Nena Fatima hat die genauen Augen eines Falken, kju, ket-ket, sie erkennt mich, bevor ich in ihre Straße einbiege, und trägt Kopftücher. Nenas Haar ist Geheimsache — lang und rot und schön verrät sie es mir, wenn wir im Sommer vor ihrem Häuschen Börek essen und die Drina mit Hackfleisch füttern. Kalter Joghurt, gesalzene Zwiebeln, warme Geräuschlosigkeit von Nenas Schaukeln im Schneidersitz. Der Teig glänzt vor nützlichem Fett. Nena wiegt sich hin und her und zündet sich eine Zigarette an, wenn ich satt bin. Ich bin der leiseste Enkel der Welt, um ihre Stille und unseren Sonnenuntergang nicht zu zerstreuen. Die Schwüle sammelt sich über dem Fluss und sieht aufmerksam Nena Fatima zu, die sich summend die Geheimsache zu einem langen Zopf flechtet. Mit niemandem lache ich mich so leise kaputt wie mit meiner Nena, niemandem sonst kämme ich das Haar.
Nena Fatima kommt in Begleitung meines Vaters in den Keller. Sie bleibt auf der untersten Treppenstufe stehen wie Aziz bei seiner Rede. Sie rückt das Kopftuch gerade und hinterlässt dabei einen Streifen Erde auf der Stirn. Sie war im Garten, sagt Vater. Mutter umarmt Nena Fatima, als sei Nena die Tochter, die sich verlaufen hat, wütend und froh. Nena gestikuliert mit dem Daumen zum Mund: ich habe Durst. Ich schreibe» Fatima «auf einen Becher. Alle Becher bekommen unsere Namen. Einen habe ich» Slavko «genannt, einen anderen» Johann Sebastian«, einen dritten» Herpes «und einen vierten» Jürgen, der Motorradfahrer«. Milica fand das unglaublich komisch und beschriftete ihren mit» Marienkäfer«. Nena trinkt aus. Mit dem Wasser aus dem zweiten Becher wäscht sie sich die Hände. Alle sehen sie an. Sie öffnet den Mund, einatmend, als möchte sie sich erklären. Aber sie gähnt bloß, schmatzt genüsslich, und küsst Ema auf die Stirn.
Ema ist eine Kussablage.
Nena, flüstere ich, sei froh!
Wenn man den ganzen Tag den Krach hört und dann der Krach ausgeht, fragt man sich: wo ist der Krach hin? Kommt er näher, um besser zu treffen? Ist die Munition aus? Arbeiten Soldaten nicht in Schichten? Oder ist alles vorbei? Trotz dieser nächtlichen Ruhe muss ich auf dem Boden schlafen, Regel Nummer eins: weg von den Fenstern, sagt meine Mutter. Ich schlafe unter dem Couchtisch, Mutter hat an der Unterseite ein Kissen über meinem Kopf geklebt, damit ich mich nicht stoße, falls ich hochschrecke. Sie deckt mich zu.
Ein Hochhaus, und alle schlafen auf dem Boden, weil man auf einem Bett dem Fenster näher wäre. Alle sehen vom Boden aus fern, es kommen nur Nachrichten und Pressekonferenzen und Bilder von Menschen in langen Kolonnen. Ich lerne, was» organisierter Widerstand «bedeutet, wer die Territoriale Verteidigung ist und wozu Barrikaden dienen.
Ich schließe die Augen und höre Opa Slavkos Stimme. Im Wohnzimmer und im Kissen über meinem Kopf und draußen vor dem Fenster. Ich konzentriere mich so sehr darauf, herauszufinden, woher die Stimme kommt, dass ich kein Wort verstehe. Zum ersten Mal, seit er tot ist, lebt Opa wieder, und ich verpasse es. An Einschlafen ist nicht mehr zu denken, ich hole mir aus der Küche einen Zahnstocher und breche Regel Nummer eins: Jemand mit einem Kühlschrank auf dem Rücken überquert die Kreuzung vor dem Gebäude. Es ist Radovan Bunda aus dem fünften Stock, er setzt den Kühlschrank nicht ein einziges Mal ab und verschwindet, die Straße hinauf in die Dunkelheit. Ich lege mich wieder unter den Tisch, warte, dass Opas Stimme wieder kommt. Um Mitternacht kann ich den Zahnstocher schon sehr schnell aus einem Mundwinkel in den anderen schieben. Am nächsten Morgen weckt mich mein Vater.
Hier, Aleksandar, Onkel hat dir die Mauer dagelassen.
Wo ist er hin?
Ja.
Onkel Bora, Tante Taifun und Ema sind über Nacht aus der Stadt geflohen. Niemand hielt das für klug, niemand hielt das für nicht klug, niemand hielt sie auf.
Wäre ich Fähigkeitenzauberer, würden wir alle so schnell sein wie Tante Taifun, damit wir jeder Kugel ausweichen können. Außerdem würden die Wolken wie Spinnennetze kleben, damit die Granaten an ihnen haften bleiben. Die Feuer hätten eine Meinung, damit sie entscheiden können, ob.
Ich male ein Lagerfeuer ohne Rauch. Ich male einen Eintopf ohne Bohnen. Ich male ein Snipergewehr ohne Sniper. Ich male ein Blatt Papier ohne Knick.
Meine Mutter möchte heute dringend keine Familienmitglieder vergessen, nach der zweiten Detonation zerrt sie mich weg von der Tür, an der ich Vater und Herrn Musikprofessor Popović lausche. Er ist jetzt vielleicht da oben, sagt Vater zu Herrn Popović, und was macht er, wenn man ihm befiehlt: Miki, schieß! Was macht er dann?
Er wird sich weigern, antwortet der alte vornehme Herr, Miki ist ein guter Junge. Er wird sich längst in Sicherheit gebracht haben. Ein kluger Junge.
Das Licht im Treppenhaus flackert, als es das dritte Mal kracht, eine nahe Enge, Polierte. Durch die Flure laufen Menschen in Pyjamas in den Keller. Teta Magda rettet den Kaffee auf einem großen Tablett. Sie flucht heftig und tritt mehrmals mit der Schuhspitze gegen die Tür von Teta Amelas Wohnung, Amela-a, nimm Zucker mit, soll Gott dir geben, dass dir Glück begegnet! Amela-a!
Aziz winkt uns wie ein Verkehrspolizist durch, ich bleibe stehen und frage: Čika Aziz, ist das nicht ein bisschen gefährlich, mit dem Zahnstocher im Mund zu schlafen? Dabei schiebe ich meinen Zahnstocher von links nach rechts.
Rasiert sieht Aziz unsoldatiger aus.
Im Keller an den Sperrholzplattentischen: Fremde. Sie fragen nicht, ob sie bleiben dürfen, was gut ist, weil ich das selbstverständlich finde. Milica kümmert sich um sie, redet mit jedem, zieht ihre roten Stöckelschuhe aus, hilft barfuß, das Gepäck zu sortieren.
Zoran sagt: kommt mal mit, nein, Marija, du darfst nicht.
Mit vereinten Kräften lässt sich das Lüftungsgitter hochstemmen und zur Seite schieben. Habt ihr Angst? fragt Zoran. Wer würde das jetzt zugeben, und schon sind wir draußen, durchqueren den Hof. Wir bleiben vor dem Kiosk auf der Tito-Straße stehen. Niemand ist zu sehen. In der Ferne — Explosionen.
Nicht schlecht, sagt Zoran und zeigt uns auf Seite vier die blonde Frau im tarngrünen Höschen und sonst nichts. Den Stein, mit dem er die Trafikscheibe eingeschlagen hat, steckt er in die Hosentasche. Wehe euch, Trafiken, wenn ein Walross in der Nähe ist!
Edin liest die Titelseite der Zeitung von gestern. Kein Krieg, sagt er, nur Barrikaden und Sport. Eine Zeitmaschine müsste man haben, es blitzt, und wir fahren zurück zur letzten Woche und warnen alle. Und keiner glaubt uns, weil wir nicht mal wissen, wofür die Barrikaden da sind.
Doch, ich weiß es, sage ich, aber bevor ich es erklären kann, pfeift es schrill über uns, blitzt es wirklich, Glas birst, ein Stoß in den Rücken, der mich zu Boden drückt. Ich berge mein Gesicht in den Händen, Scherben rieseln auf mich nieder, ein gläserner Hagel, jemand schreit.
Aus dem Asphalt steigt Rauch auf. Zoran und Nešo liegen ausgestreckt auf der Straße. Edin steht immer noch da mit der Zeitung in den zitternden Händen. So blass ist Edin, so blass ist er, und aus seiner Nase rinnt Blut, dass ich glaube, sein ganzes Blut aus dem Gesicht kommt jetzt durch die Nase heraus. Ich versuche, aufzustehen, mein Rücken fühlt sich kalt an, ich habe etwas im Auge.
Fick doch die Matrosin, faucht Zoran und schiebt hektisch das Heft mit den ungewöhnlichen Frauenberufen unter sein Hemd. Nešo richtet sich langsam auf, er blutet aus der Hand und zählt die Finger nach. Am Haus gegenüber hat es alle Fenster erwischt, auch das große Schaufenster am Schuhladen im Erdgeschoss. Edin sagt: ich höre alles und nichts auf einmal. Er leckt mit der Zunge das Blut von der Oberlippe. Das Trafikfenster hinter ihm ist durchlöchert, faserige Risse haben sich ins Glas gesaugt.
Ich komme auf die Knie hoch, Zoran reicht mir die Hand.
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