Die Stärke von Mr. Lomax war seine Begeisterung, und die brannte, als wäre sie an die Sonne selbst angeschlossen. Er war der Mittelpunkt, er war Mr. Folk; wenn er in New York war, sprach sich das schnell herum, die Leute drängten sich in den Gängen des ACE, berühmte Männer und Frauen darunter — Izzy Young vom Folklore Center, die Sängerin Maria Muldaur mit ihrem Lockenkopf wie ein französischer König, der Folkmanager und Konzertpromoter Harold Leventhal, auch Tuli Kupferberg bildete ich mir ein gesehen zu haben. Ich habe Alan Lomax nur einmal getroffen, und unsere Begegnung war sehr kurz. Er kam ins Büro, wo ich gerade saß und auf Fabian wartete — ein großer, massiger Mann mit einem Knebelbart und schweren, hängenden Schultern. Er schüttelte mir herzlich die Hand. Natürlich hatte er keine Ahnung, wer ich war und was ich hier tat, und als ich ihm erklärte, ich sei derjenige, der die Kurzgeschichten über Musikanten aus aller Welt schreibe, sagte er:»Das ist wunderbar! Ich hoffe, wir können Sie für unsere Arbeit gewinnen!«Da hatte ich bereits zwei Monate lang Geld vom ACE bekommen (das Institut streckte mir das Geld vor und kassierte bei den Zeitungen). Ich erzählte ihm, daß mein Großvater in Wien ein berühmter Folksänger gewesen sei —»Schrammelmusic«. Bei dem Wort hob er die Brauen.»Stadtfolklore«, sagte er,»ich weiß. Gibt es sonst nur noch in Lissabon. Der Fado. Die Ghirardo-Brüder haben Massen von Bändern aus Portugal mitgebracht, sie stellen gerade eine Auswahl für eine Platte zusammen. Kennen Sie die Ghirardo-Brüder?«»Nein«, sagte ich.»Lassen Sie sich ihre Telefonnummer geben! Ich hoffe, Sie besorgen uns Kopien von Aufnahmen Ihres Großvaters!«Er zeigte mir die Faust, als wäre er auf dem Weg zu einer Versammlung der Black Panthers, und schon war er hinaus zur Tür.
4
Ich hatte mir eine Reihe von Musikerpaaren, dazu Kommentare in mein Notizbuch geschrieben. Ich lese darin:
Django Reinhardt und Jimi Hendrix — bei D.R. die Geschichte von seiner Frau, die ihn vom Wohnwagen durch den Schlamm zur Straße trägt, damit seine zweifarbigen Schuhe nicht schmutzig werden. Bei J.H. erfinden: z.B. wie er während eines Konzerts allein mit seinem Gitarrenspiel ein Mädchen aufgerissen hat … oder etwas Ähnliches … Freundschaft mit Eric Burdon … oder geplante Zusammenarbeit mit Miles Davis … oder etwas Privates … indianische Mutter, wenn das stimmt … Cochise und J.H. … das Apachenhafte in seiner Musik …
Duke Ellington und Johann Strauß — wie Volksmusik vergöttlicht wird … ein Zusammentreffen der beiden? J. St. in Amerika, der junge Duke … geht sich das aus?
Hank Williams — der» Shakespeare der kleinen Leute«— und Johann und Josef Schrammel — das Weinerliche als große Kunst betrachtet (In das Porträt der Schrammelbrüder wollte ich die Geschichte über meinen Großvater Martin Lukasser einflechten, die ich bereits geschrieben hatte.)
Niccoló Paganini und Robert Johnson — Teufelspakt! (Die beiden waren mein Lieblingspaar; ich wollte den jeweils einen in der Geschichte des jeweils anderen auftreten lassen, als paranoide Stimme im Kopf.)
Über den anonymen Komponisten der Marseillaise auf der einen und Townes Van Zandt und den indianischen Songwriter Peter La Farge auf der anderen Seite — Musik als ein politisches Argument von unten (Auf die beiden letzteren hatte mich Peter St. Paul in dem Studentenhotel in Greenwich Village aufmerksam gemacht. Immer wieder spielte und sang er mir Van Zandts Version von La Farges Lied über den Indianer Ira Hayes vor, der zusammen mit fünf anderen Marines 1944 im Pazifikkrieg auf der Insel Iwo Jima die US-Flagge gehißt hatte und dabei fotografiert worden war — ein Bild, das die Vorlage für die größte Bronzestatue der Welt wurde — und der 1954, nämlich im selben Jahr, als das Standbild in Arlington offiziell eingeweiht wurde —»Uncommon Valor was a Common Virtue«—, einsam, alkoholsüchtig und völlig verarmt in einem Bewässerungsgraben in seinem Reservat ertrank.)
Über den Hobo-Komponisten und Erfinder eines neuen Tonsystems Harry Partch (von ihm hatte mir mein Vater erzählt, nachdem er aus Amerika zurückgekommen war) und über Johann Sebastian Bach (wobei ich bei Bach, der ja alles andere als ein Volksmusiker war, ausschließlich auf dessen Bearbeitung des Liedes O Haupt voll Blut und Wunden in der Matthäuspassion eingehen wollte, das von H.L. Hassler als ein durch und durch diesseitiges Liebeslied geschrieben und komponiert worden war).
Franz Gruber — der Komponist von Stille Nacht, Heilige Nacht — und Lewis Allen — der Komponist von Strange Fruit, das durch Billie Holiday weltberühmt wurde (Die Kombination dieser beiden Musikanten erschien mir die verwegenste, und ich hatte nicht die geringste Vorstellung, was ich erzählen sollte. Wie sollten eine Schnulze über die Geburt Jesu und eine Ballade über den amerikanischen Südstaatenrassismus zusammenpassen?)
Leadbelly und Sebastían de Iradier y Salaverri — der Komponist von La Paloma (Leadbellys Goodnight Irene ist in Amerika ein Volkslied wie La Paloma in Europa, und ebenso wenig wie die meisten Europäer bei letzterem den Autor kennen, kennen ihn bei ersterem die Amerikaner.)
Joe Hill und Carl Michael Bellmann (Letzterer dichtete: Ach, meine Mutter, sag, wer sandte / dich just in meines Vaters Bett // Für dein Vergnügen / bei ihm zu liegen / klopfet nun mein Blut // Was gabst du, daß ich bin / dich der Liebe hin! Das gefiel mir.)
Die Serie sollte Musicians heißen (eine nicht befriedigende Übersetzung des deutschen» Musikanten«); als Untertitel schlugen Sarah Jane und Fabian vor:»Porträts of the Artists as Citizens of the World«. Ich hatte keine Einwände. Absolut keine. Ich fühlte mich als ein bedeutender Mann. Meinte — wenigstens für den Zeitraum eines Nachmittags — von allen Seiten die Augen des Weltalls teleskopisch auf mein Handeln und Denken gerichtet zu sehen.
Die McKinnons waren außerdem der Meinung, es sei besser, die Geschichten in möglichst vielen kleinen Regionalzeitungen zu veröffentlichen als in einer der großen — in der New York Times oder der Washington Post oder dem Boston Globe . Ich sagte es nicht, aber ich dachte: Die beiden geben an wie Pfauen, sie bauschen die Sache auf, um selbst größer zu erscheinen. Wer, bitte, sollte bei diesen Weltzeitungen daran interessiert sein, daß ein österreichischer Schriftsteller, der mehr einer sein wollte, als daß er einer war, jede Woche mit seiner Geschichte eine lukrative Werbeeinschaltung verdrängte? Mir fiel ein, daß die Association for Cultural Equity ja ihr Logo über, unter oder neben mein double-tale setzen würde, daß also eine Zeitung, wenn überhaupt, wahrscheinlich gar nicht an mir, sondern an einem Teil des Fördergeldes der Rockefeller Foundation interessiert sein würde. Andererseits entsprach es zweifellos dem Anliegen von Mr. Lomax, wenn meine Musikantenporträts in erster Linie von den Leuten draußen am Land gelesen würden als hier in Gotham City, wo, jedenfalls zu dieser Zeit, niemand mehr von Folkmusic irgend etwas wissen wollte.
Fabian und Sarah Jane legten mir eine beeindruckend lange Liste von Blättern vor, die sich alle bereit erklärt hätten, für eine gewisse Zeit jede Woche eine meiner Doppelgeschichten abzudrucken. Besonders stolz waren Sarah Jane und Fabian auf den Christian Science Monitor . Die deutschsprachigen Zeitungen Washington Journal und New Yorker Staatszeitung hatten beide zugleich mit ihrer Zusage angefragt, ob ich bereit wäre, darüber hinaus für sie zu schreiben. (Ein Redakteur der Staatszeitung , ein gewisser Edwin Kroger, schlug auch gleich ein Thema vor, nämlich die sogenannte» Muehlenberg-Legende«, von der ich noch nie etwas gehört hatte und in der — wie ich heute weiß — behauptet wird, es habe im achtzehnten Jahrhundert im Kongreß eine Abstimmung darüber gegeben, ob die offizielle Sprache der Vereinigten Staaten in alle Zukunft Englisch oder Deutsch sein sollte, und Deutsch wegen einer einzigen Stimme, nämlich der von Frederick Augustus Conrad Muehlenberg, die Abstimmung verloren habe. — Was für ein Jammer, andernfalls würde Amerika, America, Amerika uns gehören! — Allerdings ist an der Geschichte nicht ein Wort wahr.) Die jüdische Zeitung The Forward stellte gar in Aussicht, meine Geschichten in den drei verschiedenen Ausgaben des Blattes, auf russisch, jiddisch und englisch abzudrucken, vorausgesetzt, zwei oder drei der Musikanten, von denen ich erzählen werde, seien Juden.
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