Der Zufall hatte es in diesen Tagen auf mich abgesehen. Ich saß eine Stunde im Central Park, hatte mir zweimal bei einem der bunten Wagen heißen Kakao geholt, dazu eine Brezel, und schrieb» erste Sätze «in mein Heft. Ich achtete nur auf meine Gedanken, und so schreckte ich zusammen, als mich eine Frau ansprach, die dicht vor mir stand. Sie schlug die Hände zusammen, stieß einen Schrei aus.
«Das gibt’s doch nicht!«rief sie.»Ich glaub’s einfach nicht!«
Sie war mit mir in einer Klasse gewesen, wir hatten zusammen maturiert. Eine sehr kräftige Person war sie geworden, sie beugte sich zu mir nieder und riß mich an sich und hob mich hoch und rief dazu immer wieder meinen Namen.
Sie hieß Maria, bei einer Klassenparty hatten wir uns einmal durch Pullover und Hemd gewühlt. Sie hatte Jus studiert und war die erste aus unserer Klasse gewesen, die sich Doktor nennen durfte. Sie arbeite beim Gericht in Feldkirch, erzählte sie mir, und besuche zusammen mit ein paar Kollegen über ein verlängertes Wochenende New York. Sie wohnte in einem kleinen Hotel direkt hinter dem Plaza, keine fünf Minuten vom Eingang des Central Park entfernt.
Ich habe an diesem Tag mit drei Frauen geschlafen! Es war, als wäre ich von ihnen erzählt worden, drei Akte hin zu einem Ende — von Dorothea in ihre Zeit hineinberechnet; von Maria aus der Hand des Zufalls übernommen; von Maybelle schließlich in Schutz und Verpflichtung zurückgeholt …
3
Inzwischen war mir auch klargeworden, was für ein Kaliber Mr. Alan Lomax war; für mich obendrein eine Gestalt, als wäre sie den Mythen meiner Kindheit entstiegen (nämlich den Geschichten, die mir Carl erzählt hatte, als ich bei ihm und Margarida in Innsbruck gewesen war — den Geschichten von den Bluessängern mit den wunderbaren Namen, aus deren Klang meine Einbildungskraft je hundert neue Geschichten wachsen ließ, jede hundertmal schöner als die Blüten auf den Rosenbüschen um Dornröschens Schloß, für das ich mich nie interessiert hatte). Und nun war ich selbst in den Lebenskreis jenes Mann getreten, der einige dieser Musikanten entdeckt und berühmt gemacht hatte — zum Beispiel Hudson» Huddie «Leadbetter alias Leadbelly, den größten Geschichtenerzähler des Gospel-Blues, den Mr. Lomax in einem Gefängnis, wo er wegen Mordes an einem Rivalen einsaß, hatte singen hören und für den er sich eingesetzt hatte, bis man ihn aus der Haft entließ; oder McKinley Morganfield aus Mississippi, den er auf einer Plantage getroffen hatte und der sich ihm anschloß und nach Chicago zog und sich Muddy Waters nannte und der Vater des Electric Blues wurde. Die Porträts von Leadbelly, Muddy Waters, Fred McDowell und den anderen hingen neben dem von Woody Guthrie und den Bildern von noch hundert anderen Folk-, Blues-, Country- und Cajunmusikern und — musikerinnen in den Räumen des Hunter College, in denen das ACE untergebracht war. Die Bilder kamen mir — sicher ungerechterweise — ein wenig wie Jagdtrophäen vor, und mir fiel ein, was mein Vater einmal gesagt hatte (als Spitze gegen Carl), daß, wer nichts könne, immerhin sammle (worin ihm Carl sicher zugestimmt hätte). Alan Lomax soll mit allen diesen Musikanten gejamt haben, versicherten mir Sarah Jane und Fabian.»Welches Instrument?«fragte ich.»Mundharmonika, zum Beispiel. «Das» zum Beispiel «schien mir verräterisch. Ich spürte Antipathien gegen Mr. Lomax in mir; und das, obwohl alles, was ich über ihn hörte, sympathisch klang. Es lag wohl daran, daß in seinem Reich das Bild eines Mannes an der Wand hing, der meinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sah.
Alan Lomax war bereits in den frühen dreißiger Jahren zusammen mit seinem Vater und einem hundertfünfzig Kilo schweren Ampex-Aufnahmegerät durch Louisiana, Mississippi, Kentucky und Tennessee gefahren, um Lieder und Sänger aufzuspüren. Sie taten dies im Auftrag der Library of Congress in Washington. Feldforschung nannten sie es. Sie bauten ihr Gerät in Küchen auf, in Hinterzimmern von Kneipen, in Sprechzimmern von Gefängnissen, im Schatten von Bäumen, in Kirchen und in Schulen. Alan studierte später Anthropologie und anschließend leitete er die Musikabteilung der Library of Congress. In den frühen fünfziger Jahren tauchte sein Name auf den Listen der» Red Channels «auf, auf denen jene 151 Frauen und Männer registriert waren, die im Verdacht standen, kommunistisches Gedankengut ins Radio und ins Fernsehen zu tragen. Er verließ Amerika, reiste durch Irland und Schottland, später durch Spanien und Italien. In Europa entstand die Idee einer World Library of Folkmusic. Als der McCarthy-Spuk vorüber war, kehrte er nach New York zurück. Er frischte seine Kontakte auf, knüpfte neue, vergab den Verrätern, zumindest innerlich (empörten Herzens auch dem Sänger und Schauspieler Burl Ives), umarmte die Standhaften, die sich auf Kosten ihrer Karriere geweigert hatten, Freunde und Kollegen an das House Committee on Un-American Activities zu verraten — allen voran den vorbildlichen Pete Seeger (der von Burl Ives verraten worden war), der mit seinem Lied Where Have All the Flowers Gone die ultimative Antikriegshymne geschrieben hatte. (An einer der Wände im ACE war diesem Lied ein Sonderplatz eingeräumt, ein Arrangement, das mich an ein Altarbild erinnerte. Hier hingen unter anderem Bilder von prominenten Interpreten des Songs wie Marlene Dietrich, Nana Mouskouri, Peter, Paul & Mary und Joan Baez; weiters die Texte von verschiedenen Übersetzungen und zwei Autographen der Notenschrift mit Akkordangabe für Gitarre, beide in C-Dur, die eine mit a-Moll, die andere, die archaische, ohne a-Moll, erstere von einem gewissen Reverend Douglas F. Helgeson niedergeschrieben, die andere von Pete Seeger himself. Eine Zeitlang trug ich mich mit dem Gedanken, über diesen Song eine Dissertation zu schreiben; ich war mir sicher, ich würde unter der Postachtundsechziger Professorenschaft von Frankfurt oder Wien dafür einen Doktorvater gewinnen. Mr. Lomax hatte alles gesammelt, was mit diesem Song zu tun hatte: Pete Seegers Vorlage für den Text — ein ukrainisches Volkslied, das Michail Scholochow in seinem Roman Der Stille Don zitiert; die Vorlage für die Melodie — der Railroad-Song Drill Ye Tarriers Drill , ein Traditional, das aber, wie Mr. Lomax herausbekommen hat, identifizierbare Urheber besitzt, nämlich Charles Connolly und Thomas Casey, beide Irish railroad workers, die im Jahr 1888 gemeinsam dieses Lied geschrieben hatten; so erfuhr ich auch, daß der deutsche Text — Sag mir, wo die Blumen sind —, dem Marlene Dietrich in jener berühmten Aufnahme von 1962 ihre Stimme geliehen hatte, von Max Colpet stammte, der sich wiederum an dem Lied Sag mir, wo die Veilchen sind des deutschen Dichters Johann Georg Jacobi aus dem Jahr 1782 orientiert hatte. Für einen Nachmittag lang war ich erschüttert von dem Gedanken, was für ein großer Gefallen der guten Sache getan wäre, wenn das völkerverbindende Rhizom dieses einfachen Liedes offengelegt würde. Und das verlockendste daran: Mr. Lomax würde mir vielleicht ein Interview mit Pete Seeger verschaffen, und Pete Seeger kannte Bob Dylan, und vielleicht würde mir Pete Seeger ein Interview mit Bob Dylan verschaffen, damit ich ihn endlich fragen könnte, warum er dieses Lied nie gesungen habe … — Ich hörte mir an einer der Abhörboxen im College etwa zwanzig verschiedene Versionen an. Danach hatte ich eine Aversion gegen diesen Song — sie hält bis heute an — und verließ erleichtert das Gebäude in der 41. Straße und spazierte der Abendsonne entgegen in Richtung Times Square, fest entschlossen, mich nie wieder der Versuchung auszusetzen, meinen Namen mit den zwei akademischen Ehrenbuchstaben und dem Punkt zu schmücken.) Nachdem er in die USA zurückgekehrt war, führte Alan Lomax seine Sammlertätigkeit bei der Library of Congress fort, nun allerdings als freier Korrespondent. Es gelang ihm, die Verantwortlichen bei Columbia Records zu überreden, eine Plattenreihe mit amerikanischer Folkmusic zu starten. Die Reihe sollte der Beginn einer gigantischen Sammlung von Volksmusik aus aller Welt sein, der inzwischen von ihm so genannten Global Jukebox — ein nachgerade abstruses Unternehmen, wie er selbst meinte.
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