worden sind, weil sie … es gibt kein Weil. Was sollte mich mein Gewissen quälen bei dem Gedanken, Daniel Guerreiro Jacinto aus dem Weg zu räumen, wenn er doch mein und — davon war ich überzeugt — auch Margaridas Glück gefährdete? Außerdem, ja, außerdem hatte ich bereits Sühne geleistet — für ein Delikt, das gar nicht geschehen war. Ich hatte also genaugenommen einen Mord frei.«
Читать дальше