Die Stille fletscht die Zähne, flüsterte Walross. Sonst sagte er» fletschen «zur Aprilsonne, wenn sie strahlt, ohne zu wärmen. Sogar die Rufe der Mütter klangen wie geflüstert: Abendessen! Die Großväter drängten ihre Köpfe dicht über ein kleines Transistorradio zusammen. Ich wünschte mir Opa Slavko hinzu. Was würde er sagen, jetzt, da alles zu unaussprechlicher Stille geworden war? Lange schon kam auch keine Musik mehr, immer redeten sie im Radio nur. Heiser sprach jetzt jemand davon, dass sich unsere Truppen von ihren Stellungen zurückzogen, um sich neu zu formieren. Schweigend stützten Großväter Ellenbogen auf Knie und Köpfe auf Hände, oder standen auf und stützten sich kopfschüttelnd auf ihre Stöcke. Alle fieberten mit unseren Truppen und den Stellungen unserer Truppen, obwohl niemand genau wusste, wer das war, diese unsere Truppen, und was das für wichtige Stellungen waren, die aufgegeben werden mussten. Erst als die heisere Radiostimme den Namen einer Stadt sagte, die genauso hieß wie unsere Stadt, wussten alle etwas. Auch ich wusste ein wenig — die heisere Stimme sprach» Višegrad «wie etwas aus, wovor man in keinem Versteck sicher war. Dieses Wissen war es, das in der Stille seine Zähne fletschte. Ich reihte die Murmeln aus meinen Taschen von hell nach dunkel auf dem Boden aneinander und trat mit der Sohle darauf. Jede Einzelne musste knirschen.
Was wir sonst wissen sollten, das redeten uns die Mütter ein. Nur abgekochtes Wasser trinken, ab halb zehn in den Keller gehen, Čika Aziz’ C-64-Rekorde nicht überbieten. Als die heisere Radiostimme jetzt Višegrad sagte, und ich mich fragte, wie kann es sein, dass eine Stadt fällt, muss das nicht ein Beben geben? wussten selbst die Mütter nicht, was zu tun war. Sie salzten die Erbsen und rührten im Topf.
Draußen löste eine hupende Hochzeitsgesellschaft die Stille ab. Zoran, Edin und ich schlichen aus dem Keller hinaus — erst in das Treppenhaus, der vorsichtige Blick aus dem Fenster, dann in den Hof, dann auf die Straße —, niemand hielt uns auf, aber die Rufe der Mutter hörten wir bereits hinter uns. Was sollte das jetzt? Bräutigame mit Bart, oben Tarnjacke, unten Trainingshose fuhren vorbei. Geländewagen hupten, Lastwagen hupten. Eine Armee von bärtigen Bräutigamen fuhr vorbei, sie schossen den Himmel an und feierten, die Stadt zur Braut genommen zu haben. Auf den Wagendächern und den Motorhauben schaukelten Bräutigame im Takt der Straßenlöcher, die sie selbst ausgeschachtet hatten, morgens ab neun Uhr dreißig, neun Tage lang, jeden Tag. Die Hände hielten sie flach über die Augen, schielten darunter hervor, mieden die untergehende Sonne. Hinten hingen aus den Anhängern Beine in Grün und Braun, baumelten wie Zierde.
Die ersten Panzer ziepten die Straße hinauf. Ihre Ketten hinterließen weiße Ritzen im Asphalt und machten, wo sie über Bürgersteige fuhren, Beton zu Kies. Es gab kein Halten mehr: wer ölt die denn, was quietschen die so? rief ich, und schon rannten wir auf die Panzer zu — rennen, das konnten am schnellsten wir! Die Mütter griffen sich in die langen Röcke und klagten uns nach, so schnell eilten wir zu den Panzern. Ja, wer fährt die denn, wie sieht das Lenkrad aus und können wir mit? An den Gärten vorbeiklappern, an den Höfen vorbei, in denen Koffer standen und Menschen, die sie verzweifelt in Kofferräume pressten und auf Autodächer stapelten. Wie es wimmerte und trillerte unter diesen Metallfäusten — der Zeigefinger ausgestreckt! Was zerrieb die Faust, was mahlte das Metall, was presste die Faust aus, wohin zeigte der Finger? Sogar die Brücke bog sich unter den Zahnrädern, ihre Bögen werden bersten, da ist Oma Katarinas Porzellan nichts dagegen. Im kleinen Park vor der Brücke, in dem die Statue von Ivo Andrić stand, bevor sie niedergerissen wurde, hielten wir an. Wir wollten hören, wie laut es würde, wenn die Brücke brach.
Die Mütter schlossen zu uns auf, ich holte mir von meiner eine ehrlich gemeinte Ohrfeige ab. Sie wusste, dass ich den Panzern auch auf das andere Ufer gefolgt wäre. Mir dröhnte nach der Ohrfeige der Kopf, so wie von den Panzern die Ziegeldächer vibrierten. Ich hielt mir die Hand an die Wange, und hörte, wie die stählernen Hundertfüßler die Straße zu Staub raspelten.
Die Brücke hielt.
Edin am Ohr, mich am Ärmel zerrten uns die Mütter zurück in den Keller.
Asija, meine Asija, war nicht mitgelaufen. Sie saß auf der untersten Treppenstufe, da sitzt man doch, wenn man keine Munition mehr hat, Spielregel: Treppenaufgang — Waffenruhe. Ich setzte mich dazu, rieb mir die schmerzende Wange, sie rieb sich die Augen. Ich sagte: Kanonenrohr, sagte: Tarnfarben, sagte: schneller als Edin. Asija stand auf und rannte weinend die Treppe hinauf.
Vor zwei Tagen hatte Asija schon einmal geweint. Sie hatte geweint, bis sie einschlief, ihre Hand in meiner. Asijas Onkel Ibrahim hatte es getroffen, als er sich in Čika Hasans Bad rasieren wollte und den Kopf zum Spiegel neigte. In den Hals und ein bisschen in das Kinn hatte es ihn getroffen durch das kleine Fenster im Bad. Čika Hasan erzählte es den anderen, und ich hörte an der Tür mit: minutenlang hat Ibrahim nach Luft gerungen, um Luft gekämpft, als wollte er einen unendlichen Atem schöpfen, um von all den Dingen zu erzählen, die uns bevorstehen. Aber ich hatte, senkte Čika Hasan die Stimme, keine Luft für Ibrahim, und er kletterte in den Tod, ohne seine Geschichte begonnen zu haben, dabei ist sie auch ungesagt eine Legende geworden! Čika Hasan zeigte, wie er die Hände gehoben hatte, weil alle um Ibrahim bloß herumgestanden waren, und Hasan erzählte, wie er die Augen schloss, weil an Ibrahims Kopf und an den Fliesen und am Spiegel das Blut klebte. Überall Blut, sagte er — überall die Farbe von Kirschen, stellte ich mir vor, und wie sie von den Fingern troff, die in Ibrahims Hals gebohrt wurden, damit er Luft bekam.
Ich wäre Asija sofort nachgelaufen, hätten die Mütter nicht ein zweites Mal zum Abendessen gerufen und wäre nicht Glas im Treppenhaus zerbrochen und jede Stille unter Schüssen und Rufen und Flüchen verflogen. Asija weint, weil Soldatenfäuste nach Eisen riechen und niemals nach Seife. Weil den Soldaten die Gewehre um die Nacken baumeln und Türen unter ihren Tritten nachgeben, als gebe es keine Schlösser. Sie weint, denn so hatten Soldaten auch in Asijas Dorf die Türen eingeschlagen, sie weint und versteckt sich auf dem Speicher, in dem wir Mäuse jagen, in dem Staub auf den Vitrinen liegt und Fahrräder rosten. Dort werde ich meine Asija gleich finden.
Hier, im Keller, schöpfen die Mütter Erbsen für uns und die Soldaten. Der mit dem schwarzen Stirnband bricht das Brot und verteilt die Stücke — wehe mir, wenn ich das Brot mit Dreck unter den Nägeln anfassen würde.
Die heisere Radiostimme sagt: Višegrad.
Der Soldat mit dem Stirnband sagt: jaja, und steht auf.
Die Radiostimme sagt: nach erbitterten Gefechten gefallen.
Der Soldat kratzt sich unter dem Stirnband: gutgut, und nimmt Anlauf.
Die Radiostimme hebt sich: aber unsere Truppen formieren sich neu!
Der Soldat murmelt: mmh interessant, aber irgendwie … verantwortungslos. Oder wollt ihr noch mal auf die Fresse? Er tritt mit Vollspann gegen den kleinen schwarzen Kasten, und die Radiostimme sagt nichts mehr. Der Soldat wirft den Großvätern die verbogene Antenne und einen Knopf vor die Füße: was zum basteln, wer es repariert, dem kauf ichs ab. Er setzt sich wieder. Und ihr! Mehr Speck in die Erbsen! So werde ich nicht satt! Ohne Speck wäre das Leben nur noch lumpig. Du da hinten, du wirst mir Speck aufschneiden — er zeigt mit dem Löffel auf Amela aus dem zweiten Stock. Amela mit den langen schwarzen Zöpfen legt dem Soldaten ein paar Streifen rotes Fleisch über die Hand, sie will sie zudecken. Hast du dir das Kleid selbst genäht? fragt der Soldat Amela und leckt am Fleisch, sag Ja, und ich werde deine geschickten Finger küssen. Sag vielleicht nicht Nein.
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