Diese Absagen und die Tatsache, dass er kein zweites Buch würde schreiben können, waren der Grund, weshalb Wilbur der Aufenthalt im Heizungsraum und der Anblick der Schreibmaschine unerträglich wurden. Er brachte die Schreibmaschine zurück in den Trödelladen und tauschte sie gegen eine Wollmütze, ein Paar Lederhandschuhe und einen Stapel Taschenbücher.
Am ersten Sonntag im März wachte Wilbur ungewöhnlich früh auf. Es war kalt im Zimmer, aber durch die Vorhänge drang Sonnenlicht, in dem ein Universum aus Staubpartikeln glitzerte, sachte bewegt vom Luftzug, der durch das undichte Fenster wehte. Wilbur zog sich an, ging ins Bad und dann hinunter in die Lobby, wo auf einem der Sofas Elwood in seinem besten Anzug saß.
«Guten Morgen!«rief Elwood. Rasiert, gekämmt und im Sonntagsstaat erinnerte er kaum noch an den schlampigen alten Kerl, der tagelang im selben schmuddeligen Trainingsanzug und Badelatschen herumgammelte.
«Morgen«, sagte Wilbur. Er sah sich um, aber außer Elwood war niemand da. Dann erinnerte er sich daran, dass Leonidas am Samstag nur bis Mitternacht arbeitete und Randolph heute erst um zehn auftauchen würde.
«Aus dem Bett gefallen?«fragte Elwood so ernst, dass die scherzhafte Frage besorgt klang.
Wilbur lachte höflich. Das war tatsächlich das erste Mal, dass er um diese Zeit schon wach war. Üblicherweise schlief er am Wochenende bis zehn oder elf. Weil Madame Robespierre sonntags nicht arbeitete, frühstückte er in der Nähe des Hotels und brach dann zu einer langen Wanderung durch die Quartiere auf, eine Gewohnheit, die er nach Beendigung des Buches wieder aufgenommen hatte.
«Ich geh spazieren«, sagte er, setzte die Mütze auf und nahm die Handschuhe aus den Taschen der Daunenjacke.
«Was?«Elwood reckte den Hals, legte eine gekrümmte Hand ans Ohr und zog eine Grimasse, ein Denkmal der Schwerhörigkeit.
«Spazieren«, sagte Wilbur lauter, machte ein paar Schritte auf der Stelle und schlenkerte mit den Armen.
«Ein prächtiger Tag dafür«, sagte Elwood und nickte eifrig. Er roch nach Rasierwasser und Seife, seine Schuhe waren poliert, und neben ihm lag ein schwarzer Filzhut, der heute die Baseballkappe der Dodgers ersetzte.
«Und Sie?«fragte Wilbur, halb aus Höflichkeit, halb aus Neugier.»Warum so früh auf?«Er war näher an Elwood herangetreten und sprach laut und deutlich.
«Oh, ich werde abgeholt«, sagte Elwood.
Wie zur Bestätigung klopfte jemand von draußen an die Scheibe. Elwood stemmte sich aus dem Sofa, setzte den Hut auf und ging durch die von Wilbur offen gehaltene Lücke im schweren Vorhang, der die kalte Luft von der Lobby fernhielt. Wilbur machte die Tür auf, die ohne Schlüssel nur von innen zu öffnen war, und trat hinter Elwood ins Freie. Als Elwood auf dem Treppenabsatz stolperte, hielt Wilbur ihn am Arm fest.
«Hoppla. Geht’s?«
«Ja«, sagte Elwood beschämt über seine Gebrechlichkeit.»Danke.«
Der Mann, der ans Fenster geklopft hatte, kam auf sie zu. Er war klein und schmal, und seine krausen Haare schimmerten im Morgenlicht wie Stahlwolle. Wilbur vermutete, dass er in seinem dünnen schwarzen Anzug fror.
«Sie schickt der Himmel!«rief der Mann an Wilbur gewandt.»Guten Morgen, Elwood.«
«Morgen, Leroy«, sagte Elwood, der sich bei Wilbur untergehakt hatte und mit vorsichtigen Schritten auf einen vor dem Hotel geparkten weißen Kleinbus zuging. Leroy schob die Tür auf und half Elwood in den Wagen, in dem schon mehrere alte Frauen und Männer saßen. Ein Kanon aus Begrüßungen wurde angestimmt.
«Mein Name ist Leroy Perkins«, sagte Leroy und streckte Wilbur die Hand entgegen.
«Wilbur«, sagte Wilbur und ließ sich die Hand schütteln.»Sandberg.«
«Sie sind ein Freund von Elwood?«
«Nun ja, ich kenne ihn erst seit… ich weiß nicht… noch nicht sehr lange.«
Leroy strahlte, als sei das eine wundervolle Nachricht.»Es ist schön, wenn die Jungen sich um ihre älteren Mitmenschen kümmern«, sagte er und deutete dann auf den Kleinbus.»Sie müssen sich leider hinten reinquetschen. Donna hat ein schlimmes Bein.«
Auf dem Beifahrersitz saß angeschnallt eine runzlige, herausgeputzte Frau von mindestens achtzig Jahren und blickte konzentriert nach vorne, als würde das Auto fahren. Die Alten auf den Bänken im Fond rutschten enger zusammen. Ein Mann winkte Wilbur zu.
«Oh, ich glaube nicht, dass ich…«
«Ach was, das geht schon«, sagte Leroy und legte Wilbur die Hand auf den Arm.»Wir hatten mal ein Dutzend Leute da drin. «Er lachte.»Stimmt’s?«rief er. Aus dem Bus kam zustimmendes Gemurmel, dann, von ganz hinten, eine dünne Frauenstimme:»Es ist kalt. Warum ist die Tür offen?«
«Es geht gleich weiter, Rose«, sagte Leroy. Er schob Wilbur mit sanftem Druck in den Wagen, schloss die Schiebetür, setzte sich ans Steuer und fuhr los.
Wilbur saß in einer Duftwolke aus schwerem Parfüm, Rasierwasser, Schuhcreme und Mottenkugeln, beantwortete tausend Fragen und sah, wie sie über die Queensboro Bridge nach Manhattan fuhren. Sie hatten unterwegs noch zweimal angehalten. Einmal, um einen alten, gelähmten Mann aus seiner Wohnung im fünften Stock eines Mietshauses mit kaputtem Fahrstuhl zu tragen, und einmal, um in einem Gemeindesaal und der Gesellschaft von mindestens hundert Menschen ein Frühstück einzunehmen, das nicht zufällig mit so exotischen Speisen wie Stockfisch und Bananenbrot aufgewartet hatte, sondern weil Madame Robespierre eine der Köchinnen war. Mit ihrer Anwesenheit war Wilbur auch die Verbindung zwischen Elwood und der Sonntagsgesellschaft klargeworden, in deren Mitte er inzwischen freiwillig und immer entspannter durch die Gegend fuhr. Als die Hotelköchin ihn entdeckt hatte, was nicht lange dauerte, da Wilbur der einzige Weiße in dem mit Kreppblumen geschmückten Raum war, hatte sie ihn, perlende Melodien der Überraschung und Freude singend, umarmt wie einen verschollenen Verwandten.
«Mein Sohn hat mich gestern in der Badewanne vergessen«, sagte der Mann zu Wilburs Linken und grinste, als betrachtete er den Vorfall als gelungenen Streich.»Eine ganze Stunde. «Er hatte schlohweißes Haar und trug eine Sonnenbrille. Sein Mantel war ihm zu groß, die Hände verschwanden in den dunklen Höhlen der Ärmel.
Wilbur stellte sich die Situation schrecklich vor.»Wie unangenehm.«
«Oh, überhaupt nicht«, sagte der alte Mann fröhlich.»Ich habe immer wieder heißes Wasser nachgefüllt. «Jetzt strahlte er, noch immer stolz auf sein bestandenes Abenteuer.
«Da hatten Sie aber Glück«, sagte Wilbur, und sein Sitznachbar nickte. Wilbur überlegte, ob er ihm von seiner Angst vor Badewannen erzählen sollte, ließ es dann aber bleiben und sah aus dem Fenster. Sie bogen auf die Lexington Avenue ab und fuhren nördlich in Richtung Harlem. Beim Frühstück, das für Wilbur trotz des üppigen Angebots nur aus einem Pfannkuchen und einer Tasse Kaffee bestanden hatte, hatte Elwood ihm erzählt, dass sie auf dem Weg zu einem Gottesdienst seien. Wilbur hatte sich so etwas Ähnliches gedacht und verwarf den aufflammenden Gedanken an Flucht, als Leroy ihm ein Stück Schokoladenkuchen an den Tisch brachte und sich für seine Hilfe mit den alten Leuten bedankte.
Der Gottesdienst fand in einem Gebäude am Martin Luther King Boulevard statt, dessen Fassade mit keinem Wort oder Symbol auf einen religiösen Versammlungsort, geschweige denn eine Kirche hinwies. Am Eingang stand eine junge Frau und hieß die Besucher willkommen, plauschte mit einigen und ermahnte die Kinder gespielt streng, sich heute ausnahmsweise zu benehmen. Wilbur und Leroy trugen Carl, den gelähmten Mann, in den Saal und setzten ihn auf eine der Bänke. Als Leroy der Frau an der Tür seinen neuen Freund vorstellte, schien sie so erfreut über das Erscheinen des weißen, hilfsbereiten Jungen zu sein, dass Wilbur von einer Welle aus Verlegenheit und leiser Panik überschwemmt wurde. Er spürte, wie er rot anlief, und war froh, als Leroy meinte, sie sollten sich beeilen, bevor die Leute im Bus Dummheiten machten. Die Frau lachte und begrüßte zwei junge Männer mit Instrumentenkoffern. Wilbur half einer alten Frau, die sich ihm als Millie vorstellte und beteuerte, ihr besseres Kleid sei in der Reinigung, zu ihrem Platz.
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