Gassengicht. Jeder Schritt eine Berührung. Burton mußte immer wieder zur Seite springen, sein Augenmerk galt den Trägern, Schleppern, Schiebern. Sichtbar waren im Menschenmeer nur die Lasten, übergroße Brocken, die auf dem Wellengang der wippenden Köpfe schwebten und schwankten. Lumpenläden. Werkstätten unter lauter gleichen Werkstätten. Händler auf Matten wedelten sich Luft zu, hinter ihnen enge Eingänge, die zu Höhlen führten, bauchig wie die Gewohnheit, fliegenverseucht. Burton mußte diese Krämer fast anflehen, ihm etwas zum Verkauf anzubieten, und wenn sie sich dazu bequemt hatten, offerierten sie ihm die schlechteste Qualität, die sie vorrätig hielten, beschworen die Vortrefflichkeit der Ware, präsentierten sie auf ihrem Ehrenwort, bis er den kleinen Dolch oder die steinerne Gottheit akzeptierte. Dann begann ein Tauziehen um den Preis, von neuerlichen Seufzern und Grimassen begleitet.
Du sprichst den Dialekt dieser Kerle schon gut, bemerkte der Sanitäter, etwas vorwurfsvoll. Burton lachte: Die Damen von gestern wären entsetzt. Bestimmt denken sie, eine Sprache zu teilen ist wie ein Bett zu teilen. Schwarzstadt. Auf einmal vor ihnen ein Tempel, eine Moschee, vielfarbig gescheckt, einfarbig verziert. Der Sanitäter war angewidert von der mißgestalteten Göttin, deren Fratzenkopf um ein Vielfaches größer war als ihr Leib. Erfreue dich an der Überraschung, immerhin, dies ist die Schutzpatronin der Stadt, in der so viele Zungen heimisch sind, doch die Göttin selbst ist stumm. Sie kamen an einem Grabmal vorbei. Neben dem Leichnam, bedeckt mit einem bestickten grünen Stoff, hingen Keulen an der Wand. Das magische Werkzeug des heiligen Baba, erklärte ihnen ein Wächter, Kalebassen aus Afrika. Aussätzige Menschen und unberührbare Hunde. Die verwelkten Glieder der Bettler waren mit heiliger Farbe bedeckt, eine mißgestaltete Kuh beschweifte sich nebenan, ihr kurzes fünftes Bein orange bemalt; etwas weiter lag ein Gliederloser auf einer Decke mitten in der Gasse, die zum Hintereingang der Großen Moschee führte, um ihn herum verstreute Münzen wie abgefallene Pocken. Ein nackter dunkelhäutiger Mann hielt den Verkehr auf. Er war von Kopf bis Fuß mit Fett eingeschmiert und trug ein rotes Taschentuch um die Stirn gebunden. In seiner Hand ein Schwert. Eine gewaltige Menge versammelte sich um seine haltlosen Schreie. Zeigt mir den rechten Weg, schrie der Mann und hieb mit dem Schwert durch die Luft. Ein älterer Herr neben Burton murmelte etwas in der tonlosen Monotonie eines Gebets, während der Nackte das Schwert wie eine Peitsche schwang und die Menge ihm allmählich zum Feind wurde. Was passiert hier, ich verstehe nicht, was hier passiert? Der Sanitäter kauerte hinter Burtons Rücken. Der Nackte drehte sich mit ausgestrecktem Schwert in einem zischenden Kreis, bis er stolperte, das Schwert entglitt ihm, einige Männer aus der Menge stürzten sich auf ihn und begannen, ihn zu schlagen und zu treten. Mische dich ja nicht ein, flehte der Sanitäter ihn an, du bist groß gewachsen, vielleicht bist du stark, aber mit diesen Wilden kannst du es nicht aufnehmen. Und wenn sie ihn umbringen? Das geht uns nichts an!
Zwei Monsune, Dick, sagte der Sanitäter auf dem Heimweg, das ist die durchschnittliche Lebenserwartung eines Neuankömmlings. Keine Sorge, tröstete ihn Burton, gewiß gilt das nur für jene, die zu vorsichtig leben und an Obstipation sterben. Obstipation? raunte der Sanitäter. Darauf bin ich gar nicht vorbereitet.
1.
DER DIENER
Niemand würde den Lahiya zu dieser Stunde aufsuchen. Nicht in diesem Dürremonat. Im Tempel würden sie die Götter mal wieder um Regen anflehen, aber er, was sollte er Ganesh noch versprechen? Eigentlich könnte er seine Zelte abbrechen, sein Büro schließen, dem Staub entfliehen, aber es ist weit zu seiner Schlafstätte. Papier und Feder liegen bereit. Obwohl ihn niemand aufsuchen wird. Nicht zu dieser Tageszeit, nicht in diesem Dürremonat. Zum Mittagsschlaf fehlt ihm die Ruhe. Er hat es sich angewöhnt, die anderen Schreiber, diese Schakale, nicht aus dem Auge zu lassen. Wie sie sich um jeden Kunden reißen, kaum biegt er ein in die Straße, wie sie seine Unsicherheit abtasten, bis der Kunde sich niederhockt und seinen Auftrag als Bitte vorträgt. Er wird nie merken, wie er von diesen ehrlosen Schuften betrogen wurde. Noch achten sie ihn, noch fürchten sie ihn ein wenig. Er wüßte nicht, was sie zu fürchten hätten, aber seine Stimme, fester als sein Körper, hält sie auf Distanz. Auf seine Stärken kann er sich verlassen, auf sein würdevolles Aussehen, seinen geachteten Namen, sein respektgebietendes Alter. Diese Tageszeit, diese Jahreszeit sind zum Verzweifeln. Die Erde heizt sich auf, und nichts bewegt sich. Er streckt seine Beine aus. Die Hitze zerschmilzt auf der Straße. Sie klebt an den Hufen eines Ochsen, der sich weigert weiterzugehen. Müde prügelt der Treiber auf ihn ein, Schritt um Schlag dem Ende des Weges entgegen.
Der Mann dort, mitten auf der Straße. Ein Kunde? Sogleich ist er umlauert, ein hochgewachsener Mann, der etwas gebeugt dasteht, der seinen Kopf senkt und wieder hebt, dessen Körper keinen Widerstand leistet gegen die vielen Hände, die an ihm zerren. Der Mann steht wie angewurzelt. Jetzt hebt er seinen Kopf. Einer der Schakale löst sich aus der Meute, andere folgen ihm. Sie lassen ab von diesem Mann, der sie überragt. Der Lahiya sieht, wie die anderen Schreiber mit ihren besserwisserischen Fingern auf ihn zeigen. Der hochgewachsene Mann kommt auf ihn zu, das Gesicht markiert von widerspenstigem Stolz und einem faden, grauen Schnurrbart. Der Lahiya weiß, daß die anderen Schreiberlinge dieses Mal das Nachsehen haben, obwohl sie lässig ihren Dhoti nachbinden und sich gebärden, als hüte die Welt vor ihnen keine Geheimnisse. Dieser Mann hat gewiß einen Wunsch, den allein der alte Lahiya erfüllen kann.
— Briefe an Behörden des Britischen Reiches sind meine Spezialität.
— Es soll kein üblicher Brief …
— Ebenso Briefe an die Ostindische Gesellschaft.
— Auch an Offiziere?
— Selbstverständlich.
— Es soll kein förmlicher Brief werden.
— Wir schreiben, was Sie wünschen. Aber gewisse Formen sollten gewahrt werden. Die Herrschaften bestehen auf Form. Der kleinste Fehler im Aufbau, das kleinste Versäumnis bei der Anrede, und der Brief ist keinen Anna wert.
— Es muß viel erklärt werden. Ich habe Aufgaben übernommen, wie sie kein anderer …
— Wir werden so ausführlich sein, wie die Angelegenheit gebietet.
— Ich stand ihm viele Jahre zur Seite. Nicht nur hier in Baroda, ich bin mit ihm gezogen, als er versetzt wurde …
— Verstehe, verstehe.
— Ich habe ihm treu gedient.
— Zweifellos.
— Ohne mich wäre er verloren gewesen.
— Natürlich.
— Und wie hat er mich dafür entlohnt?
— Undankbarkeit ist des Edlen Lohn.
— Ich habe ihm das Leben gerettet!
— Dürfte ich erfahren, an wen sich das Schreiben richtet?
— An niemanden.
— An niemanden? Das wäre unüblich.
— An keine bestimmte Person.
— Verstehe. Sie wollen den Brief mehrfach verwenden?
— Nein. Oder doch, ja. Ich weiß nicht, wem ich den Brief geben soll. Alle Angrezi der Stadt haben ihn gekannt, das ist lange her, vielleicht zu lange, ich weiß nicht, einige sind bestimmt noch in Baroda. Heute morgen erst habe ich Leutnant Whistler gesehen. Er fuhr in einer Kutsche vorbei, eine dieser neuen Kutschen mit einem halben Dach aus Leder, ein schöner Wagen. Fast hätte er mich überfahren. Ich habe Leutnant Whistler gleich erkannt. Er war einige Male bei uns. Ich bin dem Wagen hinterhergerannt, er mußte bald halten. Ich habe den Kutscher gefragt.
— Und?
— Nein, sagte er, dies ist der Wagen von Oberst Whistler. Ich habe mich nicht getäuscht. Mein Herr hat sich über seinen Namen lustig gemacht.
Читать дальше