Solcherlei erschien Helene und Martha wie ein Strecken ihrer anmutigen Seelen in den Berliner Himmel, und nichts hofften sie inniger, als mit diesen Zeilen mitten ins Herz der Tante zu gelangen. Bildung heißt, sich mit jedem Menschen auf den Ton setzen zu können, dessen Zusammenklang mit dem eigenen Wohllaut gibt, nicht wahr, verehrte Tante Fanny? Sie sind uns da ein heiliges Vorbild.
Helene und Martha bemühten sich, Zeile um Zeile der Tante frohgemute Eigenständigkeit und zugleich Dankbarkeit zu beweisen. Eine Freude! Diese Behauptung erschien Helene zu schön, um nicht aufgeschrieben zu werden. Martha dagegen empfand einen solchen Ausdruck als Lüge und Demütigung im Verhältnis zur Erschöpfung, die sie in Gedanken an ihr Leben in Bautzen befiel. Der schmale Grat zwischen Stolz und Bescheidenheit im Tone erschien ihnen als wahre Herausforderung des Briefes. Immer wieder wurden Sätze gestrichen und neue formuliert.
Heiliges Vorbild, zweifelte Martha, das könnte sie falsch verstehen.
Warum falsch?
Weil sie vielleicht glaubt, wir wollen uns belustigen. Womöglich empfindet sie sich alles andere als heilig und möchte gar kein heiliges Vorbild sein.
Nicht? Helene sah Martha forschend an. Dann wird sie wenigstens lachen können. Wir sollten den Satz unbedingt schreiben, anders lernen wir sie doch gar nicht kennen.
Martha schüttelte nachdenklich den Kopf.
Nach Stunden erst konnten sie sich an die saubere Abschrift machen, die Helene ausführen musste, da Marthas Schrift in jüngster Zeit häufig wackelig und krumm erschien. Etwas sei an ihrem Auge, behauptete Martha, aber Helene glaubte ihr nicht. Sie schrieb den Satz mit dem heiligen Vorbild und im letzten Satz schließlich fragte sie die Tante höflich, ob sie sie einmal in Bautzen besuchen wolle.
Als nach Tagen und einer Woche und zweien keine Antwort kam, wurde Helene unruhig.
Marthas Augen waren ganz sicher nicht erkrankt. Gingen sie spazieren, und zeigte Helene auf einen weit entfernten Hund, einen sandfarbenen, der dem alten Hund des Vaters ähnlich sah, jenem, der seit dem Tag verschwunden war, an dem der Vater hatte in den Krieg ziehen müssen, oder wies sie auf eine winzige Blume am Wegesrand, hatte Martha keine Mühe, das eine und andere scharf zu erkennen. Helene vermutete, dass die nur an manchen Tagen unsaubere Schrift wie auch ihre plötzliche Zerstreutheit in manchen Stunden in einem gewissen Zusammenhang mit der Spritze stand, die in den vergangenen Monaten manchmal auf dem Waschbeckenrand lag, wo sie offenbar von Martha nachlässig liegen gelassen worden war. Sooft Helene im Krankenhaus jetzt mit Spritzen hantierte, der Anblick einer solchen auf ihrem heimischen Waschbecken schnürte ihr die Kehle zu. Alles in Helene krampfte sich zusammen, wenn sie die Spritze sah und nicht sehen wollte. Die ersten Male erschrak Helene so und schämte sich für Martha, dass sie die Spritze verschwinden lassen wollte, ehe das Mariechen sie entdeckte oder etwa Martha selbst ihre Nachlässigkeit bemerken musste. Doch ein Verschwinden musste erst recht bemerkt werden und ein Schweigen unmöglich machen.
Mit der Zeit gewöhnte sich Helene an den Gedanken, dass Martha eine Gewohnheit, einen alltäglichen Umgang mit der Spritze pflegte. Helene sprach Martha nicht darauf an. Auch hätte sie kaum aufrecht die Frage stellen können, wo sie doch wusste, dass Martha seit dem Sterben des Vaters und Leontines Verlassen hin und wieder geringe Mengen spritzte, Morphium vermutlich, vielleicht Kokain.
Es waren in der Zeit seit Vaters Tod vor allem die Briefe von Tante Fanny, die Helene auf ein noch fremdes Leben jenseits der Bautzener Stadtgrenzen hoffen machten. Allein die Ansichten, die Helene von Berlin kannte, ließen sie von den vielen Gesichtern der Stadt schwärmen. War Berlin mit seinen elegant gekleideten Frauen nicht das Paris des Ostens, das London des Kontinents mit seinen nie endenden Nächten?
Doch Tante Fanny schwieg den ganzen Oktober zu jenem ausführlichsten und prächtigsten Brief, den ihr Martha und Helene je zugedacht hatten. Anfang November ertrug Helene das Warten nicht länger und schrieb erneut. Sie hoffe, der Tante sei nichts zugestoßen? Immerhin, hier in Bautzen sei man ihr wirklich mehr als dankbar für die Vermittlungen zu den Verwandten des Erblassers nach Breslau. Ob der letzte Brief angekommen sei? In Bautzen ginge das Leben so seinen Lauf. Helene habe nach den Prüfungen, das Wort glänzend strich Helene wieder, im September ihre Arbeit in der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses aufgenommen. Seither verdiene sie etwas mehr, freue sich aber besonders über die Arbeit, die ihr zugeteilt werde. Martha nahm Helene die Feder aus der Hand und ergänzte mit ihrer krakeligen Schrift, dort erobere sich Helene den Platz der vor zwei Jahren nach Berlin verzogenen Schwester Leontine, einer Freundin. Aufgrund ihres außerordentlichen Talents wünsche sich der Professor nun immer häufiger Helene an seine Seite, wenn er bei schwierigen Operationen eine Unterstützung mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit und sicheren Händen brauche. Helene wollte Marthas Sätze streichen, etwas daran schien ihr prahlerisch und unbotmäßig. Aber Martha sagte, Helenes größter Fehler könne werden, ihre Fähigkeiten zu verheimlichen und schließlich als armes Hascherl bettelnd in den Armen eines Mannes zu enden. Martha hielt Helene die Feder entgegen.
Das glaubst du nicht wirklich? Es wäre Helene lieb gewesen, wenn Martha sie nicht immer wieder auf ihre Weise herausforderte. Helene nahm die Feder und schrieb weiter.
Die Pflege der Mutter sei nunmehr dank der Hinterlassenschaften des Onkels gesichert. Tante Fanny wäre herzlich eingeladen und zu jeder Zeit der willkommenste Gast. Mit besten Grüßen und in der Hoffnung auf ein baldiges Lebenszeichen.
Helene überlegte, ob sie sich für die ausschweifenden Beschreibungen ihrer Wirtschaftsverrichtungen im vorangegangenen Brief entschuldigen sollte. Schließlich mochte die Tante von derlei gelangweilt und abgestoßen sein. Dass sie das heilige Vorbild für eine Beleidigung halten konnte, wollte sich Helene nicht vorstellen. Womöglich empfand sie es als Zumutung, von den beiden protestantischen Nichten aus dem Lausitzer Kaff zum Vorbild erkoren worden zu sein?
Es vergingen Wochen. Erst kurz vor Weihnachten traf der langersehnte Brief ein. Er war umfangreicher und erschien flüchtiger geschrieben als die vorigen, die ineinanderliegenden Buchstaben waren kaum entzifferbar. Sie habe jede Menge mit den Erledigungen für die Festlichkeiten zu schaffen, die Kinder ihres Vetters freuten sich auf Chanukka und sie wolle ihnen kleine Geschenke kaufen, selbst ihr Geliebter rechne zu Weihnachten mit einer Aufmerksamkeit. Der werde schon sehen. Sie erwarte zu Chanukka Besuch von den Vettern aus Wien und Antwerpen mit der ganzen Mischpoke. Gerade heute habe sie alle Hände voll zu tun, weil sie mit ihrer neuen Köchin die Speisefolge für die Festtage besprechen wolle. Die Köchin sei noch ganz grün hinter den Ohren, jung und unerfahren, so dass sie ihr immer wieder beim Zubereiten der Speisen helfen müsse. Das gefalle ihr gut, schließlich koche sie selbst gern und habe es nicht gemocht, mit wieviel Mehl ihre alte, endlich in Pension entlassene Köchin, jede Soße zu einem festen Brei geraten ließ. Je älter die Köchin geworden sei, desto dicker wären ihre Soßen geraten, auch mehrten sich die Mehlklümpchen, die sie entweder mit ihren trüben Augen nicht mehr hatte erkennen können oder die sie vielleicht gar absichtlich in den Soßen hatte ent stehen lassen. Aus Überdruss an der Arbeit? Womöglich im Ärger über ihren Mann, der sie bis an sein Lebensende allein hatte arbeiten lassen und den schlaffen Ärmel als Vorwand dafür genutzt hatte, ihre Tüchtigkeit auszubeuten. Sie habe die alte Köchin im Verdacht gehabt, Milch oder Sahne in die Töpfe zu schütten, obwohl sie ihr mehrfach geboten hatte, solcherlei zu unterlassen. Bestimmt wolle sie nicht heucheln und behaupten, nach alten Speisevorschriften zu leben. Nein, sie möge derlei milchige Manschereien nicht. Mehr noch als die Klümpchen hätten sie zuletzt die täglichen Schimpfereien über den faulen Mann zu Hause gestört. Und das wolle was heißen, wo doch die Soßen kaum noch Soßen zu nennen waren! Dass schließlich die Frikasseestücke aufrecht im Mehlbrei gestanden hätten, dabei sei nicht die Spur mehr von Lorbeer und Zitrone zu schmecken gewesen. Fleischpudding, einfach scheußlich!
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