Ной Гордон - Der Rabbi

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Der Rabbi Amerika Ende der zwanziger Jahre: Michael Kind stammt aus einer reichen jüdischen Familie und ist dazu ausersehen, eine große Karriere zu machen. Aber nach einer zufälligen Begegnung mit einem Rabbi beschließt Michael, Prediger zu werden. Als er Leslie, eine Konvertitin, die zur großen Liebe seines Lebens wird, kennenlernt, ändert sich sein Leben ein zweites Mal. Leslies Eltern sind strikt gegen die Verbindung ihrer Tochter mit Michael. Aber die beiden Liebenden nehmen den Kampf mit einer Gesellschaft auf, die sie ablehnt.
Aus dem Amerikanischen von Anna Gräfe
Titel der englischen Originalausgabe: »The Rabbi«
Der Autor:
Noah Gordon wurde 1926 in Worcester, Massachusetts, geboren.
Nachdem er die Studien der Zeitungswissenschaft und der englischen Sprache abgeschlossen hatte, wandte er sich dem Journalismus zu. Während er als wissenschaftlicher Redakteur beim Bostoner Herald beschäftigt war, veröffentlichte er eine Reihe von Artikeln und Erzählungen in führenden amerikanischen Blättern.
Sein erster Roman „
verhalf ihm zu einem spontanen Durchbruch. Auch
und
waren vor allem im deutschsprachigen Raum ein großer Erfolg.
Noah Gordon hat drei erwachsene Kinder und lebt mit seiner Frau Lorraine auf einer Farm in den Berkshire Hills im westlichen Massachusetts. Sein neuester Bestseller
heißt im englischen Original "The last Jew" und spielt im Spanien des späten fünfzehnten Jahrhunderts.

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Für meine Eltern

Rose und Robert Gordon

-und für Lorraine

Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk,

Den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:

Was ist der Mensch, daß du sein gedenkest,

Und des Menschen Kind, daß du dich sein annimmst?

Du hast ihn wenig niedriger gemacht denn Gott, Und mit Ehre und Schmuck hast du ihn gekrönt.

Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk; Allles hast du unter seine Füße getan ...

PSALM VIII

Erstes Buch. Am Anfang

Woodborough, Massachusetts, November 1964

1

Am Morgen seines fünfundvierzigsten Geburtstags, einem Wintermorgen, lag Rabbi Michael Kind allein in dem mächtigen Messingbett, in dem schon sein Großvater gelegen hatte, noch benommen vom Schlaf und unwillentlich schon das Lärmen im Ohr, das die Frau unten in der Küche verursachte.

Zum erstenmal seit Jahren hatte er von Isaac Rivkind geträumt. Als Michael noch sehr klein gewesen war, hatte der Alte ihn gelehrt, daß die Toten im Paradies es fühlen und sich freuen, wenn die Lebenden ihrer gedenken.

»Ich hab dich lieb, sejde «, sagte er.

Wäre der Küchenlärm unten nicht vorübergehend verstummt - Michael hätte nicht gemerkt, daß er laut gesprochen hatte. Mrs. Moscowitz hätte wohl nicht verstanden, daß ein Mann an der Schwelle der reiferen Jahre Trost finden könne im Gespräch mit einem, der seit nahezu dreißig Jahren tot ist.

Als er die Treppe hinunterkam und das Speisezimmer betrat, saß Rachel schon an dem altmodischen Eßtisch. Nach altem Familienbrauch hätte das Geburtstagsfrühstück durch die auf dem Tisch aufgebaute Glückwunschpost und kleine Geschenke würdig umrahmt sein sollen.

Die aber auf Einhaltung dieser Sitte gesehen hatte, war Leslie, die Frau des Rabbi, und sie fehlte hier nun schon seit drei Monaten. Der Platz neben seinem Gedeck war leer.

Rachel, das Kinn auf dem Leinentischtuch, folgte mit ihrem Blick den Zeilen des Buches, das sie gegen die Zuckerdose gelehnt hatte. Sie trug das blaue »Matrosen«. Alle Knöpfe waren säuberlich geschlossen, auch trug sie saubere weiße Halbstrümpfe, aber vor dem dichten Blondhaar hatte die Ungeduld ihrer acht Jahre wie üblich kapituliert. Nun las sie hastig und konzentriert, verschlang den Text Zeile um Zeile, in dem Be-streben, so viel als möglich davon in sich hineinzustopfen, bevor die, wie sie wußte, unvermeidliche Störung sie unterbrach. Immerhin, der Eintritt von Mrs. Moscowitz, welche den Orangensaft brachte, ließ ihr noch einige Sekunden.

»Guten Morgen, Rabbi«, sagte die Haushälterin freundlich. »Guten Morgen, Mrs. Moscowitz.« Dabei tat er, als merkte er ihr Stirnrunzeln nicht. Seit Wochen schon hatte sie ihn gebeten, sie doch Lena zu nennen. Mrs. Moscowitz war die vierte Haushälterin in den elf Wochen von Leslies Abwesenheit. Sie ließ das Haus verkommen, die Spiegeleier verbraten, sie kümmerte sich nicht um all die Wünsche nach zimmes und kuglen , und was immer sie buk, war Teig aus der Packung, für den sie überdies reiches Lob erwartete.

»Wie wünschen Sie die Eier, Rabbi?« fragte sie, während sie das Glas eisgekühlten Orangensafts vor ihn hinstellte, von dem er wußte, daß er wässerig und nachlässig aufgerührt sein werde. »Weichgekocht, Mrs.

Moscowitz, wenn Sie so gut sein wollen.« Er wandte sich seiner Tochter zu, die inzwischen zwei weitere Seiten hinter sich gebracht hatte.

»Guten Morgen. Es ist wohl besser, wenn ich dir die Haare frisiere.«

»Morgen.« Sie blätterte um. »Wie ist das Buch?« »Langweilig.«

Er nahm es und betrachtete den Titel. Sie seufzte, wissend, daß das Spiel nun verloren war. Das Buch war ein Jugendkrimi. Der Rabbi legte es unter seinen Sessel auf den Boden. Musik von oben verriet, daß Max nun soweit war, um nach seiner Harmonika zu greifen. Wenn sie Zeit genug hatten, spielte Rabbi Kind seinem sechzehnjährigen Sohn gegenüber gern die Rolle des Saul, der David lauscht; jetzt aber wußte er, daß Max ohne väterlichen Einspruch kein Frühstück essen würde. Er rief nach dem Sohn, und die Musik brach ab, mitten in einem dieser Pseudo- folk songs . Wenige Minuten danach saß Max frisch gewaschen, die Haare noch naß, mit den andern zu Tisch. »Eigentlich fühl ich mich heute recht alt«, sagte der Rabbi. Max lachte. »Aber Pop, du bist doch noch das reinste Kind«, sagte er und langte nach dem bleichsüchtigen Toast. Während der Rabbi sein Ei mit dem Löffel öffnete, überfiel ihn die Trübsal wie eine Wolke von Mrs. Moscowitz' Parfüm: die weichgekochten Eier waren hart. Die Kinder aßen die ihren ohne zu klagen, lediglich um den Hunger zu stillen, und er das seine ohne Genug, nur ihnen zusehend. Zum Glück, dachte er, ähneln sie ihrer Mutter, mit ihrem kupfrigen Haar, den kräftigen weißen Zähnen und ihren Gesichtern, die man sich ohne Sommersprossen einfach nicht vorstellen konnte. Zum erstenmal fiel ihm auf, daß Rachel blaß war. Er langte über den Tisch, faßte nach ihrem Gesicht, und sie rieb ihre Nase in seinem Handteller.

»Geh heute nachmittag ins Freie«, sagte er. »Steig auf einen Baum. Setz dich irgendwo draußen hin. Schnapp ein wenig frische Luft.« Er sah den Sohn an. »Vielleicht nimmt dich dein Bruder sogar zum Eislaufen mit, der große Sportler?«

Max winkte ab. »Aussichtslos. Scooter stellt heute nachmittag das Team auf, die endgültige Besetzung. Übrigens, könnte ich nicht Eishockeyschuhe kriegen, sobald mein Chanukka-Scheck von Großvater Abe kommt?«

»Du hast ihn noch nicht. Wenn er da ist, reden wir weiter.« »Papa, kann ich in unserem Weihnachtsspiel die Maria spielen?«

»Nein.«

»Ich habe Miss Emmons gleich gesagt, daß du nein sagen wirst. «

Er erhob sich. »Lauf nach oben und hol deine Bürste, Rachel, damit ich dein Haar in Ordnung bringen kann. Los, los, ich möchte nicht schuld sein, daß sie mit dem minjen im Tempel nicht anfangen können.«

Er fuhr seinen Wagen durch den Stadtverkehr des dämmrigen Massachusetts-Wintermorgens. Beth Sholom lag nur zwei Gassen vom Woodborough-Geschäftsviertel nach Norden. Das Haus stand seit achtundzwanzig Jahren, war altmodisch, aber solid gebaut, und so war es dem Rabbi bis jetzt gelungen, jene Gemeindemitglieder, die ein modernes Bethaus in der Vorstadt errichten wollten, davon abzuhalten.

Wie jeden Morgen seit acht Jahren parkte er den Wagen unter den Ahornbäumen und stieg dann die roten Ziegelstufen von dem kleinen Parkplatz zum Tempel hinauf. Im Arbeitszimmer nahm er den Mantel ab und vertauschte seinen alten braunen Schlapphut gegen das schwarze Käppchen. Dann, die broche murmelnd, führte er die taless -Fransen an die Lippen, legte sich den Gebetsmantel um die Schultern und ging den dämmrigen Korridor zum Betraum entlang. Während er eintrat und den auf den weißen Bänken Wartenden einen guten Morgen wünschte, zählte er sie mit den Blicken ab. Es waren sechs, einschließlich der beiden Leidtragenden Joel Price und Dan Levine; der eine hatte vor kurzem die Mutter verloren, Dan sechs Monate früher seinen Vater. Mit dem Rabbi waren es sieben.

Gerade als er die bema erstieg, traten zwei weitere Männer durch die Vordertür und stampften den Schnee von den Schuhen.

»Nur noch einer«, sagte Joel und seufzte.

Michael wußte, daß Joel jedesmal fürchtete, der zehnte könnte ausbleiben. Zehn mußten sie aber sein, um den kadisch sprechen zu können, jenes Gebet, das fromme Juden nach dem Tod eines Angehörigen elf Monate lang allmorgendlich und allabendlich beten.

jedesmal zitterte er dem zehnten entgegen.

Der Rabbi blickte durch den leeren Tempel.

O Herr, dachte er, ich bitte dich, mach, daß es ihr heute bessergeht! Sie hat sich's um dich verdient - und ich liebe sie so sehr. Hilf ihr, o Gott, ich bitte dich! Amen.

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