Sie reagierte, als hätte sie auf genau diese Geschichte gewartet; als wäre sie die ganze Zeit, seit wir uns kennen, gespannt gewesen, ob ich wohl den Mut fände, ihr von diesem Menschen zu berichten. Ihr Körper straffte sich, sie war hellwach — nichts von der somnambulen Entrücktheit, in die sie für gewöhnlich verfiel, wenn sie mir zuhörte. Sie stellte Fragen. Ob dieser Mann mit uns verwandt sei. Ob wir Schulden bei ihm hätten. Ob er irgendwelche Geheimnisse über uns wüßte. Ob er mit einem aus unserer Familie irgendwann irgend etwas gehabt habe.
«He!«sagte ich.»Maybelle! Mit wem soll er etwas gehabt haben? Was redest du da! Er und Margarida sind unsere besten Freunde. Die beiden haben für uns gesorgt. Sie haben uns gerettet.«
Die Frau interessiere sie nicht, sagte sie. Ob ich mit Sicherheit ausschließen könne, daß dieser Mann auch nicht weitläufig mit uns verwandt sei.
«Ja, das kann ich. Aber was hat das damit zu tun?«
Ich sage ihr nicht die Wahrheit, jedenfalls nicht die ganze Wahrheit, beharrte sie. Sie spüre das.
Ich mußte immer wieder nachhaken, weil sie sich von mir wegdrehte und beim Sprechen den Mund nicht aufmachte, was ich gar nicht von ihr kannte. Sie war sehr aufgeregt und wollte nicht, daß ich es ihr anmerke.
Einige Tage später kam sie auf Carl zurück.»Ich habe über diesen Mann nachgedacht«, sagte sie.»Ich werde dir einiges über ihn verraten.«
«Was?«rief ich aus.»Wie kannst du über ihn nachdenken? Du weißt ja gar nichts von ihm! Ich habe dir ja gar nichts von ihm erzählt! Du hast mich ja nicht ausreden lassen!«
«Ich brauche nicht mehr über ihn zu wissen, als ich weiß«, fauchte sie. In ihrem Gesicht stand überdeutlich eine Feindseligkeit, die absurd, weil durch nichts, aber auch gar nichts begründbar und deshalb komisch war, so daß es mir den Mund zu einem Grinsen verzog. Da brach es aus ihr heraus, ein Gewitter, eine Litanei von Beschimpfungen, ich hielt mir die Ohren zu wie ein bockiger Zehnjähriger und streckte ihr hinter dem Rücken die Zunge heraus und meinte damit meinen Freund und Wohltäter gegen ihre Angriffe zu verteidigen. Von da an haben wir nie mehr von Carl gesprochen, und von meiner Familie habe ich auch nicht mehr erzählt
Merkwürdig ist, daß ich bei Carl, als ich ihm von Maybelle erzählte, eine ähnliche, freilich weniger effektvolle Reaktion zu bemerken glaubte. Sein» Sie ist die Wächterin in deinem Amerika?«war sehr herablassend. Aber ich meinte ihn zu durchschauen: Die Verachtung war gespielt, um etwas anderes zu verbergen, nämlich Eifersucht. Maybelle hatte nicht hinter dem Berg gehalten. Sie hatte mir zum Abschluß ihrer Predigt ihren Zeigefinger mit dem blutrot lackierten Nagel auf die Stirn gedrückt und gesagt:»Gut, daß du in Amerika bist! Hier kann er dir nichts tun!«
5
Am Morgen des 15. September 1982, meinem zweiunddreißigsten Geburtstag, klopfte Mr. Albert an meine Tür und sagte, Mrs. Houston sei unten, sie habe Donuts und frische Bagels aus Friedman’s Bakery mitgebracht und wolle gemeinsam mit uns frühstücken, der Kaffee sei bereits fertig. Er überreichte mir ein Päckchen, das er hinter seinem Rücken versteckt hatte, und sagte:»Happy birthday, Mr. Lukasser!«
Seit drei Wochen hatte ich Maybelle nicht gesehen. Sie hatte ihre Haare strecken und umfärben lassen, sie hingen in verwegenen Wellen in ihre Stirn und schimmerten schwarz, als hätte sie sie in Öl getaucht. Sie umarmte mich, hielt mich lange fest, ich spürte ihre Fingernägel über meinen Nacken streichen, sie küßte mich oberhalb des Schlüsselbeins auf den Hals.»Ich dachte«, flüsterte sie,»vielleicht bereitet es dir eine Freude, mit Missis Maybelle Houston und Miss Mercedes Benz ein Stück den Hudson hinaufzufahren.«
Mr. Alberts Geschenk war ein aufziehbarer Wecker in einem Gehäuse aus eloxiertem Aluminium, das schlichteste, schönste Ding dieser Art, das ich je gesehen habe (es steht heute noch auf meinem Schreibtisch).»Weil Sie mich immer wieder gefragt haben, wie spät es ist«, rechtfertigte er sich verlegen und fügte rasch mit einem Blick auf Maybelle hinzu:»Aber das hat mich nicht gestört.«
Gleich nach dem Frühstück fuhren Maybelle und ich los.
«Willst du dich ans Steuer setzen?«fragte sie.
«Ich habe keinen Führerschein«, sagte ich.
«Du hast keinen Führerschein!«rief sie.»Das ist pervers! In Amerika meint man, das sei eine Sünde, das muß ich dir schon sagen. Ich werde dich morgen anmelden!«
«Aber ich kann fahren«, sagte ich.»Ich bin sogar ein sehr guter Autofahrer.«
Sie lenkte den Mercedes auf den schmalen Pannenstreifen des West Side Express Highway und hielt an.»Also, fahr!«
«Durch die Stadt? Ich würde lieber erst fahren, wenn wir draußen sind.«
«In der Stadt ist die Wahrscheinlichkeit, daß wir angehalten werden, geringer«, sagte sie.
Ich hatte keine Schwierigkeiten, den Mercedes durch den Verkehr von Manhattan zu lenken und hinter Harlem über die George Washington Bridge auf die New-Jersey-Seite und hinaus aus dem Häusermeer. Als wir hinter Tappan wieder in den Staat New York hineinfuhren, schob Maybelle ihren Sitz zurück, schlüpfte aus ihren Highheels und legte die Füße unter die Windschutzscheibe über dem Handschuhfach. Sie war gut gelaunt und sang mir Lieder vor, Gospels, Blues, aber auch einen Countrysong von Hank Williams — Lost On The River —, das Lied wurde nach diesem Ausflug zu unserer Hymne.
Am Nachmittag, als die Sonne hinter der Stadt Poughkeepsie verschwand und die Dämmerung über den Catskill Mountains heraufzog, sagte Maybelle:»Was hältst du davon, wenn wir erst morgen in die Stadt zurückfahren? Dann haben wir noch Zeit, in Hyde Park das Haus des besten Präsidenten anzusehen, der je Amerika regiert hat.«
«Und wo übernachten wir?«fragte ich. Mein Puls hatte sich von einem Schlag zum nächsten nahezu verdoppelt.
«Hier zum Beispiel«, sagte sie, und ihr Tonfall enthielt keine Anspielung auf das, was in dieser Nacht zwischen uns geschehen könnte.
Etwas oberhalb der Straße, umrahmt von flammenden Ahornbäumen, thronte ein protziges Gebäude aus groben Titanensteinen bis übers Erdgeschoß, darüber erhoben sich aus dunkelrot gebeiztem Holz drei Stockwerke mit Erkern und Balkonen, die Fenster waren weiß gestrichen. Der Eingang war von weißen Säulen eingefaßt, darüber stand auf einem Schild: Old Hotel Dutchess .
«Laß uns hier übernachten«, sagte sie.»Wir können erst etwas essen, und anschließend spazieren wir zum Hudson hinunter und ein Stück am Wasser entlang.«
«Das ist mit Sicherheit das teuerste Hotel auf der Strecke«, sagte ich.
«Du hast heute Geburtstag, Luke«, lachte sie.»Vergiß das nicht!«
Die Eingangshalle war weitläufig, in Gruppen waren Tischchen und Fauteuils verteilt, wo Paare saßen, alle schon älter, fein gekleidet, duftend, Zigarre rauchend, Tee trinkend. Auf einer Seite stand eine gläserne Kuchentheke neben einer Bar aus rustikaler Eiche; auf der anderen war die Rezeption, ein zehn Meter langer Tresen, der mit schwarzem, goldgenietetem Leder überzogen war. An der Decke über der Lobby hing eine goldbesprenkelte, riesige ovale Glasscheibe, die eine milde Beleuchtung gab. Ich legte meinen Arm um Maybelle, und so traten wir zu dem jungen Mann, der allein an der Rezeption seinen Dienst tat. Er hatte einen schmalen, zu zwei Strichen gestutzten Oberlippenbart, braune Haare und kontaktlinsenblaue Augen.
«Wir würden gern für eine Nacht in Ihrem Hotel buchen«, sagte ich.
Er lächelte, wie es Flugbegleiter so beeindruckend können, als wäre er ein wenig auch unser Freund.»Zwei Einzelzimmer oder ein Doppelzimmer?«
Ohne zu überlegen sagte ich:»Ein Doppelzimmer.«
Maybelle zeigte keine Reaktion, als hätte sie nie etwas anderes erwartet.
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