Vorsichtig setzte Walross Milicas Gepäck ab, die eigene Sporttasche pfefferte er auf den Bürgersteig, dass Staub aufstob. Den Schlüssel reichte er Armin, als hätte der Geburtstag, und Armin blieb nichts übrig, als sich zu bedanken und endlich von dem Reifen abzulassen. Walross’ Neue warf den Schal um ihren schlanken Hals, und ein so winziges Täschchen wie ihres hatte ich noch nie gesehen, der Lippenstift passt hinein, aber dann wird es eng für die Kopfschmerztablette.
Wo ist eigentlich der Fahrer? fragte ich Walross, nachdem er die Umstehenden mit Handschlag begrüßt hatte, wie es Präsidenten auf den Flughäfen tun, die Hand der Gastgeber mit beiden Händen fassend.
Der Fahrer sammelt Pilze auf dem Romanija, antwortete Walross und boxte mir auf den Oberarm, was mir gefiel. Und wo ist mein Sohn, Halunke?
Der sammelt Haare bei Meister Stankovski, antwortete ich und tänzelte vor Walross wie Mohammed Ali, ich komme gerade von dort. Er trägt deine Jacke, immer.
Soso, die Jacke, nickte Walross und seine Handfläche kassierte eine rechte Gerade und einen Uppercut. Dann wird er das alte Ding heute das letzte Mal getragen haben, in Triest trägt man keine Jeansjacken, und ich habe alles neu für ihn.
Milica schob sich die Sonnenbrille aus dem Haar ins Gesicht und ließ, stirnrunzelnd, den Blick über die kleine Busstation schweifen. Das Gebüsch am Rand, so blassgrün, konnte jemandem so Gepunkteten nicht gefallen. Wahrscheinlich auch die Ölflecken auf dem Asphalt nicht oder das dösende Hunderudel oder die Löcher im rostigen Zaun oder der Reifenliebhaber Armin, der sich unter dem Hemd am Bauch kratzte. Ihre Inspektion beendete Milica über die Sonnenbrille hinweg — bei mir. Was war nicht in Ordnung? Ich hatte große Ohren, das fanden aber Frauen im heiratsfähigen Alter normalerweise sympathisch. Ich hatte einen schiefen Haarschnitt, aber dafür konnte ich nichts und Meister Stankovski so einiges. Milica schob langsam die Lippen auseinander, zeigte Zähne, sie besaß circa vierzig mehr als normale Menschen, und auf einem ihrer zwölf Schneidezähne funkelte ein Diamant. Die Zähne könnten eine Art Lachen sein, dachte ich, und wirklich: etwas gefiel ihr an mir! Begeistert schlug sie die Hände vor die Brust, ihre Enttäuschung über die schäbige Busstation war verflogen. Sie kniff mir mit beiden Händen in die Wangen und in die Nase mit einem unglaublich süßen Duft. Aber wenn es etwas gibt, rief ich und wischte mir mit den Ärmeln über die Wangen, das ichpersönlich erschütternd finde, dann sind das Finger in meinem Gesicht!
«Ichpersönlich «sagte meine Mutter, wenn sie anderer Meinung sein wollte und» erschütternd«, wenn sie mal wieder sehr besorgt war.
Wie er redet! jauchzte Milica und klatschte in die Hände. Ihre Stimme klang wie die letzte Klaviertaste rechts. Wie drollig er den Mund auf- und zumacht! Sie trat einen Schritt von mir zurück, als würde sie ein Bild in einer Galerie bewundern. Walross freute sich, weil seine Milica sich freute, er wollte sie umarmen, aber er war inzwischen mit Koffern und Taschen und Tüten so sehr behangen, dass er sich nicht wirklich gut bewegen konnte.
Wie alt bist du, Liebling? Milica kam wieder einen Schritt näher, ich zog mich drei Schritte zurück.
Man munkelt Verschiedenes, zwischen acht und vierzehn, je nach Bedarf, aber auf jeden Fall zu alt, um gekniffen zu werden, murmelte ich und folgte Walross, um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen. Der hatte sich schweren Schrittes in Richtung Zentrum aufgemacht. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Armin den Bus rückwärts herausfuhr, das konnte er nicht haben, dass einer seiner Busse mit dem vorderen Rechten aufsaß. Den Marienkäfer behielt ich im Auge. Wer weiß, wozu jemand noch fähig war, der Strümpfe trug, die wie ein Spinnennetz aussahen.
Čika Milenko, wo warst du eigentlich die ganze Zeit?
Auf der Reise — kreuz und quer durchs Land. Durch das flache Pannonien, über die Dinariden, an die Küste, bis nach Italien. Keine schlechte Reise. Weil ich kaum Geld hatte, gab ich mich mit fünf Sätzen Französisch aus der Marseillaise und dem Rezept für Lammkeule Bretagner Art als Jacques aus und stellte meine Milica jedem als Mademoiselle Bretagne vor. Franzosen machen unsereinen glücklich, weil sie wie wir zu lieben wissen, weil sie das Akkordeon genauso gut beherrschen und weil sie aus ihrem Unvermögen, ehrliches Brot zu backen eine Kunst gemacht haben! Als Jacques und Bretagne bekamen wir immer zu essen und ein Bett zum Schlafen und um uns besser kennen zu lernen. Überall erklärte man uns, warum Jugoslawien so ein feines Land gewesen sei, das hörte sich an, als würde man über einen Toten sprechen. Unsere Maskerade ging so lange gut, bis wir auf einen echten Franzosen stießen. Mit dem betranken wir uns dann mit französischem Rosé, bis er zugab, doch nur Mazedonisch mit französischem Akzent gesprochen zu haben, und dass der Wein ein Landwein aus der Gegend sei, mit Schnaps gestreckt. Da hatte der auch schon zu viel von seinem Landwein und weinte in Milicas Schoß, so viele Jahre für ein Motorrad habe er gespart, um die schönste Frau im Dorf zu beeindrucken, die schönste Frau habe aber irgendwann einen geheiratet, der nicht mal ein Fahrrad besaß.
Auf dem Weg durch Višegrad am 2. April 1992 sagte Walross: es wäre gut, wenn alle das Unterwegssein trainiert hätten wie ich. Alle werden bald lange Reisen machen müssen. Ich bleibe, komme, was wolle.
Auf dem Weg an der Feuerwache vorbei, wurde Walross ernst und sagte: hier werden Milica und ich glücklich.
Auf dem Weg blieb Walross an der Moschee stehen und trank Wasser aus dem Hahn in der Mauer.
Auf dem Weg, der gar nicht lang genug war, dass er mir das alles hätte erzählen können, was er mir erzählte, war Milenko um jeden Spaziergänger froh, der ihn erkannte und grüßend stehen blieb, weil er dann die schweren Taschen absetzen konnte. Viele grüßten herzlich, herzlich auch deswegen, weil sie froh waren, dass da wieder einer mehr in der Stadt war, die täglich kleiner wurde.
Musa, sagte Walross zu Musa Hasanagić, der seine Karfiol an den Zügeln führte, Musa, Bruder, halten wir zusammen?
Immer, sagte Musa und Karfiol nickte, wie es Pferde tun.
Auf dem Weg zu seinem Sohn, den er viel zu lange nicht gesehen hatte, und auf dem Weg zum Satz: ich bin zurück, und der Krieg ist mir auf den Fersen, erzählte Walross von seiner Reise, der letzten, so sagte er, die man für lange Zeit so voller Sorgen und doch so sorglos gemacht haben wird in diesem Land:
Wohin schlechter Musikgeschmack führt, was der Dreipunktemann anprangert und wie schnell ein Krieg ist, wenn er einmal Anlauf genommen hat
Meine Karre ist gleich auf dem Romanija stehen geblieben. Nicht zu fassen! Genau da, wo ich mit meinem Zoran einmal Pinkelpause gemacht habe, will der Motor nicht mehr. Nebel wie Zement, nach wie vor. Ich — zu Fuß weiter, dann kam der Bus. Der Fahrer hat Musik aufgedreht. Mein Kopf hat Schmerzen aufgedreht. Sag ich zu ihm: du bist nicht allein hier. Er lacht mich aus: bin ich nicht, aber ich fahre dich und solange ich dich fahre, gehört mir die Lautstärke und dir der Sitz. Da hat er Recht. Das geb ich zu. Da streit ich mich nicht. Aber die Musik wird nicht nur nicht leiser, sie wird auch noch schlechter. Sie wird widerlich. Der hat eine Kassette reingetan und singt von den scharfen Schwertern an der blutigen Drina. Ich noch mal vor: gut, die Lautstärke und das Radio und das Lenkrad und die Geschwindigkeit und deine Nasenhaare gehören dir, aber das hier, das sind meine Ohren. Und das, womit meine Ohren und meine Drina sich abgeben müssen, damit bin ich nicht zufrieden und ganz und gar nicht einverstanden. Und weil du mitsingst — da habe ich ihm gegen die Schulter getippt —, bin ich auch mit dir nicht zufrieden und ganz und gar nicht einverstanden. Als Fahrer nicht und als Mensch, der so einen Schwachsinn auswendig kann, auch nicht. Abschalten oder ich schieß dir die Eier weg! Der dreht aber bis zum Anschlag auf. In die Schlacht, alle Helden! hat er mich angebrüllt, dass ich dachte, gleich fliegen wir von der Straße und das Letzte, was ich im Leben gehört habe, ist großserbisches Eselsgeschrei. Weil singen konnte der nicht, sonst wäre er auch kein Busfahrer geworden. Ich habe Kopfweh und mein Leben ist gerade nicht das einfachste Leben, habe ich dem Esel ins Ohr geflüstert. Und dass ich zwar Serbe bin, mich aber schäme, wenn ich so einen Müll höre. Es gibt nichts Gefährlicheres als einen betrogenen Mann mit Kopfweh, der sich schämt und in seiner Tasche unter den Unterhemden eine geladene Flinte hat. Aleksandar, versprich mir, du drückst nie einem Busfahrer eine Flinte unters Auge, wirfst ihn aus seinem Bus, trittst ihn zusammen und erschießt seine Kassette!
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