Michael schlug mit der flachen Hand auf das Armaturenbrett. »Dieser schlechte Kerl von einem mamser «, sagte er. »Nie hätte er das bei der Gattin des Rabbiners versucht, wenn du eine jüdische Frau wärest.«
»Ich bin eine jüdische Frau.«
»Du weißt, was ich meine«, sagte er nach einer Weile.
»Nur zu gut«, gab sie kurz zur Antwort.
Aber die Verstimmung blieb zwischen ihnen, ein ungeladener und widerwärtiger Mitreisender, und fast zwei Stunden lang sprachen sie wenig und nur das Nötigste miteinander. Dann hielten sie an einer Tankstelle außerhalb von Anniston, um Leslie die Gelegenheit zu geben, die Toilette aufzusuchen, und nun setzte sich Michael ans Steuer. Als sie wieder auf der Straße waren, legte er den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich.
Nach einer Weile sagte sie ihm, daß sie ein Kind erwarte, und die nächsten dreißig Kilometer fuhren sie wieder schweigend dahin. Aber diesmal war es ein anderes Schweigen, das sie einhüllte: Michael spürte, wie sein Arm schwer wurde, aber noch immer hielt er Leslies Schultern umfaßt, während ihre Hand leicht auf seinem Schenkel ruhte, eine Gabe der Liebe.
Drittes Buch. Die Wanderung
Woodborough, Massachusetts Dezember 1964
30
Die Wärterin Miss Beverly war ein munteres Mädchen, zart und zäh; sie arbeitete im Krankenhaus, um sich ihre Ausbildung am Institut für Leibeserziehung der Bostoner Universität zu verdienen. Da sie von der heilsamen Wirkung körperlicher Bewegung überzeugt war, hatte sie von Dr. Bernstein die Erlaubnis erwirkt, mit Leslie und einer Patientin namens Diane Miller einen langen Spaziergang zu machen. Sie hatten einander sogar an den Händen gefaßt und waren ein bißchen gelaufen. So kamen sie durchfroren und vergnügt ins Spital zurück und freuten sich auf die heiße Schokolade, die Miss Beverly zu machen versprochen hatte.
Leslie war eben im Begriff gewesen, ihren Mantel auszuziehen, als sich die Serapin, fauchend wie eine Katze, auf Mrs. Birnbaum stürzte. Sie sahen, wie die Rasende zweimal den Arm hob und fallen ließ, sahen die winzige Klinge in ihrer Hand im trüben gelblichen Licht aufblitzen, und dann sahen sie, wie es unfaßbar rot auf den Boden tropfte, und hörten einen häßlichen Laut: Mrs. Birnbaums Stöhnen.
Miss Beverly hatte Mrs. Serapins Hand am Gelenk erfaßt und zurückgerissen und hielt sie hoch wie ein Schwergewichtsringer im Fernsehen, aber da Mrs. Serapin die weitaus Größere war, konnte ihr die Wärterin das Messer nicht aus der Hand winden. So rief Miss Beverly schließlich um Hilfe, und schon kamen sie von allen Seiten herbeigerannt. Die Nachtschwester Rogan stürzte mit einer zweiten Wärterin aus dem Schwesternzimmer, und von draußen aus der Vorhalle kam Schwester Peterson mit bleichem Gesicht und schreckgeweiteten Augen.
Mrs. Birnbaum weinte noch immer und rief nach einem Menschen namens Morty, und Mrs. Serapin hörte nicht auf zu schreien, und in dem Handgemenge mit ihr war irgend jemand in die Blutlache getreten, so daß der Boden jetzt allenthalben mit roten Fußspuren bedeckt war.
Leslie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Sie wandte sich um und ging auf die Tür zu, die Schwester Peterson angelehnt gelassen hatte. An der Tür machte sie noch einmal halt. Nur Diana Miller starrte sie an. Leslie lächelte ihr beruhigend zu, ging aus der Abteilung und schloß die Tür hinter sich.
Sie ging durch die Vorhalle, vorbei an dem leeren Schalter, wo Schwester Peterson hätte sitzen und ihre Fernsehillustrierte lesen sollen, trat in den kleinen Windfang zwischen innerer Tür und Eingangstor. Da stand sie im Dunkeln, sog den Duft der kalten, frischen Luft ein, die durch den Spalt der Außentür drang, stand und wartete darauf, daß jemand käme und ihr sagte, daß sie hier nichts zu suchen hätte.
Aber es kam niemand.
Nach ein paar Minuten öffnete sie die Außentür und trat ins Freie.
Sie wollte noch einen Spaziergang machen, diesmal allein - so glaubte sie.
Sie schritt die lange, gewundene Auffahrt hinunter, ging durch das Gittertor, vorbei an den zwei sitzenden Steinlöwen mit den schmiedeeisernen Ringen in den Nasen. Sie atmete tief, ein durch die Nase und aus durch den Mund, wie es Miss Beverly von ihnen verlangt hatte.
Sie fühlte sich jetzt wohl, aber sie war müde von der körperlichen Bewegung am Nachmittag und der darauffolgenden Aufregung, und als sie zur Autobushaltestelle kam, setzte sie sich, um zu rasten, auf die von der Busgesellschaft dort aufgestellte Bank.
Nach einer Weile kam ein Auto heran und hielt, und eine sehr freundliche Frau kurbelte das Fenster neben dem Beifahrersitz herunter und fragte, ob sie Leslie vielleicht vor dem Erfrieren retten könnten.
Sie stieg ein, und die Frau erzählte ihr, sie kämen aus Palmer, und auch bei ihnen, wo sich die Füchse gute Nacht sagten, stünde es natürlich mit den Autobusverbindungen nicht zum besten. Sie würden Leslie gern in der Stadt absetzen, sagte die Frau.
Es war Viertel vor elf, als sie aus dem Wagen stieg. Um diese Stunde war die Main Street von Woodborough keineswegs mehr strahlend erleuchtet. Maneys Bar & Grill und das Soda Shop hatten noch offen, über dem Fenster der YWCA' brannte ein Licht, und der Bus-Bahnhof war erleuchtet; aber die Schaufenster zu beiden Seiten der Straße waren finster und leer.
Sie betrat das Soda Shop und bestellte einen Kaffee. Die Jukebox dröhnte, und in der Nische hinter ihr saßen drei jungen, die den Takt der Musik mit den Händen auf der Tischplatte mitklopften. »Ruf sie an, Peckerhead«, sagte einer der jungen soeben.
»Fällt mir nicht ein.«
»Wahrscheinlich wartet sie jetzt gerade auf dich.«
Los, Peckerhead, dachte sie, ruf sie an, mach einem kleinen Mädchen einen hübschen Abend. Sie waren kaum älter als Max.
Der Kaffee wurde serviert, in einer Tasse wie die im Spital; sogar die Farbe war die gleiche. Sie dachte daran, mit einem Taxi zurückzufahren, aber sie bekam Angst bei dem Gedanken, daß sie davongelaufen war. Sie fragte sich, was Dr. Bernstein wohl sagen würde.
»Ruf sie an, Peckerhead. Sei nicht feig.«
»Ich bin nicht feig.«
»Also, dann ruf sie an.«
»Hat jemand einen Zehner?«
Anscheinend hatte er die Münze bekommen, denn Leslie hörte, wie der junge hinter ihr die Nische verließ. Es gab nur ein Telephon im Laden, und er hing noch immer daran, als sie mit ihrem Kaffee schon fertig war. Aber draußen vor dem Lokal der Young Women's Christian Association (YWCA) gab es einen Automaten, auf den sie zuging, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß sie Kleingeld bei sich hatte, um Michael anzurufen.
Im letzten Augenblick besann sie sich anders und ging, statt in die Telephonzelle, in das YWCA-Lokal.
Am Empfangspult saß ein Mädchen mit Haaren, die wie eine braune Beatle-Perücke aussahen; sie saß über ein sehr großes Buch gebeugt, das seinem Format nach nur ein College-Lehrbuch sein konnte, und kratzte sich den Kopf mit dem Radiererende eines gelben Bleistifts.
»Guten Abend«, sagte Leslie. »Hi.«
»Ich hätte gern ein Zimmer. Nur für diese Nacht.«
Das Mädchen schob ihr ein Anmeldeformular hin, und Leslie füllte es aus. »Macht vier Dollar.«
Sie öffnete ihr Portemonnaie. Im Spital pflegten die Patienten mit Kupons zu zahlen, die direkt über das Verpflegungsbüro abgerechnet wurden. Von Zeit zu Zeit hatte Leslie von Michael ein paar Dollar in Bargeld bekommen, für den Kaffeeautomaten und für Zeitungen. Ihr Portemonnaie enthielt drei Dollar und zweiundsechzig Cents. »Kann ich das morgen früh mit Scheck bezahlen?«
»Natürlich. Vielleicht könnten Sie ihn gleich jetzt ausschreiben. «
»Das kann ich nicht. Ich habe mein Scheckbuch nicht bei mir.« »Ach so.« Das Mädchen wandte den Blick ab. »Ja dann ... ich weiß nicht.
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