Seit Bora, Taifun und ihre Ema in Omas Keller gekommen sind, raucht Onkel Bora wieder und beschreibt, wie es geklungen hat und was alles gezittert hat, als die Granate die Ziegel von seinem Dach abblätterte. Auf den Knien balanciert er einen kleinen, quadratischen Klotz Streichhölzer und zeigt jedes Mal darauf, wenn er» Berliner Mauer «sagt.
Ihm gegenüber sitzt Tante Taifun und stillt ihre Ema. Ich höre meine Mutter zu Oma Katarina sagen: Gordana ist ganz schön blass.
Das wühlt mich auf. Nicht weil Tante Taifun blass ist oder so ungewohnt ruhig, sondern weil meine Mutter sie bei ihrem richtigen Namen nennt. Ich male eine Kamillenblume ohne Stängel und schenke sie meiner Tante, weil ich weiß, dass Kamillentee beruhigt. Ema greift nach dem Papier. Ich kann ihre Hand ganz in meine Faust schließen.
Nach dem fünfzigsten Einschlag höre ich auf zu zählen — zähle lieber die jungen Katzen: in der äußersten Ecke des Kellers leckt eine graue Katzenmutter ihre vier grauen Jungen ab. Onkel Bora hat die Geschichte mit den Kaffeetassen, dem Dach und dem Kleber jedem Anwesenden zwei Mal erzählt, das macht circa sechzig Mal das Wort» Henkel«, circa zwanzig Mal den Satz: Die DDR war eh ein Witz, und genau drei Mal die Frage: Mein Gott, was ist hier los?
Der Keller ist groß genug, von Ecke zu Ecke zu Ecke zu Ecke dreihundert Schritte. Niemand schickt uns zum Spielen, obwohl alles auf eine Weise geflüstert wird, als dürften wir es nicht hören. Wir beginnen, uns zu langweilen, Marija kann mit verbundenen Augen niemanden finden und irrt tastend durch die Korridore. Nešo ist da, Edin ist da. Wenn ich mit Marija rede, sehe ich immer in ihr Haar. Marija hat Locken wie sonst niemand, den ich kenne. Auch auf ihre Grübchen muss ich sehen, weil sie sich als kleine Strudel in ihre Wangen drehen, wenn sie lacht. Auf ihre Augen, weil sie gelb und grün sind. Im Keller spielt Marija die meiste Zeit allein unter den Begonien im Lüftungsschacht, aus Plastilin bastelt sie Kännchen und Löffel und einen Tisch und trinkt aus Plastilintassen unsichtbaren Kaffee mit unsichtbaren Gästen.
Immer mehr Leute, die nicht in dem Gebäude leben, strömen in den Keller. Ich freue mich am meisten über Walross und Zoran. Auch Milica, der Marienkäfer, stöckelt zu uns hinab. Walross hat eine Tüte voller Früchte mitgebracht. In den Bergen geht es ganz schön ab, sagt er, das grüne Haus mit dem merkwürdigem Dach, in dem die Japaner verschwunden sind, hätte es fast erwischt, und den Gemüseladen an der Ecke. Ich habe Geld auf dem Tresen gelassen, ehrlich. Wir brauchen Vitamine. Er bricht einen Apfel entzwei und gibt Zoran eine Hälfte.
Saugen Mücken eigentlich die Vitamine aus unserem Blut?
Milica in ihrem Rot-Schwarz setzt sich neben Tante Taifun. Schön, sagt sie zu Emas Haarflaum und in die Runde: ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn wir bleiben, bis das vorbei ist.
Ich habe längst begonnen, Milica zu mögen.
Folgende Fragen stelle ich nicht:
Wer schießt?
Wer schießt auf wen?
Warum?
Wann ist das vorbei?
Werden Dächer in Višegrad wie die Dächer in Osijek brennen?
Wird die Fußballsaison weitergehen?
Wird die Schule weitergehen?
Wer verteidigt uns?
Wann ist das vorbei?
Was, wenn eine Granate Opa Slavkos Grab trifft?
Warum steht Tante Taifun nicht auf, rennt los und entwaffnet alle, bevor sie nachladen können?
Wird das Hochhaus auf uns stürzen, wenn eine Enge, Polierte es trifft?
Ist bei den Fischen jetzt alles wie immer?
Was braucht man jetzt?
Wozu das Taschenmesser?
Wozu die fünfzig Mark und was genau bedeutet: falls wir getrennt werden?
Mein Gott, was ist hier los?
Wann ist das vorbei?
Wo ist eigentlich Nena Fatima?
Meine Mutter! schreit meine Mutter und stürmt aus dem Keller. Vater holt sie auf halber Treppe ein, ob sie denn übergeschnappt sei, meine Mutter, Mann! warte! ich habe meine Mutter vergessen! ob sie denn taub sei, lass mich! ob sie denn nicht höre, was draußen los ist, eben darum, lass mich!
Vater lässt aber nicht los, hat sie mit einem Arm umfasst.
Ich muss zu ihr, sagt Mutter etwas ruhiger und versucht, sich aus seinem Griff herauszuwinden. Vater packt sie an der Schulter, will sie hinunterschieben, ein stummes Gezerre, Mutter stöhnt.
Meine Eltern sind mir peinlich. Es ist mir unangenehm, dass sie Nena vergessen haben und dass sie von allen angestarrt werden. Ich sitze da, frage mich mit Onkel Boras Stimme: mein Gott, was ist hier los? Es ist Granatenzeit, und meine Eltern sehen aus, als würden sie sich prügeln. Mutter wehrt sich nicht mehr so heftig, ich habe sie vergessen, sagt sie, meine eigene Mutter, klagt sie und drückt die Handballen an die Augen. Milica tröstet sie, wird schon nichts sein, er ist ja gleich bei ihr. Mit» er «ist mein Vater gemeint. Niemand hält ihn auf halber Treppe auf.
Mein Gott, was ist hier los?
Mein Gott, was ist hier los?
Mein Gott, was ist hier los?
Čika Aziz, den wir wegen seiner großen Zehen Kartoffel-Aziz nennen, hat sich erst ein weißes Tuch als Stirnband umgebunden, dann seinen C-64 im Keller angeschlossen und hält jetzt eine Rede. Das Gewehr in der Armbeuge, den Lauf zur Decke gerichtet, in der Hemdtasche eine Sonnenbrille, Zahnstocher im Mundwinkel: alle herkommen!
Alle kommen hin. Wenn ich so alt bin wie Aziz, habe auch ich Koteletten und bin Chefgenosse der Gewehrcowboys. Ich werde beachtenswert viele Zahnstocher verbrauchen und» alle herkommen «deutlich aussprechen.
Aziz, bei deiner Mutter, sag mal, was ist hier los? fragt Čika Milomir aus dem ersten Stock. Milomir raucht auch im Schlaf, so sehr riecht er nach Zigaretten. Aziz sieht über ihn hinweg, über uns alle sieht er hinweg, und schnallt den Gürtel ein Loch enger. Mit seiner Khaki-Hose und dem offenen Hemd über einem weißen Unterhemd ist Aziz ein provisorischer Soldat, aber auch der einzige mit einer richtigen Waffe weit und breit, nicht einmal Walross hat seine Flinte dabei. Aziz wohnt im dritten Stock und hat die unglaublichsten Spiele auf seinem C-64. Zur Luft über unseren Köpfen sagt er: und jetzt alle wegtreten. Die aber, die sich dem Aggressor entgegenstellen wollen, um dieses Objekt und die darin befindlichen Personen zu verteidigen, kommen mit mir.
Wer ist der Aggressor?
Warum ist er aggressorisch?
Wie viele Enge, Polierte hält ein Staudamm aus?
Kann Aziz uns retten?
Was ist schlimmer: wenn dich eine Kugel trifft und zwischen den Rippen hinten wieder rauskommt, oder wenn dich eine Kugel trifft und drinbleibt, zum Beispiel im Hals, oder wenn dreißig Enge, Polierte den Staudamm treffen und die Flut kommt?
Wird Višegrad aussehen wie dieses Dorf unter Francescos Lago di Vajont?
Welche Technik braucht man, um einen Zahnstocher so schnell aus einem Mundwinkel in den anderen zu schieben?
Nena Fatima sät Sonnenblumen in ihrem Garten. Nena Fatima ist taub wie eine Kanone und hört die Kanonen nicht, die Granaten über unsere Stadt säen. Ich nehme meiner Nena die Taubheit nicht ab. Sie sieht mich immer an, als würde sie jedes Wort verstehen und auf jede Frage die klügste Antwort wissen, und einmal ist sie nach der vierten Lottozahl aus der Küche ins Wohnzimmer gerannt und hatte alle vier richtig. Von der Küche aus kann man den Fernseher nicht sehen.
Dann aber schlägt eine Granate in den Berg über Nenas Häuschen ein, und alles, was sie macht, ist — weitermachen: die Erde mit einer Hacke auflockern und Sonnenblumensamen ausschütten. Gewehrfeuer, Flammen, Sirenen, und Nena Fatima schließt den Schlauch an den Hahn hinter dem Haus und wässert den Boden.
Meine Nena ist an dem Tag taub geworden, als Opa Rafik mit dem Gesicht die Drina geheiratet hat. Diese Heirat ging in Ordnung, weil Nena und Opa Rafik seit Jahren geschieden waren, eine Seltenheit in unserer Stadt. Nachdem Opa Rafik beigesetzt wurde, soll sie an seinem Grab gesagt haben: ich habe nichts gekocht, nichts mitgebracht und nichts Schwarzes angezogen, aber zu verzeihen habe ich ein Buch voll. Sie soll eine Menge Zettel ausgepackt und angefangen haben, daraus vorzulesen. Einen Tag und eine Nacht soll sie dagestanden und Wort für Wort, Satz für Satz, Seite für Seite — verziehen haben. Danach sprach sie nichts mehr und reagierte nie wieder auf irgendeine Frage.
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