Burton war einer seiner Zweitschüsse, ein weiterer Trumpf in seinem Ärmel. Burton war das scharfe Auge des Generals in der vermeintlich friedlichen Fremde außerhalb des Cantonment. Die Ruhe täuschte, davon war der General überzeugt. Burton sollte persönlich für Napier die Augen und Ohren offenhalten. Als er zurückkehrte von seinem ersten Hör-dich-um, erstattete er dem General einen so ungewöhnlichen Bericht, daß dieser sich in seiner Entscheidung bestätigt fühlte, diesen jungen Mann mit den unglaublichen Sprachkenntnissen und dem schwierigen Wesen mit der Reconnaissance beauftragt zu haben. Richard Francis Burton. Der Vater ebenfalls Offizier. Beide Großväter Pastoren. Ein Teil der Familie aus Irland. Was nicht erklärte, wieso er so dunkel war. Vielleicht stimmte das Gerücht, eine Zigeunerin habe sich in die Genealogie hineingedrängt. Dieser Burton hatte einen viel zu eigenen Kopf, um in der Armee voranzukommen. Er gehörte zu den Soldaten, die man sofort zum General befördern sollte. Oder entlassen. Er trug seinen Bericht mit der Verve eines Hauptdarstellers vor, der den wichtigsten Monolog eines Stückes deklamiert. Die Einführung des britischen Rechtssystems sei zwar formal weit vorangeschritten, die Umsetzung leide jedoch noch an Schluckauf. Der General selbst habe neulich einige Todesurteile unterschrieben, die ersten Mörder, die in einem ordentlichen Verfahren schuldig gesprochen worden waren, die Vollstreckung der Urteile sei ihm bekanntgegeben worden. Trotzdem seien die Verurteilten noch am Leben. Der General, der nicht ruhig hinter dem Schreibtisch sitzen konnte, der sich Rapport erstatten ließ, während er die Truppen inspizierte, während er ausritt, während er sich im Fechten übte, während er von einem Gebäude zum anderen hinkte, er blieb stehen und beäugte Burton durch seine Drahtbrille, mit der Nase eines Adlers und den Augen eines Falken. Wollen Sie Verwirrung stiften? Keineswegs. Die Verurteilten, Sir, waren reiche Männer. Sie haben Ersatz angeheuert, der an ihrer Stelle gehängt wurde. Sie wollen mich herausfordern, junger Mann! Nicht im geringsten, Sir, ich weise darauf hin, daß der Mensch sich alles mögliche einfallen läßt, um zu überleben. Das System hat sogar einen Namen: Badli. Wer läßt sich freiwillig für einen anderen hängen? Ich weiß es nicht, Sir. Dann finden Sie es heraus. Schleunigst. Burton wartete die nächste Hinrichtung ab. Er schritt dazwischen, bevor die Falltür wegfallen konnte. Halt. Ich habe Grund zur Annahme, daß dieser Mann nicht derselbe ist wie jener, der zum Tode verurteilt wurde. Tatsächlich? fragten die Umherstehenden mit unschuldiger Verwunderung. Das wißt ihr genau, sagte Burton. Ich will mit diesem Trottel reden, dann darf er unbehelligt nach Hause. Habt ihr mich verstanden? Der Mann, der dem Seil um einen Hauch entronnen war, überschüttete Burton mit wüsten Beschimpfungen. Möge deine Nase abfallen, du Schweinefresser, schrie er. Er wollte nichts davon hören, daß Burton ihm das Leben gerettet habe. Erst viel später, als er sich beruhigt und mit der Aussicht auf sein Weiterleben angefreundet hatte, beantwortete er die Frage, wieso er sich auf einen derartigen Tausch eingelassen habe. Ich war mein Leben lang arm, sagte er ruhig. So arm, ich wußte nicht, wann ich das nächste Mal wieder essen würde. Mein Magen war immer leer. Meine Frau und meine Kinder sind halb verhungert. Das ist mein Schicksal. Aber dieses Schicksal übersteigt meine Geduld. Ich habe zweihundertfünfzig Rupien erhalten. Mit einem kleinen Teil dieses Geldes habe ich mir den Bauch vollgeschlagen. Den Rest habe ich meiner Familie hinterlassen. Sie werden versorgt sein, für einige Zeit. Was könnte ich auf Erden mehr erreichen? Burton erstattete erneut Bericht. Die Augenbrauen des Generals sahen aus wie Schnüre.
— Wie können wir diesem Mißstand ein Ende bereiten?
— Indem wir die Armut abschaffen?
— Wenn mir der Sinn nach etwas Geistreichem steht, schlage ich nach bei Lukian. Verstanden, Soldat?
— Ziehen Sie die Alethe Dihegemate vor, oder vertiefen Sie sich lieber in die Nekrikoi Dialogoi ?
— Einem Mann von Ihrer Begabung steht üblicherweise die Welt offen. Doch bei Ihrer Chuzpe, Burton, fürchte ich, werden Sie gegen einige Türen knallen. Haben Sie in unserer Angelegenheit noch weitere Vorschläge?
— Momentan nicht, Sir. Ich bitte um Erlaubnis, dem Mann das Geld zu erstatten, mit dem er seine letzte Mahlzeit bezahlt hat.
— Ist denn der Schuldige inzwischen nicht exekutiert worden?
— Doch. Seine Familie treibt nun die Schuld ein. Der Mann, der nicht gerettet werden wollte, hat den restlichen Betrag zurückgezahlt, aber was er ausgegeben hat, bevor er an den Galgen trat, das muß er …
— Wieviel?
— Zehn Rupien.
— Ein Festmahl!
— Er hat sich einmal im Leben etwas gegönnt.
— Auf Staatskosten, wie sich jetzt herausstellt. Sorgen Sie dafür, daß nicht bekannt wird, welche Auswüchse die Pax Britannica annimmt.
— Jawohl, Sir.
25.
NAUKARAM
II Aum Viraganapataye namaha I Sarvavighnopashantaye namaha I Aum Ganeshaya namaha II
— Das Leben von Burton Saheb hat sich geändert im Sindh. Und meines auch. Seines zum Besseren, meines zum Schlechteren. Er bekleidete zwar keinen höheren Rang, und er verdiente auch nicht mehr Geld. Das Haus, das wir bewohnten, war ein Zelt. In Baroda hatten wir zwölf Diener, jetzt nur noch zwei. Von außen betrachtet hätte keiner vermutet, daß seine Position bedeutender geworden war. Sindh wurde regiert von einem alten General, der von allen gefürchtet wurde, sogar von jenen, die ihm niemals begegnet waren. Burton Saheb wurde zu ihm gerufen eines Tages, er sollte übersetzen. Er hat den General beeindruckt, bei diesem Treffen, wie hätte es anders sein können. Er war ein Mann, Burton Saheb, der über den anderen Angrezi thronte. Das konnte dem General nicht verborgen bleiben. Er bestellte ihn ein weiteres Mal zu sich. Eine Unterredung unter vier Augen. Ich weiß nicht, worüber sie gesprochen haben. Aber ich weiß von den Schwierigkeiten, die später kamen.
— Infolge dieses Gesprächs?
— Ja. Gewaltige Probleme kamen auf uns zu. Ich hatte keine Ahnung, was für einen Auftrag der General Burton Saheb erteilte. Selbst seine direkten Vorgesetzten und seine Kameraden wurden darüber im unklaren gelassen.
— Er hat dir nichts verraten?
— Er sollte etwas auskundschaften, soviel hat er mir gesagt. Es bedeutete, daß er sich unter die Miya mischen mußte. Er schien sich darauf zu freuen. Als er nach Hause kam, ich nenne unser staubiges Zelt so, obwohl es unangebracht ist, war er ausgelassen wie seit langem nicht mehr. Er verkündete mit großem Gehabe: Wir werden uns im Land umschauen, Naukaram. Das Imperium nimmt unsere Talente endlich wahr. Er war glücklich an diesem Tag, und ich hatte nicht gedacht, daß er zu diesem Gefühl fähig war. Es ließ sich so gut an für ihn. Ich verstehe nicht, wieso es so übel enden mußte. Sein Auftrag hatte keinen Einfluß auf meine tägliche Arbeit. Ich war damit beschäftigt, der Wüste den Zugang zum Zelt zu versperren. Sie fand immer wieder einen Weg, sich an mir vorbeizustehlen. Burton Saheb brach immer häufiger auf, in Verkleidung. Irgendwohin. Er hat mir nie gesagt, wohin. Zuerst war er für einen Tag verschwunden. Doch die offenen Gespräche, stellte er fest, werden nachts geführt. Also blieb er für einige Tage weg, und schließlich sah ich ihn manchmal wochenlang nicht. Es war mir nicht wohl bei der Vorstellung, daß er diesen Wilden, diesen Beschnittenen, ausgeliefert war. Zum ersten Mal, seitdem ich bei ihm war, konnte ich ihm nicht zur Seite stehen. Ich habe mir Sorgen um ihn gemacht. Wie hat er sich ernährt, wo hat er geschlafen? Ich wußte es nicht, er ritt ohne Gepäck. Er verschwand, ich blieb mit meinen Sorgen zurück, bis er wiederauftauchte. Erschöpft, übernächtigt. Aber er strahlte, ich konnte die Erregung spüren, die ihn durchströmte. Nach seiner Rückkehr erzählte er mir ein wenig von seinen Erlebnissen. Von ungewöhnlichen Bräuchen, denen er ausgesetzt war. Von großen Festen an Grabmälern. Nebensächlichkeiten dieser Art. Ich war verblüfft. Das konnten nicht die Kenntnisse sein, nach denen er spionieren sollte.
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