Ich lass es nicht schreien. Sollte sie das sagen? Das Peterle brüllte jetzt, sein Kopf war rot und rund um das Näschen zeigte sich ein weißer Abdruck.
Bist du jetzt verstummt? Du wirst das Kind doch nicht verhungern lassen? Hier, Wilhelm reichte ihr einen Schein. Du ziehst dich jetzt auf der Stelle an, gehst Milch kaufen und fütterst es, verstanden?
Helene hatte verstanden. Ihre Brust pochte, der Schmerz war so ungeheuer, dass ihr übel wurde und sie kaum über Wilhelms Anordnung nachdenken konnte. Sie würde machen, was er sagte, natürlich, einfach folgen. Sie legte das Kind auf das Bett und zog sich an. Ohne Wilhelm anzusehen, wickelte Helene eine Decke um ihr Kind, sie nahm das Bündel auf den Arm und lief die Treppen hinunter.
Ihre Augen sind ganz glasig, sagte die Krämerin, haben Sie Fieber, Frau Sehmisch?
Helene bemühte sich um ein Lächeln. Nein, nein.
Sie nahm die Flasche Milch und das Töpfchen Quark und stieg mit dem brüllenden Kind die Treppen hinauf. Auf halber Treppe musste sie stehen bleiben. Ihr Wochenfluss war noch nicht versiegt, der Schmerz in der Brust setzte die Fähigkeit zur Entscheidung außer Gefecht. Sie stellte Milch und Quark ab und legte das Kind in seiner Decke auf die Stufen. Helene ging auf die Toilette. Als sie wieder herauskam, sah sie schon das fröhliche Gesicht der neuen Nachbarin, die ihre Tür geöffnet hatte und den Kopf heraussteckte. Kann ich Ihnen helfen?
Helene schüttelte den Kopf, nein. Sie nahm das Bündel auf den Arm und setzte den Weg die Treppe hinauf fort. Als sie an der Nachbarin vorbeiging, fiel ihr Blick auf das Namensschild. Kozinska. Es war jetzt am leichtesten, sich die nebensächlichen Dinge zu merken. Kozinska, so hieß die neue Nachbarin.
Oben angekommen, hatte Wilhelm schon seinen Mantel an. Er müsse hinaus nach Pölitz fahren, das Werk besichtigen. Sie solle nicht auf ihn warten. Helene legte das Kind in sein Körbchen und erwärmte auf dem Feuer die Milch. Sie füllte die Milch in ein Fläschchen, das bis zu diesem Morgen nur mit Tee gefüllt worden war, packte sich einen Umschlag aus Quark auf die Brust, der kühlte, und fütterte ihr Kind. Am Nachmittag war ihr Körper so schwer und heiß geworden, dass sie kaum noch aufstehen und hinunter auf die halbe Treppe gehen konnte. Das Kind brüllte. Man konnte die Blähungen des Kindes hören, Blähungen, die die Milch und das Schreien verursachten, geschluckte Luft, aber es würde bald satt sein, gewiss, bald würde es satt und zufrieden sein. Helene konnte auf keiner Seite ihres Körpers mehr liegen, die Haut juckte, sie war so dünn, dass Helene das Laken als Reiben und die Luft als unsägliches Kitzeln spürte, sie wollte raus aus ihrer Haut, Helene fror, sie schüttelte sich, Schweiß stand ihr auf der Stirn. Alle Stunde erhob sie sich und ging auf zitternden Beinen, sie machte sich einen neuen Umschlag, sie konnte kaum noch die Tücher und Windeln wringen, so schwach war sie. Das Fieber blieb über Nacht. Helene war froh, dass Wilhelm nicht kam. Sie wollte das Kind an ihre Brust legen, aber das Kind wand sich und schrie und biss auf die harte, heiße Brust. Es schrie empört.
Helene fütterte ihr Kind mit dem Fläschchen. Erst war es empört, spuckte vergorene Brocken Milch, verschluckte sich, die Milch im Fläschchen war noch zu heiß und schon zu kalt, Helene biss die Zähne zusammen. Es würde trinken, ganz sicher, verhungern würde es nicht. Die Entzündung ging zurück, die Brust schwoll ab, und eine Woche später war noch nicht alles gut, nicht völlig, aber ziemlich, mit der Entzündung war die Milch versiegt; Wilhelm glaubte, dass er für Recht und Ordnung gesorgt hatte. Nur die Frage mit ihrer Arbeit wollte er noch geklärt wissen, ehe er Anfang des Jahres nach Frankfurt aufbrechen musste. Wilhelm begleitete Helene zum Städtischen Krankenhaus in den Pommerensdorfer Anlagen.
Ganz bestimmt können wir Ihre Frau einstellen, sagte die Personaldienstleitende zu Wilhelm. Sie wissen, dass wir nicht halb so viele Schwestern motivieren können, wie wir benötigen. Dazu hatten wir gerade eine Entlassung. Eine polnische Schwester, auch noch Mischling zweiten Grades, die sollen ihres gleichen pflegen. Ihr Familienbuch, das Zeugnis, wie schön, dass Sie alles gleich mitgebracht haben. Ein Gesundheitszeugnis kann bei uns im Hause ausgestellt werden. Die Personaldienstleitende sichtete die Unterlagen.
Erst als die Personaldienstleitende Wilhelm und Helene zur Tür brachte, entdeckte sie den vor dem Gebäude an der Kellertreppe abgestellten Kinderwagen. Und das Kind, bleibt es bei der Großmutter?
Wilhelm und Helene sahen zum Kinderwagen. Wir finden eine Betreuung, sagte Wilhelm mit seinem strotzenden Lächeln. Die Personaldienstleitende nickte und schloss ihre Tür. Helene schob den Kinderwagen, Wilhelm lief mit langen Schritten neben ihr. Wie selbstverständlich schlug er nicht den Weg zurück zu seinem Wagen ein, sondern brachte Helene und das Kind zum Oberwiek. Die Oder war grau und schlug Wellen unter dem Wind. Wilhelm sah auf die Armbanduhr und verkündete mit Blick in die Richtung seines Wagens, dass er schon aufbrechen müsse, man erwarte ihn am Nachmittag in Berlin. Sicherlich werde die Straßenbahn bald kommen, sie werde es allein zurück schaffen, nicht wahr? Helene nickte.
In den ersten Monaten waren die feinen, glänzenden, dunklen Haare des Kindes ausgefallen, eins nach dem anderen, bis das Köpfchen schließlich kahl war und ein weißblonder Flaum wuchs, es wurden goldblonde Locken, goldblond wie Helene. Helene arbeitete laut Vertrag sechzig Stunden in der Woche im Schichtdienst, in Wirklichkeit waren es mehr als diese sechzig Stunden, alle zwei Wochen hatte sie einen Tag frei, sie holte ihr Kind von Frau Kozinska ab und hatte mit seinem dritten Geburtstag einen Platz im Kindergarten zugeteilt bekommen. Sie war froh darüber, weil sie manches Mal bei Frau Kozinska geklopft und niemand ihr geöffnet hatte. Dann hatte ihr Kind hinter der verschlossenen Tür geschrien, Mutter, hatte es geschrien, Mutter, manchmal hatte es auch nach der Tante geweint, wie es Frau Kozinska nannte. Helene hatte vor der verschlossenen Tür warten müssen, weil Frau Kozinska schnell hinuntergegangen war, um Besorgungen zu machen, und manches Mal erst nach einer Stunde zurückkehrte.
Wie heißt denn Ihre Kleine? Das hatte die Kindergärtnerin gefragt, als Helene ihr Kind zum ersten Mal brachte. Helene betrachtete seine goldenen Locken, die sich wie Korkenzieher weich über seine Schultern legten.
Peter. Sie hatte ihm noch kein einziges Mal die Haare geschnitten.
Wir kümmern uns um Ihren Jungen, sagte die Kindergärtnerin freundlich. So ein hübsches Kerlchen.
Helene würde ihm jetzt die Haare schneiden müssen. Die Kindergärtnerin strich Peter über den Kopf und nahm ihn bei der Hand.
Helene lief zwei, drei Schritte hinterher, sie hockte sich auf den Boden und küsste Peters Wange. Sie drückte ihn an sich. Er weinte und hielt sich mit seinen kleinen Armen fest.
Ich bin bald zurück, versprach Helene, nach dem Abendessen hole ich dich ab.
Peter schüttelte den Kopf, er glaubte ihr nicht, er wollte nicht hierbleiben, er schrie, er klammerte sich an sie, die Tränen spritzten ihm aus den Augen, er biss in ihren Arm, damit sie bleibe oder ihn mitnehme, und Helene musste schnell ein Lächeln zaubern und aufstehen, ihn von sich losmachen, ihm den Rücken zuwenden und hinauseilen. Sie durfte vor Peter nicht weinen. Das machte es noch schwieriger.
Wenn Helene ihn abholte, war sein Blick ein fremder. Er fragte sie: Wo warst du, Mutter?
Helene musste an die verwundete Pflegerin aus Warschau denken, deren beide Beine fehlten. Sie war ihnen erst vor wenigen Tagen gebracht worden, sie war die erste Kriegsverwundete, die Helene sah. Am ganzen Körper waren ihre Lymphknoten dick geschwollen und an mehreren Stellen des Körpers hatte sie die typischen kupferfarbenen Knötchen, die sich in den Hautfalten schon zu großflächigen Papeln entwickelt hatten. Helene musste bei der Versorgung der Geschwüre Handschuhe und Mundschutz tragen, weil die Papeln bereits nässten und Ansteckung drohte. Nur gut, dass die Patientin keinerlei Juckreiz verspürte. Dank der Antibiose heilten die Wunden der Beinstümpfe gut, aber ihr Herzmuskel hatte sich noch nicht an das lange Liegen und den langsamen Kreislauf gewöhnt, und sie litt unter Schlaflosigkeit. Es konnte sein, dass das Prontosil auch gegen die Syphilis helfen würde, vielleicht.
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