Pionierehrenwort!
Es gibt keine Pioniere mehr, Halunke.
Man ist lebenslänglich Pionier!
Walross nickte zufrieden. Ja, jetzt bin wohl ich der Bus, habe ich zu den Passagieren gesagt, und jeder kanns haben, wie er will. Ich bring euch vor die Haustür oder wohin auch immer, ihr habt dafür bezahlt. Wer nicht mit einem solchen Kopfweh und einer solchen Flinte mitfahren möchte, den lasse ich gleich raus, bin auch nicht sauer. Da waren also diese Gesichter, Männer und Frauen, sie haben mich angeguckt, alle ein bisschen besorgt und alle schwarzhaarig; alle — nur meine Milica rothaarig, sie saß auf dem Fünfer hinten und malte sich den Mund an. Aah! Da war mir sofort klar, dass ich das nicht ganz ernst gemeint haben konnte, dass ich jeden rauslasse. Weil so eine — entkommt mir nicht.
Milica lächelte und senkte die Augen. Walross legte die Taschen ab, schloss ihre Taille in seine große Basketballhand und zog Kreise über den rotschwarzen Stoff ihrer Bluse.
Drei Leute sind sofort ausgestiegen, hob Walross drei Finger, ein vierter — Walross zückte den kleinen Finger — ist aufgestanden. Ein winziger, alter Mann mit einem viel zu großen Hut, Schläfenlocken und schäbigem Frack. So winzig, ich habe ihn hinter dem Sitz gar nicht gesehen. Alles an ihm war entweder klein und kurz oder groß und lang. Er musste auf die Lehne klettern, um seine Tasche von der Ablage holen zu können. Ein ganz, ganz, ganz kleiner Nörgler war das, dem hast du die Ehrlichkeit und die Trauer an den Lippen angesehen! Noch auf der Lehne hat er sich eine kleine Brille vor die Riesenaugen geschoben und eine Rede gehalten in seiner Dreipunktsprache: dass es bei uns immer so mit Fäusten … dass wir immer … es zerreißt mir … es zerreißt mich … Waffen … prügeln … sogar mit Worten … prügeln … schelten … fauchen … fluchen … wie damals … immer schon … und das ist nur … ihr werdet noch sehen … das ist erst … ein Land der Schläger … nie ruht es … nie ruht es sich aus …
Aleksandar, so einen langen Bart hast du nicht gesehen wie den Bart, in den der Dreipunktemann genörgelt hat! Er hat ihn sich an seiner Fliege vorbeigekämmt, zwei lange Wasserfälle Bart. So stand er dann vor mir, ich kann alles wiederholen, was er gesagt hat: sinnlos … sinnlos … müssen wir uns immer so … könnte viel leichter sein … wie damals … Stiefel auf Eis … der See zugefroren … solch eine Kälte … auch den kleinsten Nagel haben sie … genau fünfzig Jahre ist es her … man gab mir zu essen … ich wollte zu Gott … so ein Hunger … die Popen, die guten Popen … Glaube oder Essen … Jungchen, Jungchen … von Kälte kannst du erblinden … nichts habe ich gerettet … nichts … so sind die Kriege … so war der damals … nichts habe ich gerettet … die einsamsten Menschen lieben nur sich selbst …
Genau das hat der Dreipunktemann gesagt, man kann es gar nicht vergessen. Dann hat er sich in der ersten Reihe hingelegt und weiter in seinen Bart gemurmelt. So einen langen Bart hast du nicht gesehen, hast du nicht.
Hast du nicht, sagte Milica.
Hast du nicht, sagte ich und nach einer Pause, leise, auf den Marienkäfer schielend, und warum hast du die mitgebracht?
Ich bin nicht mitgebracht worden! empörte sich Milica, ich bin hergefahren, weil ich es so wollte. Männer mit einer Meinung, großen Händen, Kopfweh, einer Flinte und so einem — sie sah an Walross herunter — Arsch in der Hose imponieren mir. Ups! Darfst du schon solche Wörter benutzen?
Imponieren? Ich bin Jugoslawe!
Walross lachte und Milica lachte. Sie war anders als die Frauen in Višegrad. Immer suchte sie mit den Augen die Umgebung ab, als würde sie jemanden erwarten, auch wenn sie sich unterhielt, sogar wenn sie lachte. Nur auf ihren Walross konzentrierte sie sich ganz. Sie wird es bei uns schwer haben.
«Das Kapital«, sagte Walross, habe ich mir nicht wieder besorgt, meine alte Ausgabe habe ich nachts gelesen, wenn ich nicht schlafen konnte, und ich schwöre, ich habe kein Wort verstanden. Meine Milica habe ich bestens verstanden. Sie und der Dreipunktemann waren die letzten Passagiere, nachdem ich alle anderen nach Hause gebracht hatte. Der Dreipunktemann erzählte uns, dass man sein Zuhause und seine Synagoge und seine Erinnerung daran, wie man Sätze beendet, geplündert hat. Nur den Hut, den Koffer, den Bart und die Fliege habe er noch. Tarirara könnt ihr mich … das ist mein … ich heiße … Tarirara war aber nicht sein echter Name, den echten hat man ihm auch genommen. Tarirara war sein Lied. Gedankenverloren kratzte er mit dem Nagel am Gummi unter dem Fenster, tarirara, tarirara …, hat er gesungen. Zwei Monate ist er mit uns gefahren. Ich ließ ihn ans Lenkrad, um meine Milica auf der letzten Sitzreihe besser kennen zu lernen.
Einmal, nachts, irgendwo im slowenischen Hochgebirge, ich lerne gerade Milicas Hals besser kennen, da knallt es! Der Bus bricht links durch die Leitplanke, kracht bergab durch Dickicht, dass es dir die Knochen neu sortiert, schlägt unten auf, ich kann Milica gerade noch festhalten.
Nicht schlecht …, ruft vorne der Dreipunktemann und winkt einer Radkappe zum Abschied. Um uns eine riesige, leere Fläche und Wind. Der Dreipunktemann macht ein paar Schritte und rutscht fast aus. Sagt er: das … das … nichts konnte ich retten, so viele Jahre sind … aber jetzt …
Aleksandar! Wir stehen auf Eis! Der Bus steht auf Eis! Auf einem zugefrorenen See! Wohin das Auge sieht: nichts, aber das dunkelblau! Meine Milica und ich tanzen Polka auf dem Eis! Im Scheinwerferlicht lerne ich ihre eisblauen Augen kennen. Der Dreipunktemann holt aus seinem Köfferchen ein Paar Schlittschuhe und erzählt uns seine Geschichte. Er kennt keine Pausen mehr, er ist geheilt von den drei Punkten!
Kufen auf Eis, nachts, sagte Milica, der Dreipunktemann fährt in die Dunkelheit, tarirara, tarirara …
Ich habe das Licht ausgeschaltet, und Milica und ich haben uns endgültig kennen gelernt. Am nächsten Morgen sind wir über den See gefahren, der gute Bus drehte einige Pirouetten, so glücklich wie wir und der Bus war niemand auf der Welt. Bis wir im Radio von Kroatien gehört haben. Nach Osijek, hat Milica sofort gerufen, mein Vater!
Kennst du Osijek, Halunke?
Ich kannte Osijek.
Merk dir Osijek gut!
Ich kannte Osijek aus dem Fernsehen. Osijek brannte, und es gab etwas Unfassbares zu sehen, unter Decken oder Laken lag es immer wieder auf der Straße, in den Höfen. Stiefel. Unterarme. Opa Slavko war nicht da, um zu bestätigen, dass das, was ich sah, das war, was ich befürchtete. Meine Eltern sagten, es sei weit weg.
In Osijek habe ich Milicas Vater links und rechts geküsst und war sofort ehrlich mit ihm. Milica, habe ich gesagt, Milica und keine andere!
Mach ihr bloß das Leben nicht schwer, hat er gesagt, und mir seine Uhr, seinen Tisch und seine Karamellbonbons geschenkt. Dann philosophierten wir ein bisschen. Weibsbilder, Ehe, Trafikanten, Holzhacken, Leben, Gewicht des Lebens. Das philosophierte ich. Er philosophierte: am meisten wog das Leben im Sommer dreiundvierzig. Auf der Flucht vor den Italienern. Nichts gegessen tagelang. Nichts getrunken. Der Himmel — blaue Lava. Zündet dir das Haar aufm Kopf. Ein Hof. Niemand da. Ein Schuppen. Niemand da. Aber Schinken über Schinken. In Pökellake. Geräuchert. Von der Stange weg aßen wir den. Leckten das Salz ab. Und vergaßen das Wasser. Niemand hatte Wasser. Zu viel Salz, zu viel Sonne. Und im Dorf sonnten sich die Italiener um den Brunnen. Dreimal so viele. Da war das Leben schwer. Niedergemäht haben wir sie. Ordnung und Taktik. Jeder Schuss ein Treffer. Uns ging niemand tot. Und der Brunnen leer. Der Brunnen leer. Da war das Leben schwer.
Ich erzählte ihm einen Witz: Die Italiener und die Partisanen kämpfen Tag und Nacht in einem Wald, da kommt der Förster und schmeißt sie beide raus.
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