Das unerwartete Auftauchen Carl Wertheimers fand keine große Beachtung im Hause der Tante. Zwar rief er Helene nicht über das Telefon an, aber er ließ ihr durch einen Boten Blumen bringen. Helene war erstaunt, erschrocken, erfreut. Bergend legte sie ihre Hand um die Blüten, um die Luft der Blüten, die zu dicht war, ihren leichten Duft zu tragen. Wie einen Schatz brachte sie die Anemonen in ihr Zimmer. Dort war sie allein und froh, dass Martha erst spät kommen würde. Sie fragte sich, wo er jetzt noch Anemonen gefunden hatte. Sie betrachtete die Blüten, ihr Blau veränderte sich über den Tag. Die zarten Blätter wurden schwer.
Als die Anemonen am Ende des Tages gewelkt waren, verbot sie Otta, die Blumen aus der Vase zu nehmen. Helene konnte nicht schlafen. Wenn sie die Augen schloss, sah sie nur blau. Ihre Aufregung galt einer Begegnung, wie sie noch nie eine erlebt hatte, ein Zusammentreffen mit einem Menschen, mit dem es ein gemeinsames Denken, eine gemeinsame Neugier, ja, wie sie Martha anvertraute, eine gemeinsame Leidenschaft für die Literatur gab.
Martha gähnte bei dieser Vertraulichkeit. Du meinst geteilt, Engelchen, nicht gemeinsam.
Helene wusste jetzt umso deutlicher, dass ihr etwas ganz Einzigartiges widerfahren war. Sie wollte nicht länger um Martha buhlen, ihre Begegnung mit Carl war unvergleichbar und schien sich einer Martha nicht vermitteln zu lassen.
Als es am Sonntag endlich klingelte und Helene im Flur Ottas Stimme hörte, die höflich und mit deutlicher Stimme nachfragte: Carl Wertheimer? sprang Helene auf, griff zu dem seidenen Jäckchen, das Fanny erst kürzlich abgelegt und ihr geschenkt hatte, und folgte Carl in den frühen Sommertag.
Sie nahmen die Wannseebahn und spazierten zum Stölpchensee. Carl wagte es nicht, sie an der Hand zu nehmen. Ein Hase sprang vor ihnen über den Waldweg. Durch die Blätter glitzerte von unten das Wasser, und in der Ferne wölbten sich weiße Segel. Helenes Hals war wie zugeschnürt, sie fürchtete plötzlich, dass sie stottern könnte und sich ihre Erinnerung an das Gemeinsame und ihre Freude als eine einzelne entpuppte.
Da begann Carl: Ist nicht das Genügen der Natur in sich, das Selbstherrliche des Augenblicks, wie Lenz es uns sichtbar macht, die Lobpreisung des Lebens?
Der Frevel an Gott.
Sie meinen den Zweifel, Helene, das Zweifeln sei erlaubt, der Zweifel ist kein Frevel.
Vielleicht sehen Sie das anders, für uns Christen ist es so.
Protestantin, habe ich recht? Carl Wertheimers Frage enthielt keinerlei Spott und so nickte Helene schwach. Es erschien ihr plötzlich ungültig, was sie über ihre Zugehörigkeit zum lutherischen Glauben und sein Wesen äußerte, nicht weil sie den Atheismus und die andere Geburt ihrer Mutter bedachte, sondern weil ihr Gott hier so fern und von Büchner aus der Welt gejagt schien. Wer wollte schon aus Gott Alles erkennen?
Darf ich Ihnen etwas anvertrauen, Carl? Helene und Carl blieben an einer Weggabel stehen, rechts ging es zur Brücke und links tiefer in den Wald. Die Entscheidung für einen der beiden Wege konnte nicht getroffen werden, ehe sie ihm gesagt hätte, was ihr auf dem Herz lag, bleiern.
Wissen Sie, in den letzten Jahren, seit wir in Berlin sind, habe ich mich geschämt vor Gott, wann immer er mir einfiel, und ich wusste, dass ich ihn über viele Tage und Wochen vergessen hatte. Wir sind hier in keine Kirche gegangen.
Und gab es Ersatz?
Wie meinen Sie das, Carl?
Hat Ihnen etwas Freude gemacht, können Sie glauben?
Nun ja, wenn ich ehrlich bin, habe ich mir diese Frage nicht gestellt.
Carl ballte eine Faust und stemmte sie in den Himmel: Und es war ihm, als könnte er die Welt mit den Zähnen zermalmen und sie dem Schöpfer ins Gesicht speien; er schwur, er lästerte.
Lachen Sie nicht, Sie machen sich lustig.
Helene, ich mache mich doch nicht lustig. Das würde ich nie wagen. Carl zügelte seine Fröhlichkeit so gut er konnte.
Lachen Sie nur. Mit dem Lachen nahm der Atheismus schon von Lenz Besitz.
Sie glauben, ich wäre Atheist? So einfach ist das nicht, Helene. Tatsächlich kennt Gott das Lachen nicht. Und ist das nicht schade? Carl steckte seine Hände in die Hosentaschen.
Auf die Idee, Sie mit Lenz zu verwechseln, wäre ich nicht gekommen. Helene zwinkerte ihm zu. Endlich wusste sie, für welchen Augenblick sie in den letzten Wochen stundenlang vor dem Spiegel mit den geschliffenen Lilien gestanden und das Zwinkern mit einem Auge geübt hatte. Dann wurde sie ernst und sah Carl streng an. Ich wollte Ihnen etwas anvertrauen.
Ich weiß, ich schweige. Und Carl schwieg wirklich.
Es dauerte eine Ewigkeit, ehe Helene das Schweigen brechen konnte.
Ich schäme mich nicht mehr, das ist es, was mich entsetzt. Verstehen Sie? Ich war in keiner Kirche mehr, ich habe Gott vergessen, über lange Zeit habe ich mich geschämt, wenn er mir einfiel. Und jetzt? Nichts.
Gehen wir weiter. Carl schlug den Weg zur Brücke ein. Die Wolken türmten sich auf, dicke weiße Wolken, einzeln, der blaue Himmel dahinter war unerschütterlich. Auf der anderen Seite der Brücke lag ein Lokal mit Garten. Es gab kaum einen leeren Tisch im Garten, die Gesellschaften mit Sonnenschirmen und Kindern unterhielten sich laut, auch sie schienen an keinen Gott mehr zu denken. Carl wählte einen Platz. Er sagte, dieser Platz gehöre ihm, erst gehörte er nur seinen Eltern, und seit er alleine hin und wieder herkomme, gehöre er ihm. Helene stellte sich ein Leben mit Eltern in einem Gartenlokal schön vor. Carl wies zu einem anderen Tisch und flüsterte ihr zu, dass dort häufig die Maler säßen. Helene erschien der Zauber dieser Welt so fremdartig, dass sie am liebsten aufgestanden und gegangen wäre. Aber jetzt griff Carl nach ihrer Hand und sagte ihr, dass sie ein schönes Lächeln habe, das wolle er öfter sehen.
Carl Wertheimer kam aus gutem Hause, wohlhabend und gebildet, sein Vater war Professor für Astronomie, und so konnte trotz wirtschaftlicher Einbußen der letzten Jahre dem Sohn ein Studium ermöglicht werden. Der Kellner brachte Himbeerbrause. Carl zeigte in die nordöstliche Richtung, dort hinten am Ufer stehe das Haus seiner Eltern. Seine zwei Brüder waren im Krieg verschollen, der älteste sei umgekommen, seine Habseligkeiten waren geschickt worden, aber die Eltern weigerten sich, an seinen Tod zu glauben. Helene dachte an ihren Vater, aber sie mochte nicht von ihm erzählen.
Er selber habe zum Glück seiner Mutter nicht in den Krieg gemusst. Seine Schwester schließe ihr Physikstudium in diesem Jahr ab, sie sei die einzige Frau an ihrer Fakultät. Im nächsten Jahr wolle sie heiraten. Kein Zweifel, Carl war stolz auf seine Schwester. Er sei der Jüngste, für ihn sei noch Zeit, das sage seine Mutter. Carl schnalzte entschuldigend mit der Zunge, obwohl seine Augen blitzten und das Bedauern alles andere als ernst erscheinen ließen. Ein Spatz setzte sich zu ihnen auf den Tisch, er hüpfte vor und zurück und pickte die Krumen, die er von Vorgängern auf dem Tisch fand.
Der Ausblick in Carls friedliche Welt am Wannsee erweckte in Helene eine unbestimmte Beklommenheit. Was hatte sie dem entgegenzusetzen, was dem hinzuzufügen? In ihrer Himbeerbrause schwamm eine Wespe, sie rang um ihr Leben.
Carl bemerkte wohl, wie Helene ihm gegenüber am Tisch verstummt war. Er sagte zu ihr: Ihre Augen sind blauer als der Himmel. Und als er ihr Lächeln entdeckte, das wie in den Zwingen eines Schraubstocks klemmte, dachte er vielleicht, sie schämt sich doch, sie hat ihren Gott nicht vergessen. Kein Wunder, wenn ich nach ihrer Hand greife. Wohl, um sie aus der Schwere zu erobern, sagte er: Meine Liebe, hat Ihre Welt nun einen ungeheuren Riss?
Helene sah den Schalk in seinen Augen, sie entdeckte etwas an ihm wieder, so als kennte sie ihn nun schon ein wenig — und allein das tröstete sie. Jetzt konnte er nicht aufhören, in seinem Erinnerungsschatz zu wühlen: Um es nicht allein an Lenz festzumachen, möchte ich Ihnen raten, lassen Sie nur die abstrakten Worte in Ihrem Mund zerfallen wie modrige Pilze. Selbst Hofmannsthal hat sich von seiner Langeweile erholt. Und ist es etwas anderes als Langeweile, wenn sich das Nichts vor uns ausdehnt und uns mit Unbehagen füllt?
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