An einem sehr warmen Frühsommerabend saßen wir zu dritt vor Mr. Alberts Haus und sangen und spielten, da bummelten ein paar Burschen und Mädchen von der Hühnerbraterei herunter und hockten sich zu uns und summten einen umwerfenden Chor dazu, als Maybelle und Mr. Albert im Duett Back Door Man von Willie Dixon und Howlin’ Wolf sangen.
I am a back door man
I am a back door man
Well, the men don’t know, but the little girls understand
When everybody’s tryin’ to sleep
I’m somewhere making my midnight creep
Yes, in the morning, when the rooster crow
Something tell me, I got to go
I am a back door man
I am a back door man
Well, the men don’t know, but little girls understand
They take me to the doctor, shot full o’ holes
Nurse cried, please save the soul
Killed him for murder, first degree
Judge’s wife cried, let the man go free
I am a back door man
I am a back door man
Well, the men don’t know, but little girls understand
Stand out there, cop’s wife cried
Don’t take him down, rather be dead
Six feets in the ground
When you come home you can eat, pork and beans
I eat mo’ chicken, any man seen
I am a back door man
I am a back door man
Nach dem letzten Ton lächelte Maybelle schüchtern — mehr aus Respekt vor dem Song als vor ihrem Publikum, dachte ich. Wir applaudierten, und sie verneigte sich.
Ich bildete mir ein, einer der Burschen sei der, der mir das Feuerzeug an den Kopf geworfen hatte. Irgendwann verschwand er und kam mit einem Armvoll Bierdosen zurück. Er schickte mir eine herüber und drückte ein Auge. Obwohl ich das Zeug nicht ausstehen konnte (und noch immer nicht kann), trank ich die Dose aus; und eine zweite. — Das war einer der schönsten Abende, die ich in Brooklyn erlebt hatte.
6
Am Ende des Sommers flogen Maybelle und ich nach Europa — nicht, um für eine meiner Geschichten zu recherchieren, sondern um im Auftrag der Association for Cultural Equity in Jugoslawien Tonbandaufnahmen von Volksliedern zu besorgen, die in die Global Jukebox eingegliedert werden sollten. Wir würden, teilte uns Sarah Jane mit, in Ljubljana die Musikwissenschaftlerin und Ethnologin Mira Omerzel-Terlep treffen, die schon seit längerem mit ihr in Verbindung stehe; sie würde uns Bänder zur Verfügung stellen und uns ein paar Tage durch Slowenien begleiten, damit wir selbst noch weitere Lieder aufnehmen könnten. Außerdem unterhalte Frau Omerzel-Terlep, die eine Slowenin sei, Kontakte zu serbischen, kroatischen, bosnischen, mazedonischen, kosowarischen und montenegrinischen Kollegen und Musikern, die, wie sie in ihrem Brief angedeutet habe, eventuell bereit wären, uns zu übernehmen und uns mit ihrer Musik und auch einigen ihrer Musikanten bekannt zu machen.
«Stellt einfach überall, wo etwas klingt, das Mikrophon auf«, sagte Sarah Jane.»Überlegt nicht, ob die Musik etwas wert ist oder ob es überhaupt Musik ist. Dafür habt ihr zu Hause Zeit genug. Mitnehmen, mitnehmen, mitnehmen! Genauso haben es Alan und sein Vater in den zwanziger Jahren gehalten.«
Die Arbeit war gut bezahlt; unabhängig davon, wieviel Bandmaterial wir zurückbringen würden, 1000 Dollar waren uns sicher — tausend für jeden! Sarah Jane war selbstverständlich davon ausgegangen, daß Maybelle und ich gemeinsam reisen würden, daß wir einander bei dieser Arbeit brauchten — eben weil wir ein Team waren. Unser Spesenkonto (in Form von Travellerschecks) war außerdem beträchtlich, denn das ACE berechnete uns amerikanische Tagessätze, die waren gut die Hälfte höher als österreichische und sicher mehr als dreimal so hoch wie die jugoslawischen; zudem wurden wir noch mit einer Pauschale in bar — natürlich Dollars — ausgestattet, über die wir, ohne abzurechnen, frei verfügen durften. Wieviel Geld das war, weiß ich nicht mehr, Maybelle und ich legten von Anfang an alles zusammen und unser Privates dazu.
Maybelle war außer sich vor Freude, sie war noch nie in Europa gewesen. Um unseren Aufenthalt — der ja für uns wie ein Urlaub sein würde — noch etwas zu verlängern, schlug ich Sarah Jane vor, bei dieser Gelegenheit gleich auch Material über die» von Mr. Lomax so genannte Wiener Stadtfolklore «zu sichten und Tonbeispiele zu besorgen. Worunter ich verstand, daß ich in Wien zum Doblinger in die Dorotheergasse gehen und alles zusammenkaufen würde, was an alter Schrammelmusik in diesem besten aller Schallplattenläden auf Lager war; vielleicht erkundigte ich mich noch (keine Ahnung wo, wahrscheinlich auch beim Doblinger — oder frischweg in der Zeilergasse im 17. Bezirk vis-à-vis von dem Haus, in dem bis in die späten vierziger Jahren hinauf mein Vater zusammen mit meiner Großmutter gewohnt hatte und wo ich wahrscheinlich gezeugt worden war), ob es Nachfahren von Anton Strohmayer gebe, und wenn ja, würde ich versuchen, denen die Erlaubnis abzukaufen, Kopien von eventuell vorhandenen Bandaufnahmen zu ziehen. Von meinem Großvater, Martin Lukasser, existierte leider nicht ein einziger konservierter Ton; auch nicht von meinem Vater aus der Zeit, als er auf der Contragitarre Schrammelmusik gespielt hatte. Sarah Jane war sehr angetan von meinem Vorschlag, fiebrig war sie und bemüht, ihre Begeisterung zu zügeln, damit ich nicht merkte, für was für einen großen Fisch sie mich hielt, und womöglich ein höheres Honorar verlangte. Am Freitag, dem 8. September 1983, mittags um eins, landeten wir in Wien Schwechat.
Im Hotel am Schubertring waren zwei Einzelzimmer für uns reserviert. Worüber Maybelle und ich uns wunderten, denn Sarah Jane, die unsere Reise organisiert hatte, hätte blind, taub und dumm sein müssen, um nicht mitzubekommen, daß Maybelle und ich mehr als nur ein Arbeitsduo waren. Ob wir zwei Zimmer mit Verbindungstür wünschten, fragte der Herr an der Rezeption; er war nicht blind und nicht taub und nicht dumm. Und ein Rassist war er auch nicht, nehme ich an; und ich dachte, Sarah Jane ist ebenfalls nicht blind, nicht taub und nicht dumm, sie setzte lediglich bei allem, was sie über Österreich wußte, voraus, daß man hier einen weißen Mann mit einer schwarzen Frau nicht gern in einem Zimmer sähe.
Als ich den Wiener Akzent des Empfangschefs hörte und selbst, ohne es gleich bewußt wahrzunehmen, in meinen alten Penzinger Dialekt verfiel, hob sich in mir ein Strudel von Empfindungen nach oben, in dem Euphorie und Wehmut durcheinanderwirbelten: die Freude, endlich wieder zu Hause zu sein, und zugleich ein Gefühl der Trostlosigkeit, tatsächlich nie wieder hierher zurückkehren zu können; nicht weil ich es nicht gewollt hätte, sondern infolge existentieller Widrigkeiten — zum Beispiel der Zeit, die mich unüberbrückbar von dem trennte, der ich in dieser Stadt bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr gewesen war — unter anderem ein Mensch, dessen Vater sich noch nicht das Leben genommen, dessen Frau sich noch nicht von ihm getrennt hatte und dessen Sohn noch nicht von ihm ferngehalten wurde.
Einerseits hätte ich am liebsten nur schnell unser Gepäck abgestellt und wäre gleich hinaus in den Wiener Spätsommer gelaufen und hätte Maybelle meine Stadt gezeigt, die erfüllt war von den Gerüchen des Wienerwalds, die durch das Wiental strichen und sich mit den Gewürzen vom Naschmarkt und den Autoabgasen mischten und sich an die Kleider hefteten, so daß wir noch nach drei Wochen in Brooklyn nach dieser Stadt duften würden; andererseits sehnte ich mich danach, Maybelles Körper zu spüren, Stores und Vorhänge vorzuziehen und bis zur Dunkelheit mit ihr im Bett zu bleiben und mich von ihrer unsentimentalen Lust wieder in die Nüchternheit eines erwachsenen Menschen hinüberschubsen zu lassen.
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