Milicas Vater hat nicht gelacht. Er hat sein Unterhemd ausgezogen und uns Sauerkrautsaft nachgeschenkt, als draußen die ersten Schüsse fielen. Wir reden doch nur darüber, was soll das denn jetzt? hat er gerufen. Milica hat ihren Vater an die eine Hand genommen, mich an die andere. Papa, du gehst. Milenko, du fährst ihn. Ich bleibe, sonst nehmen sie uns das Haus auseinander.
Du kommst mit!
Ich lasse das Haus nicht allein!
Ich lasse dich nicht allein!
Beweis es mir und komm gleich zurück!
Und wie sie da stand, meine Milica, Frau und Kommandant, da habe ich ihr all meine Liebe geschworen. Milenko, jetzt ist nicht die Zeit dafür, hat sie gesagt. Ihr Vater hat sich gewehrt, aber wir zogen ihm das Unterhemd wieder an. Bis Zagreb — keine Kontrollen, wir hatten Glück. Ich — sofort zurück, tief in der Nacht war ich da. Die Hölle. Vom Westen her kam man noch rein, aber die Hölle! Die Laternen kaputt, die Häuser im Dunkeln oder in Flammen. Überall Leute, nicht einer glücklich. Den Bus stellte ich in einem Hof ab und dachte: das wars, Bus! Fast hätte ich das Haus nicht mehr gefunden. Im Fenster — eine Kerze. Milica ist in der Küche gesessen und hat ganz langsam eine Kartoffel geschält. Vor ihr ein uraltes Fernsehprogramm. Sie hat geweint …
Ich dachte, du wärst …, unterbrach ihn Milica.
War ich aber nicht, und Milica küsste seine Schulter.
Raus hier und ab in die Sonne: ab nach Italien. Der Bus war noch da und sogar ganz. Milica hat sich ans Steuer gesetzt, weil sie sich in der Stadt auskannte. Die Soldaten kannten sich aber auch aus, Straßensperre, aussteigen, der Bus wird militarisiert. Sag ich: das ist aber ein friedliebender Bus. Und davon habe ich das hier — Walross bückte sich, Milica strich ihm das Haar aus der Stirn. Eine Narbe zog sich an Walross’ Haaransatz entlang. Ich bin nicht ohnmächtig geworden, sagte er, darauf bin ich stolz. Wollen wir mal sehen, wer schneller ist, hat dann Milica gesagt, unser Bus oder euer Krieg. Sie hat aufs Gaspedal gedrückt und ab ging es durch die Absperrung. Ein Soldat war noch im Bus, meine Flinte auch, er hat das Gleichgewicht verloren, ich nicht, dann war kein Soldat mehr im Bus.
Und den Fuß nahm ich erst wieder auf der Piazza Verdi in Triest vom Gaspedal, sagte Milica und blieb vor einem Schaufenster stehen.
Und der Krieg? fragte ich.
Der Krieg war uns auf den Fersen, hatte aber kein Visum für Italien, sagte Walross.
Hat er ein Visum für Višegrad?
Walross blieb stehen und sah sich um. Wir waren am Platz der Befreiung angekommen. Hier hatte Meister Stankovski seinen Laden. Zoran war nicht zu sehen. Walross legte die Taschen ab und umarmte mich. Wie mutig bist du, Aleksandar? fragte er ernst.
Ich verliere leicht den Kopf, sagte ich, kann mir aber dann alles am besten merken.
Wie er redet, sagte Milica, dieses Mal sagte sie es mit fester Stimme.
Du machst das schon, Walross strich sich links und rechts über den Schnurrbart und lief auf die Kreuzung. Autos blieben stehen, niemand hupte. Er stieg auf die Motorhaube eines roten Mercedes, formte mit den Händen einen Trichter um seinen Mund und schrie: Višegrad! Ich bin zurück, und der Krieg ist mir auf den Fersen! Višegrad! rief er, Višegrad, Walross ist zurück! Zoran! rief er, dein Vater ist hier. Zoran! Der Krieg ist mir auf den Fersen, aber wir sind eine Familie, und niemand kann uns was!

Erst kamen die einen, dann kamen die anderen, die einen fragten sich, wie stehen wir eigentlich zu Synagogen, sie salzten die Gurken und frühstückten auf dem Toraschrein und versammelten sich im Schtiebel und überlegten und wussten es nicht genau, dann zogen sie weiter, und der harte Winter kam; alles gefror, mir in den Adern das Blut und im Gesicht die Tränen, denn die anderen fragten nichts, als sie kamen, sie stießen mich in den Schnee, damit sie in Ruhe arbeiten konnten, alles aus Stein, rief einer, aber die Bücher können wir; das hörten die Popen, sie gingen vor den Soldaten auf die Knie, dickbäuchige Priester mit Mädchenaugen liebkosten zärtlich die Soldatenstiefel, beteten und flehten um Gnade für das Haus und für die Bücher und für mich; aber die Soldaten hatten längere Bärte als die Popen, gut, sagte der betrunkenste Soldat, brennen wird nichts, schafft alles auf den See; die Popen sagten Dank und aus ihrer Kirche war die Orgel zu hören, der Bass verbeugte sich tief, während die Synagoge ausgeweidet wurde, alles karrten sie auf den gefrorenen See, die Torarolle, meine Tefillin, meine Kippa, den Talmud, die alten, alten Bücher, und als die Synagoge leer war wie ihre Herzen, zogen sie mich an den Beinen über Schnee und Eis und fesselten mich an den Toraschrein mitten auf dem See, bald ist Frühling, Jud, keine Sorge, lachten sie und riefen mich vom Ufer, damit ich jedes Mädchen sehen konnte, bevor sie es in die Synagoge warfen, damit ich es lebend gesehen hatte, bevor sie es tot zu mir brachten, Stunden oder Tage später; hier überwintern wir, sangen sie und schlachteten Schweine vor der Bima, stellten Wachen an den See ab, damit ich nicht entkam und damit sie gerufen wurden, wenn die Eisdecke nachgab; die Popen fütterten mich mit Brot, machten mich sauber, und Tag um Tag wurde es wärmer, der Schnee schmolz, röter war der Vollmond am Pessach nie, ich konnte die Blumen am Ufer aufstehen sehen und das dünne Eis unter den schnellen Füßen der Popen knacken hören: bevor die Heiligtümer und ich nicht versunken waren, wollten die Soldaten nicht weiter, der Krieg rannte ihnen nicht davon; die Sonne kam und ging, das Eis blieb und die Ungeduldigen drohten meinem Hals mit ihren Messern, aber sie drohten vom Ufer aus, weil sie sich nicht mehr herzukommen trauten, den Jüngsten, der sich beweisen wollte, mussten sie retten, er brach gleich am Ufer ein, und ich wusste, dieses Eis wird auch den Sommer aushalten, wenn es sein muss, es wird mich eher mein Hunger töten als der See, denn ich glaube mit meinem ganzen Glauben, dass der Schöpfer, gelobt sei sein Name, wohl all denen vergilt, die seine Gebote erfüllen, und denen übel tut, die seine Gebote brechen; ein paar Mal schossen sie auf mich und trafen den Schrein, ich schloss die Popen in meine Gebete bis zum Schluss, bis ich entkräftet einschlief, nur noch Haut und Knochen, leicht wie ein Morgenlied; die Popen weckten mich, Rabbi Avram, sie sind weg! riefen sie glücklich über das Eis, Rabbi Avram? riefen sie bang, weil ich mich nicht rührte; aber ich stand auf, die Seile längst locker, ich lief mit zittrigen Beinen über den See, meine Beine lenkte der Hunger, ich dachte nur an das Essen, an Kauen, an Schmecken, es wird sich doch auch bei den Popen auf die Schnelle etwas Koscheres finden, dachte ich, an Fressen und nicht an die Torarolle dachte ich, nicht an den Talmud, nicht an die alten, ehrwürdigen Bücher, nichts habe ich mitgenommen, mit leeren Händen ging ich über den See und hinter mir brach das Eis in meinen Fußspuren durch, als würde sich mein Gewicht verspäten; ich kehrte nicht um, und als mich die Popen ans Ufer zogen, verbanden sich die Löcher meiner Schritte zu einem einzelnen, gewaltigen Riss im Eis, es krachte ohrenbetäubend, als sich nun von allen Seiten neue Risse ins Eis keilten und in der Mitte des Sees aufeinander trafen, unter dem Toraschrein, er ist als Erster verschwunden, nur Sekunden, bevor alles andere, nichts habe ich gerettet, in die Tiefe sank: mein Name, meine Würde, mein Atem für lange Sätze, meine Selbstachtung, mein Vertrauen; eins wusste ich aber, während die Popen mir Wasser gaben, ich wusste, die ganze Welt ist nur ein sehr kurzer Steg, und keine Angst darf man haben vor der Tiefe darunter.
Was wir im Keller spielen, wie die Erbsen schmecken, warum die Stille ihre Zähne fletscht, wer richtig heißt, was eine Brücke aushält, warum Asija weint, wie Asija strahlt
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