Kiko — die Neun, Kiko — das Kopfballungeheuer, Kiko — der Eisenschädel von der weichen Drina hatte in der letzten Halbsaison vor dem Krieg dreißig Tore gemacht, davon zwanzig mit dem Kopf, drei mit rechts, und die restlichen sieben alle mit dem schwächeren linken und alle in seinem letzten Spiel, nur einige Tage bevor in Sarajevo die ersten Schüsse fielen.
Ich bin gestern in Sarajevo gelandet, habe mir ein Zimmer gemietet, drei Tage für dreißig Euro bei einer jungen Frau mit drei Töchtern. Ich fuhr die Endhaltestellen der Straßenbahn ab, hinaus zu den grauen Türmen der Plattenbauten, spazierte durch die Altstadt, mit Händen hinter dem Rücken verschränkt, Blick gegen den Boden gerichtet, als sei ich in Gedanken und gehöre somit hierher, es gibt keine nachdenklichen Touristen. Ich wollte wissen, worüber man in der Stadt spricht, traute mich aber nicht nachzufragen. Ich hörte zu. Ich wollte wissen, wie man auf die Dächer gelangt, ich ging Treppenhäuser riechen, bekam in der Bibliothek eine Nummer, die zu einem Tisch mit Leselampe gehörte. Ich sah Studenten beim Lernen zu. Am Abend wurde» Orpheus und Eurydike «aufgeführt, ich wollte wissen, was die Unterwelt sein wird, in die der Sohn des Flussgottes steigt, um das schon Verlorene noch einmal zu verlieren, aber ich bekam keine Eintrittskarte, es freute mich, dass Dinge ausverkauft waren. Mich freute alles, was nicht nach Ruine, sondern nach Reichtum aussah oder nach Sorglosigkeit, obwohl ich mir einredete, sorglos sein geht doch gar nicht. Ich stieg auf ein Dach. Ich hatte das Gefühl, etwas aufgegeben zu haben, sah auf die Stadt und wusste nicht, was es war. Ich wollte nicht tanzen, ich wollte sehen, wie man tanzte. Vor dem Club gab es keine Schlange, ich wartete trotzdem und kaufte mir dann doch bloß die Süddeutsche von gestern in einem Kiosk in der Nähe. Auf dem Bett in meinem Zimmer fand ich einen Zettel von der Vermieterin: Pita ist im Ofen, falls du Hunger hast. Ich hatte Hunger, die Fingerschattenvögel flogen wieder über bosnische Wände, ich schlief drei Stunden.
Am zweiten Tag kochte ich Kaffee für die Vermieterin und fragte sie nach Asija. Ich fragte überall nach Asija und hielt Ausschau nach Asijas hellem Haar. In den Straßenbahnen, an den Endhaltestellen, zwischen den Plattenbauten und in den Cafés der Altstadt. Ich las Namensschilder, stieg auf Dächer und suchte die Gegend ab. In jedes Gespräch streute ich ihren Namen, versuchte, Beamte und Notare von der Dringlichkeit meiner Suche zu überzeugen, bekam Einblick in Namenregister, in Flüchtlingsstatistiken, in Opferlisten, man sagte mir, ich käme reichlich spät, ich bat höflich, es bei konstruktiven Kommentaren zu belassen. In der Musikhochschule blätterte ich heimlich die Mitgliederkartei der Bibliothek durch, immer noch überzeugt, dass Asija Geigerin ist. In der Videothek durfte ich die Kundendaten nicht sehen, im Sonnenstudio schon. Unterwegs zwischen den Orten las ich das Telefonbuch. Acht Asijas rief ich an, bei sechs entschuldigte ich mich für die Störung, zwei waren nicht zu Hause, was Anlass zur Hoffnung gab.
Die Straße gibt es in Sarajevo nicht, sagte der Taxi-Fahrer, als ich ihm Asijas Adresse nannte, die mir Oma Katarina vor Jahren gegeben hatte, und ließ sich das auf mein Drängen hin von der Zentrale bestätigen. Ich ließ mich in eine Straße fahren, die ähnlich klang wie die auf meinem Zettel, klingelte an fünf Türen und las mir alle Klingelschilder durch. Der Himmel war bewölkt, ich gelangte an das Ende der Straße und sah mich um. Kinder schrieben mit bunter Kreide ihre Namen auf den Asphalt. Ich verlasse Sarajevo nicht, bevor ich etwas gefunden habe.
Ich kaufte ein Buch über den Genozid in Višegrad. Ich wollte so lange durch die Stadt streunen, bis mir ein streunender Hund begegnete oder bis mich jemand erkannte, der aus Višegrad hierher geflohen ist. Ich wollte Wellensittichen beim Schnäbeln in einem Fenster zusehen und fragte verstohlen nach Pflaumenmarmelade zu meinen Ćevapčići. Verarsch mich nicht, gab der Kellner zurück, später kam der Regen und anstatt zur Führerscheinstelle zu gehen, betrat ich das kleine Wettcafé mit dem Blick auf die Altstadt.
Mesud, der mit seinem Schnurrbart spielt, mich eindringlich mustert und sagt: Kiko. Kiko von der weichen Drina. Wie du.
Ich wollte einen Kaffee trinken und warten, dass der Regen aufhört. Vier Fernseher an der Wand, in allen lief Teletext, ein Billardtisch in der Mitte des Raumes, Aschenbecher auf den Plastiktischen. Männer in Lederjacke oder Trainingsanzug beugten sich konzentriert über Quotentabellen. Ich bestellte einen türkischen Kaffee. An einem Tisch vor der breiten Glasfront lasen zwei ältere Männer Zeitung, einer trug eine Trainingsjacke mit der Aufschrift» Rot-Weiß-Essen «und der Nummer 11.
So ein Zufall, sagte ich, ich wohne in Essen.
Die Männer senkten die Zeitungen und sahen sich um. Ich stand hinter ihnen, Kaffeetasse in der Hand. Sie schwiegen.
Die Jacke, sagte ich und deutete mit der Tasse auf den Mann mit dem Schnurrbart. Der andere gab Zucker in seinen Kaffee, schlürfte vorsichtig und widmete sich wieder seiner Zeitung.
Deutschland, Regionalliga Nord, Sonntag gegen Düsseldorf, gibt ein Unentschieden, sagte der mit der Jacke. Der Schnurrbart verdeckte seinen Mund, bewegte sich auf und ab, als kaute der Mann.
Ich bin Aleksandar, ist da noch frei? hörte ich mich sagen, dabei klang die tiefe Stimme unter dem Schnurrbart nicht gerade einladend.
Wir sind die Wise Guys, sagte die Stimme und der Arm zeigte auf den freien Stuhl.
Was heißt das? fragte ich und setzte mich dazu.
Dass ich Recht habe, wenn ich sage: spiel am Sonntag Unentschieden auf dein Essen gegen Düsseldorf.
Die Wise Guys: Mesud mit Schnurrbart und Sportjacke, die ihm sein Schwiegersohn vor Jahren aus Deutschland mitgebracht hatte, und Kemo, der Diabetiker, der sich den Diabetes nicht einreden lässt. Kemo war der stillere der beiden. Er saß die meiste Zeit in Sportzeitungen vertieft, schrieb Zahlen auf und malte Kreise, Dreiecke, Blitze und wieder Zahlen daneben. Mesud führte zahllose Gespräche mit den kurzhaarigen Männern, die immer wieder an unseren Tisch traten und Dinge sagten wie: Anderlecht under? Zidane gelbgesperrt, unentschieden? Deportivo auswärts — Handicap zwei, was meinen Sie, Čika Mesud? Für jeden Spieler hatte der eine Antwort und einen Rat, ich konnte kein System dahinter erkennen.
Wie oft wetten Sie? fragte ich die Wise Guys.
Nein, nein, hob Mesud abwehrend die Hände, wir wetten nicht, wirst ja nicht glücklich damit. Wir sind da, falls jemand den Statistiken nicht glaubt oder nicht weiterweiß, das ist alles.
Viele wussten nicht weiter und kamen früher oder später auf einen kleinen Plausch oder mit einer Frage an unseren Tisch. Ein schüchterner Mann mit Anzug und Fliege wollte wissen, wie die Chancen stehen, dass Inter heute gewinnt. Ich war noch nie in Mailand, sagte Mesud, Finger weg von Italien. Kemo hob den Daumen: Inter packt es.
Der Laden wurde voller, die Spieler füllten ihre Scheine gegen die Wand aus. Musik wurde eingeschaltet, eine Frau sang davon, wie es ist, betrogen zu werden, dann sang ein Mann davon, wie es ist, zu betrügen, in beiden Liedern kamen beste Freunde vor. Vor den Spielautomaten bauten sich Lederjacken auf, schlugen auf die Knöpfe, es knallte, knallte, knallte. Der Regen hatte aufgehört, aber mir war nicht nach Gehen, ich wollte, dass man mich für einen Bekannten von Kemo und Mesud hielt. Niemand fragte mich etwas, ich setzte zehn KM auf Essen — Düsseldorf: unentschieden.
Zwei höchstens Zehnjährige stießen mit Queues die weiße Kugel gegen die Bande. Kemo warf eine Münze für sie ein und fuhr dem kleineren der beiden durch das flachsblonde Haar. Die Kugeln rumorten im Tisch, im Teletext blinkten die ersten Live-Ergebnisse, draußen wurde es dunkel. Wir sprachen über Roter Stern, wir sprachen über die Nationalmannschaft damals und die Nationalmannschaften heute, Mesud sagte: wären wir heute ein Land, wären wir unbesiegbar. Der Flachsblonde versenkte eine Kugel nach der anderen, Benfica, schrie jemand plötzlich, sind doch Hurenböcke alles! ein Stuhl fiel um, am Nachbartisch erzählte jemand, dass sein Cousin Husein jeden Tag mit Scheiße gefüllte Briefe an die Staatsanwaltschaft schickt, ein anderer fragte, was das an Porto kostet, dann verlor ich den Faden. Der flachsblonde Junge trank Fanta aus der Dose und traf die Zehn, die Zehn traf die Vierzehn und die Vierzehn verschwand im Loch. Ein Trainingsanzug meinte: kennt ihr den? und ich hätte einfach warten müssen, aber ich fragte: kennen, wen? und der Trainingsanzug erzählte einen Witz. Ich wollte alles ganz genau wissen und sofort, und wusste über nichts Bescheid.
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