Vorne war die Frau in den weißen Leggins auf die Knie gesunken und warf flehend die Arme hoch. Sie weinte, ihr dicker Leib wogte im Rausch ihrer Gläubigkeit, der Trance ihrer Hingabe. Niemand tröstete sie, weil sie keinen Trost brauchte in ihrem Traum von Erlösung. Sie schien zu schweben, ein Speichelfaden war das einzige, das sie mit der Welt verband. Wilbur betrachtete sie mit einem Gefühl aus Abneigung, Mitleid und Neid.
Als der Prediger abermals hinter die Kanzel trat, nahm Wilbur es mit der Gelassenheit eines entkräfteten Wanderers hin, der delirierend im Treibsand versinkt. Sein Körper sirrte, ein Bündel aus feinen Drähten, aufgeladen mit der elektrisch verstärkten Frömmigkeit der anderen. Er saß da und nahm mit nüchterner Geduld das Scheitern seiner Flucht durch Meditation hin und ertrug die Grimassen der Kinder im Rücken der grünen Frau. Er wehrte sich nicht mehr. Er war ein rohes, nach außen gestülptes Innenohr. Sein Kopf, tonnenschwer, schwebte im Raum, stieg über den erhitzten Lautsprechern empor, drehte eine Runde über dem Wald des Chors und senkte sich auf die Tasten des Synthesizers, rollte von Schwarz zu Weiß. Bei den ersten Klängen eines neuen Liedes sprang Wilbur auf und gab sich torkelnd dem Ereignis hin, illusionslos auf religiöse Erleuchtung, zumindest rettende Ohnmacht hoffend.
Warum konnte der Geist, der offenkundig in diesem ehemaligen Schuh- oder Eisenwarenladen, dieser umfunktionierten Imbissbude, diesem zur Kirche gewordenen Gemüseladen wohnte, nicht auf ihn überspringen? Was unterschied Wilbur Sandberg, abgesehen von äußeren Merkmalen, von den Menschen um ihn herum, die mit aufgewühltem Herzen die Welt umarmten und von ihr umarmt wurden? Was musste er tun, um von diesem Taumel hinweggeschwemmt zu werden? Welche inneren Schranken galt es niederzureißen, welche verborgenen Türen aufzustoßen, um Elwoods Grad der Ekstase zu erreichen? Wenn es Gott gab, warum legte er in Wilburs argwöhnischem Hirn keinen Schalter um und okkupierte seine Seele?
Wilbur zitterte, legte die gefalteten Hände auf die Vorderlehne, wo sie nicht von Kinderköpfen besetzt war, und imitierte ein Gebet. Jetzt brach die Musik tosend über ihn herein. Er schnappte nach Luft. Seine Handflächen brannten. Die Worte des Predigers trafen ihn wie glühende Schneebälle. Wilburs Uhr zeigte die Zeit einer anderen Welt, eines fernen, verlorenen Planeten. Er trieb im Ozean der Wahrheit und des Leidens, ein winziger Fisch, vom Schwarm getrennt. Ihr Ende war so brutal wie die Musik selbst, ihr Verklingen ein Orkan. Irgendwann wurde Wilburs Hand geschüttelt, Frauen umarmten ihn. Die Dame in Grün presste ihm ein Zeichen aus Schweiß auf die Brust. Der Prediger hieß ihn in der Gemeinde willkommen, sprach ihn selig. Eine Tür wurde geöffnet, Luft strömte herein. In der Stille des Nachmittags fiel Wilbur auf die Knie, seine Hände berührten den Asphalt, als wolle er ihn küssen. Die Helligkeit und Kälte ließen ihn weinen. Leroy brachte ihm Wasser, eine Frau bettete seinen Kopf in ihren Schoß. Wilbur sah das Licht und schloss die Augen.
Als Wilbur aufwachte, war es zehn Uhr montagmorgens. Er lag angezogen in seinem Bett im Hotel und wusste, dass er seinen Job verloren hatte. Ein feuchter Waschlappen klebte am Kopfkissen. Seine Ohren fühlten sich an, als steckten Finger darin. Er bewegte die Hände, hob sie vor das Gesicht, zählte. Das Aufstehen fiel ihm schwer, er hörte seine Gelenke knirschen. Im Badezimmerspiegel suchte er sein Gesicht nach Veränderungen ab, dann duschte er, bis das heiße Wasser aufgebraucht war und das kalte seinen Schädel versengte. Er zog frische Kleidung an, stopfte die schmutzige in einen Beutel und ging hinunter.
Elwood saß in der Lobby, ein Sonntagsschmetterling, der sich in eine graue, faltige Alltagsraupe zurückverwandelt hatte. Er grüßte Wilbur, fragte nach dem Befinden. Wilbur, der Elwoods Stimme durch das Summen in seinem Kopf nur als Wispern wahrnahm, hob die Hand und verließ unter den missbilligenden, spöttischen und besorgten Blicken der alten Männer das Hotel.
Nachdem er die Wäsche in die Hände einer mürrischen Chinesin gelegt hatte, fuhr er mit dem Bus zum Büro seines ehemaligen Arbeitgebers, ließ sich seine fristlose Entlassung bestätigen und einen Scheck für die vergangene Woche überreichen. Danach setzte er sich in ein Lokal, trank Kaffee und überflog die Stellenanzeigen mehrerer Zeitungen. Wie ihm ein falsch geschriebenes Wort auf einer Buchseite oder der Schatten eines Mikrofons in einer Filmszene nicht entging, so übersah er auch nicht seinen Namen, der, eingerahmt von winzigen schwarzen Herzen, in der Spalte Glückwünsche und Liebesgrüße verborgen lag.»Lieber Wilbur«, las er,»wir würden gerne Deinen 20. Geburtstag mit Dir feiern. Es gibt nichts, was Dir leid tun muss. Alice und Lennard.«
Die ganze nächste Woche verbrachte Wilbur damit, dem Drang, sich zu betrinken, nicht nachzugeben. Er kaufte bei Freeman Antiquitäten ein Buch, las es, verkaufte es Winston für die Hälfte zurück und erwarb aus den unerschöpflichen Beständen ein anderes. Irgendwann fand Winston diesen Kreislauf zu albern und lieh Wilbur die Bücher für fünfzig Cent pro Stück aus. Wilbur fuhr lesend mit der Bahn bis nach Waterbury und Wassaic und Poughkeepsie, nach Port Jervis und Montauk und Greenport, stieg irgendwo aus, ging ein paar Stunden ziellos umher, las auf einer Gartenbank oder in einem Ausflugslokal weiter und fuhr am Abend zurück nach Brooklyn. Einmal verschlug es ihn nicht ganz zufällig nach Long Island, wo er über den Strand zum Haus ging und den Kindern der neuen Besitzer beim Spielen im Garten zusah. In einem Scherzartikelgeschäft kaufte er eine Brille mit Fensterglas und einen Schnurrbart und Koteletten zum Ankleben.
Am nächsten Tag ging er zum Reformkostladen und beobachtete eine Weile, was für ein wundervolles Verkäufergespann Ernest Shelby und Jenna Hoffman abgaben. Dann stellte er sich in den Hauseingang gegenüber von Alices Geschäft, das sich Alice In Woolland nannte, aber bis zum Abend bediente nur Rebecca Shelby die Kundinnen, ohne dass Alice auftauchte.
Als er beim Mietshaus in der Bronx ankam, war es dunkel. Er zählte die Stockwerke und sah zu den erleuchteten Fenstern hoch. Er fühlte sich lächerlich und schäbig in seiner Verkleidung. Die Haut über seiner Lippe juckte von dem Klebstoff, und die Bügel der schweren Brille verursachten wunde Stellen hinter den Ohren. Er hatte die Strickmütze tief in die Stirn gezogen und trug einen braunen Regenmantel, eine Leihgabe aus der Kleiderabteilung von Freeman Antiquitäten . Die Koteletten hatte er unter den irritierten Blicken der übrigen U-Bahn-Passagiere abgenommen und kratzte sich jetzt mit dem Fingernagel kleine Fetzen von der Wange wie nach einem Sonnenbrand. Ein kühler Wind bewegte die Flag ge an der Fassade, schnell ziehende Wolken spiegelten sich in einer alten Pfütze. Wilbur fröstelte und war hungrig. Er wartete, ohne genau zu wissen, worauf, sah dem wechselnden Muster der an- und ausgehenden Lichter in den Wohnungen zu, den Leuten, die das Haus betraten und ver ließen, und dem uniformierten Portier, der einem alten Paar die Tür aufhielt. Autos fuhren vorbei, ein Junge mit einem Modellflugzeug rannte über die Straße. Von einer Sekunde auf die andere fiel ein feiner Regen.
Wilbur schlug gerade den Mantelkragen hoch und wollte gehen, da entdeckte er Alice auf der anderen Straßenseite. Sie schob einen Rollstuhl, in dem Lennard saß, daneben ging Nathalie, einen aufgespannten schwarzen Schirm über die beiden haltend. Um Lennards Hals war ein roter Schal gewickelt, über seine Knie eine Wolldecke gebreitet, auf der seine weißen Hände lagen. Alice sah in Wilburs Richtung, wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Wilbur trat einen Schritt zurück, sein Herz raste. Er verscheuchte einen Hund, der an seinen Schuhen schnüffelte. Das Summen in seinem Kopf vermischte sich mit dem leisen Rauschen des Regens und dem Sirren der Reifen auf dem nassen Asphalt. Er wollte rufen und brachte nur ein Flüstern hervor, während die drei im Haus verschwanden. Als er über die Straße rannte, hupten Autos, ein Fahrradkurier beschimpfte ihn. Vor der großen Tür blieb Wilbur stehen. Er nahm die Anzeige hervor, die er aus der Zeitung gerissen hatte, und las sie, merkte, dass seine Hände zitterten. Es gibt nichts, was Dir leid tun muss.
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