Wilbur ging die Straße hinunter und setzte sich in eine Bar. Dass er vergessen hatte, die Verkleidung abzulegen, merkte er erst, als der Barkeeper meinte, das sei ein ziemlich kläglicher Versuch, älter auszusehen. Wilbur nahm den Schnurrbart und die Brille ab, zeigte seinen Führerschein und bestellte etwas zu trinken.
Aus einem Cocktail wurden zwei. Den dritten brauchte Wilbur, um im Kopf die Strecke über die Straße zu bewältigen, den vierten, als er sich ausmalte, wie es sein würde, Alice und seinem Vater gegenüberzutreten. Nach dem fünften war er so betrunken, dass er sich auf dem Weg zur Toilette übergab, neben einer künstlichen Palme auf den Teppichboden sank und in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf fiel.
Der Boden und die Wände des Raumes, in dem Wilbur zu sich kam, waren weiß gefliest. Er lag auf einer Schicht flachgetretener Pappkisten, sein Kopf ruhte auf einem Knäuel aus feuchten Geschirrtüchern. Wie eine Decke lag der Regenmantel über ihm. Ein Mann in weiten grauen Hosen und einem schwarzen T-Shirt hockte vor einer Spülmaschine und räumte Gläser in die Gitterkörbe. Er hatte die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, seine Arme waren mit einem blauschwarzen Geflecht aus Tätowierungen bedeckt. Wilbur setzte sich auf. Ihm war übel, und das Neonlicht tat seinen Augen weh. An der Wand über ihm hing ein Kalender, auf dem eine bis auf einen gelben Helm und Handschuhe nackte, schwitzende Frau so tat, als bediene sie einen Presslufthammer. Es roch nach Reinigungsmittel und Zigarettenrauch. Zwischen einem rot gestrichenen Schrank und einem Kochherd stand ein Barhocker, auf dem sich leere Getränkekisten stapelten. Schichten bekritzelter Zettel klebten an der Tür eines silberfarbenen Kühlschranks.
Als Wilbur sich hochrappelte, drehte sich der Mann um. Er grinste und entblößte dabei einen goldenen Schneidezahn.»Na, ausgeschlafen?«fragte er, schloss die Klappe der Spülmaschine mit dem Knie und drückte einen Knopf.
Wilbur blinzelte in die Helligkeit, sein Mund war ausgetrocknet. Er schüttelte den Kopf, als der Mann ihm eine Zigarette anbot.»Wo bin ich?«
Der Mann lachte.»Fünf Meter von der Stelle entfernt, an der du weggetreten bist. «Er zündete sich eine Zigarette an, sog den Rauch in die Lungen und breitete die Arme aus.»Willkommen in meinem Reich, der Grabkammer meiner gescheiterten Träume!«Er klemmte die Zigarette zwischen die Zähne und streckte Wilbur die Hand hin.»Roscoe Murphy.«
Wilbur betrachtete die Hand, an der Ringe blitzten, dann ergriff er sie.»Elwood«, sagte er,»Elwood Mazursky. «Er zog den Mantel an, in dessen Taschen die falsche Brille und die Wollmütze steckten.
Roscoe Murphy hob eine Augenbraue, grinste dann erneut breit und drückte Wilburs Hand eine Spur zu fest, bevor er sie losließ.»Also dann, Elwood, wie fühlst du dich?«Er lehnte sich gegen den Tisch, der in der Mitte des Raumes stand und mit Zeitungen, Putzlappen, leeren Zigarettenpackungen, Kaffeetassen und verschrumpelten Äpfeln übersät war.
«Besser«, sagte Wilbur, obwohl ihm hundeelend war.»Danke«, fügte er hinzu.
«Mein Boss wollte dich in den Rinnstein schmeißen. Ich hab ihm gesagt, das kann er nicht machen, nicht bei dem Wetter. «Murphy öffnete eine zweite Spülmaschine, der eine Dampfschwade entwich, die sich mit dem Zigarettenrauch vermengte.»Lassen Sie den Jungen seinen Rausch bei mir drinnen ausschlafen, hab ich ihm gesagt. Ich übernehme die Verantwortung. «Er hob Körbe mit sauberen Gläsern aus der Maschine und stellte sie auf eine mit Tüchern ausgelegte Arbeitsfläche vor sich.
«Danke«, sagte Wilbur noch einmal.
«Schon in Ordnung. War auch mal jung. «Murphy räumte die Körbe mit den Gläsern in einen Warenlift und drückte auf einen Knopf. Ein Klingelgeräusch ertönte aus dem Schacht, dann fuhr der Lift nach oben.
«Also dann«, sagte Wilbur möglichst munter, knöpfte den Mantel zu und klappte den Kragen hoch.»Ich muss los. «Er hielt Murphy die Hand hin.»Nochmals vielen Dank.«
«Wo willst du denn hin um die Zeit?«fragte Murphy, ohne Wilburs Hand zu ergreifen.
Erst jetzt wurde Wilbur bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wie lange er weggetreten war.»Wie spät ist es denn?«fragte er.
Murphy holte ein Handy aus der Hosentasche und hielt Wilbur das eisblau leuchtende Display hin. Es zeigte kurz vor drei. Ernüchtert gab Wilbur die Idee auf, bei Verna Kerkowski zu klingeln.
«Wo wohnst du?«fragte Murphy.
«Brooklyn.«
«In einer Stunde hab ich Feierabend. Ich fahr dich nach Hause.«»Danke, das ist nicht nötig.«
«Kein Problem. Spielst du Schach?«
Wilbur schüttelte den Kopf. Ein leichter Schwindel befiel ihn, und er legte die Hand auf die Tischkante.
«Dame?«
«Nein.«
«Karten. Was ist mit Karten?«
Wilbur erinnerte sich an die Abende mit Colm.»Rommé«, sagte er.
«Auch gut. Ich sag dir was, wir spielen ein paar Runden, dann fahr ich dich nach Brooklyn. «Murphy ging zum Schrank, öffnete eine Schublade und wühlte darin herum.
«Lieber nicht«, sagte Wilbur.»Ich kann mir ein Taxi nehmen.«
«Nein, kannst du nicht«, sagte Murphy, ohne ihn anzusehen.»Du hast kein Geld für ein Taxi nach Brooklyn. «Er drehte sich um, präsentierte ein Set Karten und grinste.»Mein Boss hat dir das Geld für die Drinks aus der Brieftasche genommen. Du hast noch etwa fünf Dollar. «Er schob die Sachen auf dem Tisch zur Seite, setzte sich hin und mischte die Karten.
Wilbur tastete nach seiner Brieftasche und stellte fest, dass sie noch da war.»Ich kann zu Fuß gehen. Wird meinem Kopf guttun. «Er lächelte, hob die Hand.
Murphy mischte weiter die Karten.»Weißt du, wie langweilig es hier unten werden kann? Wie lange eine Zehnstundenschicht dauert? Wie sehr man sich irgendwann nach menschlicher Gesellschaft sehnt?«
Wilbur zuckte mit den Schultern. Er wollte gehen, aber sein schlechtes Gewissen Murphy gegenüber hielt ihn davon ab. Außerdem fühlte er sich wacklig auf den Beinen. Das Summen in seinem Kopf war einem Druck gewichen, als würde sich das Hirn mit flüssigem Blei vollsaugen.
«Weißt du, wer deine Kotze aufgewischt hat?«Murphy verteilte die Karten.
Wilbur zog den Mantel aus und setzte sich auf den zweiten Stuhl. Murphy verteilte die Karten.
Es war halb fünf, als Wilbur hinter Murphy zu dessen Mazda ging, der auf dem Hinterhof der Bar stand und zwischen den Pfützen und dem Abfall aussah wie ein Wagen auf dem Schrottplatz. Murphy öffnete die Beifahrertür und warf Wilbur die Schlüssel zu.»Du fährst.«
Wilbur fischte den Schlüsselbund aus einer Pfütze und schüttelte ihn.»Ich kann nicht fahren.«
«Ich auch nicht. «Murphy setzte sich ins Auto. Er hatte während des Kartenspiels zwei Joints geraucht und immer glasigere Augen bekommen. Wilbur hatte ihn gewinnen lassen und Kaffee getrunken, während Murphy seinen Durst mit Bier löschte, das ihm von einem Freund aus der Oberwelt mit dem Lift heruntergeschickt worden war. Jetzt saß er da und klebte im Schoß weitere Zigarettenpapierchen zusammen, beschienen vom gelben Licht der Innenbeleuchtung.
«Ich kann nicht Auto fahren«, sagte Wilbur. Er sah in eine Pfütze, in der neben seinem Kopf der Mond schwamm.
«Blödsinn. «Murphy kramte etwas aus der Jackentasche und hielt es gegen die Scheibe.
Wilbur ging näher heran und erkannte seinen Führerschein.
«Nun steig schon ein.«
Wilbur öffnete die Fahrertür.»Kann ich den bitte zurückhaben?«
«Erst fährst du los. «Murphy zerbröselte den Tabak einer Zigarette auf das kunstvolle Gebilde aus diagonal versetzt geklebten Papierchen.
Wilbur ließ sich in den Fahrersitz fallen, atmete einmal tief ein und aus.»Ich weiß nicht mehr, wie das geht«, sagte er.
«Zündschlüssel drehen, Fuß aufs Bremspedal, Gang rein, Fuß aufs Gaspedal, lenken.«
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