Albert stand noch immer grinsend in der Tür, und Jim begriff, daß er niemals ohne Gegenleistung sagen würde, was er über Mae wußte. Wenn er etwas wußte. Er würde Jim nicht weglassen, würde ihn nicht in Ruhe lassen, nicht in London. Zu spät begriff Jim, daß hinter ihm jemand die Treppe heraufgekommen war.
Eine moderate Tracht Prügel, erklärte Albert und schickte die beiden anderen raus. Jim ließ die Augen geschlossen. Von nebenan hörte er Bens Stimme. Er bewegte die Beine und dachte, daß er wie ein Baby dalag, vorsichtig streckte er das rechte, dann das linke Bein. Anscheinend blutete er noch immer, es kitzelte am Kinn, am Hals. Der linke Arm schmerzte unerträglich, ausgekugelt, dachte er und schloß die Augen fester, wie ein Tier, dachte er und spürte, daß ihm die Tränen kamen. Mit einer jähen Bewegung gelang es ihm, die Schulter wieder einzukugeln, der Schmerz schoß ihm ins Gehirn, trennte ihn vom Körper ab. Die Beine lagen jetzt gerade, und als Albert sich näherte, wußte er, was gleich geschehen würde, Albert kam von vorne, traf die Kniescheibe des linken Beins; Jim schrie auf. Als er wieder zu sich kam, war es sehr still. Mühsam richtete er sich auf, verlor das Gleichgewicht, fand es wieder, stützte sich mit der rechten Hand ab, öffnete die Augen, sah Alberts erschrockenes Gesicht. Im Zimmer standen nur ein Tisch und ein paar Stühle. Das also war Alberts neues Büro, wie er geschrieben hatte, die Wände frisch gestrichen, das zweite Zimmer diente wohl als Lager, Autoradios, Mobiltelefone, Alarmanlagen, was Albert in Charing Cross verkaufte, gebraucht oder auch neu, alles ein paar Pfund auf dem Weg zu Alberts Traum von einem Restaurant in Kensington. — Was denkst du nur von mir? murmelte Albert in scheinbarer Betrübnis, streckte die Hand aus, um Jim aufzuhelfen. Du hast mich hereingelegt, weißt du ja.
Jedem sein kleiner Traum. Ein Restaurant in Kensington. Ein Haus mit einem Garten und einem Kirschbaum darinnen. Was es bei Ben war, wußte Jim nicht, er sah dessen breites Gesicht durch den Türspalt linsen, schüttelte sich. Scheiß der Hund drauf. Kein Haus, kein Kirschbaum. Mae war verschwunden, und sie würden ihn zwingen weiterzumachen. Es kam nicht einmal darauf an, ohne Mae. Er spürte brennende Scham. — Wir wollen dir wirklich nur helfen, Albert verzog das Gesicht zu einem bedauernden Grinsen, hielt ihm ein Foto von Mae hin, mit dem üblichen Text der Vermißten-Poster in den U-Bahn-Stationen. Es war nicht das erste Mal, daß Jim auf einem der Poster ein Gesicht erkannte, halbe Kinder meistens, die, so wie er, in der Liverpool Street Station oder King’s Cross St. Pancras aus dem Zug kletterten, gierig und dumm, bald hungrig, bereit, sich jedem an den Hals zu hängen, der ihnen ein paar Pfund und eine Fortsetzung ihres Traums von was auch immer versprach, bereit, im Dreck nach dem zu wühlen, was sie sich unter Leben vorstellten, dem wahren Leben, sogar mutig auf ihre Weise, auch wenn sie nicht wußten, wogegen sie aufbegehrten und wozu. Und dann kehrten sie, wie er und Albert, zu einem kleinen, unerreichbaren Traum zurück, einem Bild geruhsamen Friedens, das ihnen ihre überreizten Hirne vorgaukelten, eine kindische Oase, in der alle Hoffnung wohnte, und sie bildeten sich ein, entdeckt zu haben, was ihr Stolz war, ihr Ziel, ihre Sehnsucht. Wenn es zu spät war. Ein paar von ihnen hatte Jim zusammengeschlagen, in Alberts Auftrag oder weil sie ihn piesackten, und er hatte nie viel dabei empfunden, eine gewisse Beruhigung allenfalls. Ganz kurz Verzweiflung, etwas, das erst nur ein feiner Riß war und plötzlich schmerzte, wie ein Messer, das ein Stück aus dem eigenen Kopf herausschnitt, die Erinnerung herausschnitt. Er hatte sich vorgestellt, daß er Mae einmal davon erzählen könnte, wenn sie miteinander schliefen, wenn er in ihren Armen lag, bevor er einschlief. In dem Riß war immer auch ein Licht, etwas Gleißendes. Maes Foto in den U-Bahn-Stationen. Vermißt. Nachrichten erbeten unter, private Handy-Nummer, oder wie stellte Albert sich das vor? Jim starrte auf das Bild. Er hatte kein Foto von ihr. Bewegte den Arm vorsichtig, stöhnte auf. Er mußte sich konzentrieren. Sie war ganz nahe, nicht in Rufweite, aber so, daß er nur die Hand nach ihr ausstrecken mußte. Wenn er sich erinnern könnte. So heftig die Sehnsucht, daß er es kaum aushielt, als wäre etwas aus ihm herausgerissen. Albert grinste. Er ging ins Nebenzimmer und kam mit einem Briefchen zurück, bereitete drei lines vor. — Erinnerst du dich, Jim, wie du von einem Schlußstrich gequasselt hast? Daß du einen Strich unter alles ziehen wolltest, aufs Land ziehen? Jim schwieg, er beobachtete, wie Albert und Ben sich über die Tischplatte beugten, das Pulver in die Nase sogen, ihm aufmunternd zunickten. Im Hintergrund sah er schwach die Umrißlinien von Maes Nacken, ebenfalls vornübergebeugt. Er haßte es, wenn sie schnupfte oder Tabletten nahm, er haßte ihren Gesichtsausdruck und ihr albernes Gekicher, mit dem sie sich an ihn zu schmiegen versuchte, ihre Hand in seiner Hose. Sie hatten ihn damit aufgezogen, daß er sie verprügelt hatte. Hatten ihn Alices wegen aufgezogen. Er näherte sich ihnen, trat auf Ben zu. — Findest du nicht, daß du danke schön sagen solltest? fragte Ben. Albert griff ein: —Jetzt laß ihn sich doch endlich hinsetzen. Schob Jim einen Stuhl hin, verschwand, kam mit drei Bierdosen zurück. Irgend jemand mußte im hinteren Zimmer sein, hinter Jim die Treppe heraufgekommen, die Atemzüge, er hatte es sich nicht eingebildet, ein Schlag auf den Kopf, im Treppenhaus, während Albert ihn angrinste. Ihm war jetzt übel. Vor dreizehn Jahren war er das erste Mal von seinen Eltern weggelaufen, mit dreizehn Jahren, und dann, drei Jahre später hatte er es bis London geschafft, am 3. Juli, hatte den Tag jedes Jahr gefeiert, bis er Mae traf, seither den Tag, an dem er Mae zum ersten Mal gesehen hatte, im August, das Datum verriet er nicht einmal Mae, die sich nicht erinnerte. Er fühlte sich wie eine Attrappe, unbeweglich und hohl. Auf dem Fußboden, nacktem Estrich, trocknete sein Blut. Albert folgte seinem Blick, holte mit der Bierdose aus und kippte eine dünne Pfütze darüber aus. Sie würden es wegwaschen oder eintrocknen lassen, ihm war es gleich. — Du kannst nicht einfach aussteigen, das muß dir klar sein. Auf eigene Rechnung dein Ding drehen. Alberts Stimme klang jetzt sachlich. — Dafür helfen wir dir, nach Mae zu suchen, ohne daß die Polizei dir auf die Pelle rückt.
— Ich habe Mae nichts getan, Jim antwortete lahm, der Schmerz im linken Arm wurde wieder stärker. Albert machte eine beschwichtigende Handbewegung. — Für wie blöd hältst du uns eigentlich? Vergiß nicht, daß Ben sie gesehen hat.
Jim starrte Albert ratlos an.
— Und wie du Alice verprügelt hast, hast du das auch vergessen? Das war Ben, schnaufend, empört.
— Alice hat mir dreihundert Pfund gestohlen! Jim wurde rot. Er hatte sie liegenlassen, sie hatte in der Arlington Road ein Zimmer gehabt, ein Kellerzimmer, Albert hatte dafür gesorgt, daß sie keinen Ärger machte, und ihn gezwungen, mit Ben das Zimmer auszuräumen, hatte vermutet, ein paar Gramm Kokain wären dort versteckt. Vor fünf Jahren, vielleicht vor sechs. Und er erinnerte sich nicht. Wie sie sich auf ihn gestürzt hatte, als er ihr eine Ohrfeige geben wollte, und dann nichts. Er wollte aufspringen, sich auf Albert stürzen. Aber bis er aus dem Stuhl hochkam, war Ben schon bei ihm, die Tür ging auf, und ein dunkelhaariger arabisch aussehender Mann erschien, ein Messer in der Hand, das schmale Gesicht unbewegt. Jim versetzte Ben einen Hieb und setzte sich wieder. — Und jetzt habt ihr einen Mufti zur Verstärkung, oder wie? Er starrte den Mann an, sein regelmäßiges, hübsches Gesicht, die bräunliche Haut, das gekränkte oder amüsierte Aufblitzen in den dunklen Augen.
— Wegen solcher Deppen wie dir, sagte Albert ruhig. Das ist Hisham. Kann sein, daß er ein Mufti ist, aber Englisch spricht er besser als du.
Читать дальше