»Schieben Sie nicht die Schuld auf Ihr Judentum. Die Wunderheilung ist ein altes jüdisches Konzept. Auch Christus gehörte zu den Essenern, das waren jüdische Heilige, die ihr Leben dem Heilen menschlicher Leiden verschrieben hatten. Und noch vor ein paar Jahren haben kranke Juden in Europa und Asien alle möglichen Reisestrapazen auf sich genommen, nur um von einem Wunderrabbi berührt zu werden, dem Heilkraft nachgerühmt wurde.« Kramer griff nach Michaels Rechter, die das Glas umfaßt hielt. Er hob sie empor und musterte sie. »Berühren Sie mich«, sagte er. Aber Michael wehrte ab. »Bei mir funktioniert das leider nicht«, sagte er. »Ich habe keinen heißen Draht zu Gott.«
Der Junge lachte und schob die Hand des Rabbi von sich, wobei etwas von dem Glasinhalt über den Rand spritzte.
»Und wie sonst können Sie mir helfen?«
»Sie müßten versuchen, keine Angst zu haben.«
»Es ist mehr als Angst. Zugegeben, ich habe Angst. Aber weit mehr ist es das Wissen um all das, was ich nie werde tun können. Ich habe noch nie eine Frau gehabt, habe noch nie eine große Reise gemacht. Ich habe der Welt noch nichts zu hinterlassen, nichts getan, was die Welt besser gemacht hätte, als sie vor meiner Zeit gewesen ist.«
Michael suchte nach einer Antwort und bedauerte, getrunken zu haben.
»Haben Sie jemals für einen Menschen Liebe empfunden?«
»Gewiß.«
»So haben Sie das Gute vermehrt in der Welt, und zwar um Unermeßliches. Und was die Abenteuer betrifft - wenn das, wovor Sie Angst haben, wahr ist, dann werden Sie bald das größte Abenteuer erleben, das dem Menschen bevorsteht.«
Dick schloß die Augen.
Michael dachte daran, daß heute sein Hochzeitstag war und daß Leslie zu Hause auf ihn wartete. Aber er konnte nicht aufstehen. Er ertappte sich beim Studium all der Gewehre in dem Waffenschrank und besonders des einen, das in der Kaminecke lehnte und dem ein fettiger Putzlappen aus der einen Mündung heraussah. Plötzlich fiel ihm die Nacht in Miami Beach wieder ein und die deutsche Armeepistole in der Hand des kleinen verzweifelten Mannes. Aber als er aufsah, begegnete er den Augen des lächelnden Dick.
»So nicht«, sagte er.
»Das glaube ich Ihnen«, sagte Michael.
»Da muß ich Ihnen etwas erzählen«, sagte Dick. »Vor zwei Jahren sollte ich hinunter ins Sumpfgebiet, mit einer Handvoll Burschen, die da unten eine Jagdhütte haben. Es war zu Beginn der Hochwildjagd. Aber mir kam eine scheußliche Erkältung dazwischen, und ich gab ihnen Bescheid, mit mir nicht zu rechnen.
Doch am Tag des Jagdbeginns litt es mich nicht länger, und ich stand zeitig auf, nahm mein Gewehr und ging in den Wald. Und nur vierhundert Meter von hier, wo wir beide jetzt sitzen, kaum drei Schritte von der Straße entfernt, sah ich ein Prachtstück von einem jungen Bock und erlegte ihn mit dem ersten Schuß.
Er lebte noch, als ich bei ihm angelangt war, und so griff ich nach dem Jagdmesser und schnitt ihm die Kehle durch. Aber das Vieh war nicht kaputtzukriegen und starrte mich an mit seinen großen braunen Augen und hielt das Maul offen und gab blökende Laute von sich wie ein altes Schaf. Schließlich setzte ich ihm die Mündung an den Kopf und drückte ab. Aber noch immer war es nicht aus, und ich wußte nicht mehr, was ich tun sollte. Ich hatte ihn aufs Blatt getroffen, ihm den Kopf durchschossen und die Gurgel durchschnitten. Ich konnte ihn doch nicht aufbrechen und abhäuten, solange noch Leben in ihm war. Und wie ich noch dasaß und überlegte, raffte er sich auf und verschwand zwischen den Bäumen. Es begann zu regnen, und ich brauchte zwei Stunden, um den Platz zu finden, wo er endlich im Unterholz zusammengebrochen war. Damals hab ich mir beinah eine Lungenentzündung geholt.
Ich habe viel über dieses zähe Vieh nachgedacht«, fügte er hinzu.
Michael wartete noch, bis die Negerin da war, die für Dicks Abendessen sorgte. Dann erst verließ er ihn, der da mit dem Hund weiter vor dem kalten Kamin saß und seinen Bourbon trank.
Die Luft draußen war schärfer als bei seinem Kommen und roch süßlicher. Langsam fuhr er nach Hause, im Fahren betend und im Beten in sich aufnehmend all die Schatten, all die wie mit dem Zeichenstift umrissenen Formen und all die Varianten und Schattierungen der herbstlichen Farben. Wieder zu Hause, schlang er die Arme um die über den Herd gebeugt stehende Leslie, umfaßte mit den Händen ihre Brüste und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar.
Sie ließ ihn eine Weile gewähren, wandte sich schließlich herum, küßte ihn, und er drehte die Gasflamme ab und zog sie zur Schlafzimmertür.
»Verrückter Kerl«, sagte sie zwischen Lachen und Ärger. »Und was soll aus dem Abendessen werden?« Aber er schob sie weiter vor sich her und auf das Bett zu.
»So laß mich doch wenigstens noch -«, sagte sie mit einem Blick auf die Schreibtischlade, wo sie das Pessar aufbewahrte.
»Nicht heute.«
Das überraschte sie so freudig, daß sie allen Widerstand aufgab.
»Jetzt wird's ein Kind«, sagte sie, und ihre Augen glänzten im Widerschein des Lichtes aus der Küche.
»Ein König der Juden«, sagte er und griff nach ihr. »Ein Salomon. Ein Saul. Ein David.«
Sie hob sich ihm entgegen und sagte etwas unter seinen Küssen.
»Nur keinen David«, sagte sie. Zumindest klang es so.
29
Die diesjährigen Ehrenmedaillen der Bruderschaft vom Tempel Sinai kamen per Post aus Atlanta. Es waren zwei hübsche Holzplaketten mit Silberauflage, und Michael wurde im Arbeitsausschuß aufgefordert, unverzüglich die Verleihungsrede auszuarbeiten.
»Mir gibt diese nationale Epidemie zu denken: überall sind wir Juden darauf aus, den gojim jüdische Auszeichnungen zu verleihen«, sagte Michael nachdenklich. »Warum bekommt kein Jude eine Auszeichnung von den gojim, oder, noch besser, warum bekommt kein Jude eine Auszeichnung von Juden?«
Die Ausschußmitglieder blickten ein wenig ratlos, bevor sie zu lachen begannen.
»Erst einmal setzen Sie diese Ansprache auf, Rabbi«, sagte Dave Schoenfeld. »W i r geben denen Schnaps und ein gutes Essen für den Bauch, Sie rühren ihnen mit Ihrer Rede das Gemüt, und ich überreiche dann die Orden für die Brust.« Und dann kam man überein, daß die Veranstaltung an einem Sonntagabend in sechs Wochen stattfinden sollte.
Zwei Tage später bekam Michael, der gerade in seinem Büro saß und an seiner Predigt für die kommende Woche herumfeilte, Besuch.
Es war Billy Joe Raye, der verlegen auf seinem Sessel herumwetzte, die Füße linkisch auf dem Boden und den Hut auf den Knien. Er strahlte. »Ich dachte, es sei reichlich an der Zeit, Ihnen einen gutnachbarlichen Besuch abzustatten, Rabbi«, sagte er. »Ich habe Ihnen auch eine Kleinigkeit mitgebracht.«
Es war das Neue Testament auf hebräisch.
»Ich habe es speziell für unsere jüdischen Freunde drucken lassen.«
»Sehr schön«, sagte Michael. »Ich danke Ihnen.«
»Neulich habe ich da einen Ihrer jungen Freunde auf der Straße getroffen, den jungen Richard - wie heißt er nur gleich?« »Kramer?«
»Genau den. Er hat mir gesagt, daß er nicht mehr zu mir kommen möchte. Sie hätten ein langes Gespräch mit ihm geführt.« »Stimmt.«
»Ein netter, sauberer Bursche. Schade um ihn.« Kopfschüttelnd blickte er vor sich hin. »Natürlich liegt mir daran, daß Sie nicht etwa glauben, ich hätte ihn zu meinen Meetings gelockt. Ich hab ihn zum erstenmal gesehen, als er zu mir ins Zelt kam.«
»Das ist mir bekannt«, sagte Michael.
»Natürlich. Der Himmel sei mein Zeuge, daß Leute wie Sie und ich gerade genug zu tun und es nicht nötig haben, einander was wegzuschnappen. Wie zwei hühnerzüchtende Nigger.« Er lachte vor sich hin, und auch Michael lächelte bedächtig, als er ihn zur Tür geleitete.
Drei volle Wochen vergingen, bevor er sich wieder überwand, an die Ehrenplaketten zu denken. Innerhalb der nächsten zehn Tage schrieb er drei Fassungen seiner Verleihungsansprache. Es ging ihm nur langsam und schwer von der Hand, und jeden dieser Entwürfe zerriß er schließlich und warf ihn weg.
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