Ich esse und trinke und esse und trinke und esse, der Regen läuft mir den Nacken herunter, Opas Zigarette ist aufgeraucht. Ur-Oma reicht mir Zauberstab und Hut. Der Hut passt mir noch, der Stab ist, wie die ganze Welt, kleiner als in meiner Erinnerung. Miki grinst mich an, ich trete zu ihm, unsere Brustkörbe berühren sich, ich sehe die Poren in seinen Wangen, ich nehme den Hut ab und will ihn Miki aufsetzen, er schlägt meine Hand weg, jemand schubst jemanden, der Hut und der Stab landen im Matsch. Es donnert über und hinter mir und links und rechts gleichzeitig, gibst du mal Ruh! singt Ur-Opa und schüttelt die Faust in die Wolken. Ur-Oma zieht ihre Augenklappe auf, Miki löst seine Krawatte.
Opa, nicht alle deine Geschichten habe ich behalten, aber einige eigene habe ich aufgeschrieben und werde sie dir vorlesen, sobald der Regen aufhört. Die Idee habe ich von Nena Fatima, die Stimme von Opa Rafik, das Buch, aus dem ich lese, von Oma, die Adern an den Unterarmen von deinem Sohn, der jetzt Kokosnüsse malt, die Schwermut von meiner Mutter. Mir fehlt alles, um meine Geschichte als einer von uns zu erzählen: Drinas Mut fehlt mir, die Stimme des Falken, das felsenharte Rückgrat unserer Berge, Walross’ Unbeirrbarkeit und der Enthusiasmus des ehrlich Vermissenden. Aber auch Armin, der Stationsvorsteher, fehlt mir, Čika Hasan und Čika Sead im ewigen Streit, Kikos Bein, Edin, der vergisst, dass er gerade einen Wolf nachahmt und vor der eigenen Stimme erschrickt, die» Mündung «fehlt, unser Garten, man hat ihn betoniert, die Karfiol, die Namen der Bäume, der Magen für den Schnaps, die Fußballtore im Schulhof. Du fehlst. Und die Wahrheiten, sie fehlen mir am meisten, solche Wahrheiten, in denen wir nicht mehr Zuhörer oder Erzähler sind, sondern Zugeber und Vergeber. Unser Versprechen, immer weiterzuerzählen, breche ich jetzt.
Eine gute Geschichte, hättest du gesagt, ist wie unsere Drina: nie stilles Rinnsal, sie sickert nicht, sie ist ungestüm und breit, Zuflüsse kommen hinzu, reichern sie an, sie tritt über die Ufer, brodelt und braust, wird hier und da seichter, dann sind das aber Stromschnellen, Ouvertüren zur Tiefe und kein Plätschern. Aber eines können weder die Drina noch die Geschichten: für beide gibt es kein Zurück. Das Wasser kann nicht umkehren und ein anderes Bett wählen, so wie kein Versprechen jetzt doch gehalten wird. Kein Ertrunkener taucht auf und fragt nach einem Handtuch, keine Liebe findet sich doch, kein Trafikant wird gar nicht erst geboren, keine Kugel schießt aus einem Hals zurück ins Gewehr, der Staudamm hält oder hält nicht. Die Drina hat kein Delta.
Und weil man nichts rückgängig machen kann, hättest du dich und uns ausgedacht, wie wir auf dir sitzen und essen, Bilder für den Regen hättest du dir ausgedacht, und Oma, wie sie dir eine zweite Zigarette in deinen Mund aus Erde steckt, dann Ur-Oma, die mich zum Duell herausfordert, mal sehen, ob du mir nach zehn Jahren im wilden Westen endlich das Wasser reichen kannst.
Der Regen ist schwer und kalt. Nass bis auf die Haut schleppen wir das Geschirr und das aufgeweichte Brot zum Haus zurück. Mir ist schwindlig, es gibt keinen Himmel mehr. Ur-Opa kann den Wind nicht länger festhalten, der entwischt, wird stärker, im Hof kullert einer der Steine vom Tisch, das Laken löst sich und hebt ab. Ur-Oma bleibt stehen, nicht das gute, murmelt sie, nicht das gute. Ur-Opa fasst sich an den Rücken und lacht vor Schmerzen. Das Laken zieht durch den Regen, wie kann es so nass fliegen, frage ich mich, dabei ist es längst vor Ur-Omas Füßen gelandet, sie wickelt Miki hinein.
Mein Telefon klingelt. Ur-Opa beugt sich, als wolle er etwas aufheben, die Hand am Rücken, und ich gehe ran: Pfeifen und Rauschen und die Stimme einer Frau. Was? rufe ich, nichts. Das Rauschen wird zu einem Regenguss an Stimmen, es ist, als lausche ich zwei Millionen Telefonaten auf einmal, ich kann keinem folgen, Rückkopplung, die Stimmen weg. Ur-Oma rollt Miki unter den Tisch, ich presse die andere Hand ans andere Ohr und stelle mich auf die Veranda, das Dach über meinem Kopf kappt plötzlich alle Geräusche im Telefon. Ich trete zurück in den Regen, Knacken, laufe über den Hof, rutsche die Böschung hinab, die Frauenstimme. Asija? rufe ich erst leise, dann lauter: Asija? Verrauscht kommt die Antwort, ist es überhaupt eine Antwort: Aleksandar. Wer ist da? frage ich und meine Stimme pfeift, wer ist da? als Echo zurück, ich muss mich setzen, ich habe unglaublich viel gegessen und getrunken und das zweimal, ich kann jetzt nicht mehr, ich lasse mich jetzt fallen, ich liege jetzt da, inmitten der summenden Süße eines Regens an Stimmen, wo? heult es zweimillionenfach, mir ist übel, ich kann nicht mehr, über mir, einen, vielleicht zwei Meter über mir — die Wolken. Der Regen füllt mir den Mund, Stimmen wie Fliegen im Ohr. Ja, sage ich, ich bin jetzt hier. Aleksandar? sagt die Frauenstimme, und es ist ein Fluss, in dem ich liege, meine eigene Regen-Drina habe ich bekommen, und ich sage: ich bin ja hier.
Dank an Katharina Adler, Martina Bachler, Nadja Küchenmeister, Benjamin Lauterbach, Michael Lentz, Thomas Pletzinger, Ilma Rakusa, Simon Roloff und Leipzig für die Unterstützung.
Dank an Goran Bogdanović, Hamdo Oprašić, Kristina und Petar Stanišić, Mejrema und Hamed Hećimović und Višegrad für die Geschichten.
Ohne sie wären Aleksandars Augen und Ohren nie so groß geworden.
Dank an das Künstlerhaus Lukas in Ahrenshoop für die Ruhe, den Schutzraum und die Dünen.
Dank an das Kulturreferat der Landeshauptstadt München und die Villa Waldberta für das Vertrauen, den Sport und den Starnberger See.
«Wie der Soldat das Grammofon repariert «wurde im Rahmen des Grenzgänger-Programms von der Robert Bosch Stiftung gefördert.