Ilija Trojanow - Der Weltensammler

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Ein spannender Roman über den englischen Abenteurer Richard Burton (1821–1890). Anstatt in den Kolonien die englischen Lebensgewohnheiten fortzuführen, lernt er wie besessen die Sprachen des Landes, vertieft sich in fremde Religionen und reist zum Schrecken der Behörden anonym in den Kolonien herum. Trojanows farbiger Abenteuerroman über diesen Exzentriker zeigt, warum der Westen bis heute nichts von den Geheimnissen der anderen Welt begriffen hat.

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Ilija Trojanow

Der Weltensammler

for Nuruddin & Ranjit

who truly cared

Dieser Roman ist inspiriert vom Leben und Werk des Richard Francis Burton (1821–1890). Die Handlung folgt der Biographie seiner jungen Jahre manchmal bis ins Detail, manchmal entfernt sie sich weit von dem Überlieferten. Obwohl einige Äußerungen und Formulierungen von Burton in den Text eingeflochten wurden, sind die Romanfiguren sowie die Handlung überwiegend ein Produkt der Phantasie des Autors und erheben keinen Anspruch, an den biographischen Realitäten gemessen zu werden. Jeder Mensch ist ein Geheimnis; dies gilt um so mehr für einen Menschen, dem man nie begegnet ist. Dieser Roman ist eine persönliche Annäherung an ein Geheimnis, ohne es lüften zu wollen.

Do what thy manhood bids thee to,

From none but self expect applause:

He noblest lives and noblest dies

Who makes and keeps his self-made laws.

(Richard Francis Burton, Kasidah VIII, 9)

LETZTE VERWANDLUNG

Er starb früh am Morgen, noch bevor man einen schwarzen von einem weißen Faden hätte unterscheiden können. Die Gebete des Priesters verebbten; er benetzte sich die Lippen und schluckte seine Spucke hinunter. Der Arzt an seiner Seite hatte sich nicht bewegt, seitdem der Pulsschlag unter seinen Fingerspitzen vergangen war. Sturheit allein hatte seinen Patienten zuletzt am Leben erhalten; am Ende war sein Wille einem Gerinnsel erlegen. Auf dem gekreuzten Arm des Toten lag eine fleckige Hand. Sie wich zurück, um ein Kruzifix auf die nackte Brust zu legen. Viel zu groß, dachte der Arzt, ausgesprochen katholisch, so barock wie der vernarbte Oberkörper des Verstorbenen. Die Witwe stand dem Arzt gegenüber, auf der anderen Seite des Bettes. Er traute sich nicht, ihr in die Augen zu blicken. Sie wandte sich ab, ruhig bewegte sie sich zum Schreibtisch, setzte sich hin und begann etwas zu schreiben. Der Arzt sah, wie der Priester das Ölfläschchen einsteckte, und er verstand dies als Fanal, die Spritzen und die elektrische Batterie wegzupacken. Es war eine lange Nacht gewesen; er würde sich eine neue Anstellung suchen müssen. Das war sehr bedauerlich, denn er hatte diesen Patienten gemocht, und er hatte es genossen, in seiner Villa leben zu dürfen, hoch über der Stadt, mit Blick auf die Bucht und weit hinaus aufs Mittelmeer. Er fühlte, wie er errötete und wurde darüber noch röter. Er wandte sich von dem Toten ab. Der Priester, um einige Jahre jünger als der Arzt, blickte verstohlen im Zimmer umher. Eine Karte des afrikanischen Kontinents auf der einen Wand, zu beiden Seiten von Bücherregalen eingeengt. Das offene Fenster, es beunruhigte ihn, so wie ihn in diesem Moment alles beunruhigte. Die huschenden Geräusche erinnerten ihn an andere schlaflose Nächte. Die Zeichnung zu seiner Linken, eine Armeslänge entfernt, schön und unverständlich, hatte ihn vom ersten Anblick an verunsichert. Sie erinnerte ihn daran, daß dieser Engländer sich in gottlosen Gegenden herumgetrieben hatte, die nur von Ahnungslosen und Übermütigen aufgesucht wurden. Sein Starrsinn war berüchtigt. Viel mehr wußte der Priester nicht über ihn. Der Bischof hatte sich wieder einmal aus einer unangenehmen Aufgabe herausgewunden. Es war nicht das erste Mal gewesen, daß der Priester die Salbung eines Unbekannten hatte vornehmen müssen. Vertraue deinem gesunden Menschenverstand, das war alles, was der Bischof ihm mit auf den Weg gegeben hatte. Seltsamer Rat. Er hatte keine Zeit gehabt, sich zurechtzufinden. Er war von der Ehefrau überrumpelt worden. Sie hatte ihn gedrängt, sie hatte das Sakrament für den Sterbenden eingefordert, als sei der Priester es ihr schuldig. Er hatte sich ihrem Willen gebeugt und bereute es bereits. Sie stand an der offenen Tür, übergab dem Arzt einen Umschlag und redete auf ihn ein. Sollte er etwas sagen? Der Priester nahm ihren leisen, aber festen Dank entgegen — was sollte er sagen? — und mit dem Dank die unausgesprochene Aufforderung zu gehen. Er roch ihren Schweiß und schwieg. Im Vestibül reichte sie ihm den Mantel, die Hand. Er wandte sich ab, blieb stehen, er konnte nicht so belastet in die Nacht hinausgehen. Er drehte sich mit einem Ruck zu ihr um.

— Signora …

— Sie verzeihen, wenn ich Sie nicht zur Tür begleite?

— Es war falsch. Es war ein Fehler.

— Nein!

— Ich muß es melden, dem Bischof.

— Es war sein letzter Wille. Sie mußten ihn achten. Entschuldigen Sie mich, Vater. Ich habe viel zu tun. Ihre Sorgen sind unbegründet. Der Bischof weiß Bescheid.

— Sie mögen sich sicher sein, Signora, aber mir fehlt Ihre Sicherheit.

— Bitte beten Sie für das Heil seiner Seele, das wird für uns alle das beste sein. Auf Wiedersehen, Vater.

Zwei Tage verbrachte sie an seinem Totenbett, in Gebeten und Zwiegesprächen, gelegentlich gestört von jenen, die ihm die letzte Ehre zu erweisen wünschten. Am dritten Tag weckte sie die Hausgehilfin früher als gewöhnlich. Die Hausgehilfin warf sich einen Schal über das Schlafgewand. Sie tappte durch die wollene Nacht zum Schuppen, in dem der Gärtner schlief. Er erwiderte ihr Rufen erst, als sie mit einer Schaufel gegen seine Tür hieb. Anna, rief er, ist wieder etwas Schlimmes passiert? Die Herrin braucht dich, antwortete sie, und fügte hinzu: Sofort.

— Hast du schon Brennholz gesammelt, Massimo?

— Ja, Signora, letzte Woche, als es kalt wurde, wir haben genug …

— Ich möchte, daß du ein Feuer machst.

— Ja, Signora.

— Im Garten, nicht zu nahe am Haus, aber auch nicht zu weit unten.

Er errichtete einen kleinen Scheiterhaufen, wie im Dorf zur Sonnenwende. Die Anstrengung erwärmte ihn ein wenig. Seiner Füße wegen, die Zehen naß vom Tau, freute er sich auf das Feuer. Anna kam hinaus, mit einem Becher in der Hand, ihre Haare verquer wie die Zweige des Reisigs. Er roch den Kaffee, als er ihr den Becher abnahm.

— Wird es brennen?

— Solange es nicht regnet.

Er beugte sich über den Becher, als versuche er in der Flüssigkeit etwas zu erkennen. Er schlürfte.

— Soll ich es anzünden?

— Nein. Wer weiß, was sie will. Warte lieber.

Die Bucht lichtete sich, ein Dreimaster holte die Segel ein. Triest erwachte zu Einspännern und Lastträgern. Die Herrin schritt über den Rasen, in einem ihrer schweren, weiten Kleider.

— Zünde es an.

Er gehorchte. Brenne brenne Sonnenbraut, leuchte leuchte Mondgemahl, flüsterte er den ersten Flammen zu. Das Lied seines Vaters zur Sonnenwende. Die Herrin trat an ihn heran; es fiel ihm schwer, nicht zurückzuweichen. Sie hielt ihm ein Buch entgegen.

— Wirf es hinein!

Fast hätte sie ihn berührt. Etwas Hilfloses verbarg sich in ihrem Befehl. Sie selbst würde das Buch nicht in das Feuer werfen. Er befingerte den Deckel, die Flecken, die Naht, wich ein wenig von den Flammen zurück, strich über das Leder, auf der Suche nach einer Erinnerung, bis ihm einfiel, wonach es sich anfühlte — nach der Narbe auf dem Rücken seines Erstgeborenen.

— Nein.

Das Feuer hetzte in alle Richtungen.

— Nehmen Sie jemand anderen. Ich kann es nicht.

— Du wirst es tun. Sofort.

Das Feuer hatte sich aufgerichtet. Er wußte nicht, was er ihr entgegnen sollte. Annas Stimme züngelte in sein Ohr.

— Das geht uns nichts an. Wenn sie jetzt weggeht … das Empfehlungsschreiben, die Abschiedsgeschenke. Was liegt dir an diesem Buch? Gib’s mir, was ist schon daran.

Er sah es nicht fliegen, er hörte nur ein Krachen, Glut, Flammen, die zusammenzuckten, und als er das Buch im Feuer sah, krümmte sich der Einband wie ein verwachsener Zehennagel. Die Hausgehilfin hockte sich hin, auf ihrem nackten Knie ein rußiges Muttermal. Das Kamelleder brennt, eine Grimasse knackt, Seitenzahlen brennen, Pavianlaute glühen, Marathi, Gujarati, Sindhi verdampfen, hinterlassen krakelige Buchstaben, die als Funken aufflattern, bevor sie als Kohlenstaub hinabsinken. Er, Massimo Gotti, ein Gärtner aus dem Karst nahe Triest, erkennt im Feuer den verstorbenen Signore Burton, in jungen Jahren, in altmodischer Kluft. Massimo streckt seinen Arm aus, versengt sich die Haare auf seinem Handrücken, die Seiten brennen, die Zettel, die Fäden, die Lesezeichen und das Haar, ihr seidenes schwarzes Haar, langes schwarzes Haar, das vom vorderen Ende eines Schragens herabhängt, im Klagewind treibt. Nur eine Flammenwand entfernt liegt eine Tote, ihre Haut löst sich ab, ihr Schädel platzt, sie beginnt zu schrumpfen, bis von ihr übrig ist, was weniger wiegt als ihre schönen langen schwarzen Haare. Der junge Offizier weiß nicht, wie sie heißt, wer sie ist. Er kann den Geruch nicht mehr ertragen.

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