So was ist mir noch nie passiert.«
»Ich bin YWCA-Mitglied. Voriges Jahr war ich in Mrs. Bosworths Schlankheitsturnen«, sagte Leslie und fügte lächelnd hinzu: »Ich bin wirklich eine durchaus seriöse Person.« Sie kramte in ihrer Tasche und fand die Mitgliedskarte.
»Das glaube ich Ihnen schon.« Das Mädchen studierte die Karte. »Es handelt sich nur darum, daß sie mich hinauswerfen, wenn Sie zu zahlen vergessen, verstehen Sie, oder daß ich den Fehlbetrag ersetzen muß, was ich mir wirklich nicht leisten kann.«
Aber sie langte hinter ihr Pult und legte Leslie einen mit Nummernmarke versehenen Schlüssel hin.
»Danke schön«, sagte Leslie.
Das Zimmer war klein, aber sehr sauber. Sie hängte ihre Kleider in den Schrank und legte sich in der Unterwäsche zu Bett, erfüllt von dankbaren Gefühlen für das Mädchen am Empfangspult. Morgen würde sie gleich Michael anrufen müssen, dachte sie schläfrig.
Aber am nächsten Morgen blieb alles still; die üblichen frühmorgendlichen Spitalsgerüche fehlten, die sie alltäglich geweckt hatten, und so schlief sie bis gegen neun Uhr.
Als sie die Augen aufgeschlagen hatte, blieb sie noch eine Weile reglos im warmen Bett liegen und dachte, wie angenehm es doch sei, keinen Elektroschock bekommen zu haben, der, wie sie wohl wußte, an diesem Morgen im Krankenhaus fällig gewesen wäre. Eine Frau in mittleren Jahren mit freundlichen Augen und blaugetöntem Haar saß am Empfangspult, als sie ihren Schlüssel abgab. Draußen rief sie ein Taxi an und gab dem Fahrer statt der Krankenhaus- ihre Wohnadresse.
Ich bin auf der Flucht, dachte sie beim Einsteigen. Der Gedanke hätte sie erschrecken sollen, aber er war so absurd, daß er sie lächeln machte.
Das Haus lag still und verlassen. Sie fand die Reserveschlüssel am gewohnten Platz auf dem kleinen Sims über der Hintertür. Sie trat ein, putzte sich die Zähne und nahm ein ausführliches Schaumbad.
Als sie damit fertig war und sich frisch angekleidet hatte, bereitete sie sich ein Frühstück mit Eiern und Brötchen und Kaffee und aß alles auf bis auf den letzten Bissen.
Sie wußte, daß sie kurz vor der Entlassung aus dem Krankenhaus stand, daß sie jetzt zurückkehren mußte, aber der Gedanke daran war ihr widerwärtig.
Für Patienten, die eine längere Behandlung brauchen, sollten einwöchige Urlaube vorgesehen sein, dachte sie.
Je länger sie diese Idee überlegte, um so besser gefiel sie ihr. Im dritten Fach ihres Schrankes, unter ihren Schlüpfern, fand sie das Bankbuch über das Konto, auf dem Tante Sallys Geld lag. Sie packte eine kleine Reisetasche, schrieb »Ich liebe dich« auf ein Stück Papier und legte es in Michaels Schrank auf den Stapel seiner weißen Hemden.
Dann rief sie abermals ein Taxi und ließ sich in die Stadt fahren; nachdem sie bezahlt hatte, blieben ihr noch elf Cents übrig, doch von der Bank hob sie nahezu sechshundert Dollar ab.
Bei YWCA erfuhr sie, daß das Mädchen vom Nachtdienst Martha Berg hieß, und hinterlegte für sie einen Briefumschlag mit zehn Dollar darin.
Dann fiel ihr noch ein, daß die Nachricht, die sie Michael zurückgelassen hatte, nicht allzu beruhigend sein mochte, und sie machte bei Western Union halt, um ein Telegramm an ihn aufzugeben.
Der nächste Bus, der vom Bahnhof abging, fuhr nach Boston, und sie stieg ein und bezahlte die Gebühr. Sie verspürte eigentlich nicht den Wunsch, nach Boston zu fahren, aber sie hatte diese Sache noch nicht durchgedacht und wußte nicht genau, wohin sie fahren wollte. Es war ein alter roter Autobus, und sie saß auf der linken Seite zwei Sitze hinter dem Fahrer und versuchte, sich zwischen Grossinger und einem Flug nach Miami zu entscheiden.
Als der Bus aber in Wellesley hielt, stand sie beim Ausstieg und zog die Schnur. Der Fahrer sah sie verdrießlich an, als sie ihm ihren Fahrscheinabschnitt gab. »Bezahlt bis Boston«, sagte er. »Wenn Sie was zurückhaben wollen, müssen Sie an die Gesellschaft schreiben.«
»Ist schon in Ordnung.« Sie stieg aus, schlenderte langsam über die Hauptstraße und freute sich an den Schaufenstern. Als sie an die Bahnstation kam, war ihr Arm schon sehr müde, und sie trat ein und verwahrte ihre Reisetasche in einem Fünfundzwanzig-Cents-Schließfach.
Dann machte sie sich unbeschwert auf den Weg zum Universitätsgelände.
Vieles war dort neu und unvertraut für sie, aber manches war noch genauso wie vor Jahren. Sie ging weiter, bis sie vor Severance House stand, und trat ein, obwohl sie sich dabei ein wenig närrisch vorkam.
Nur wenige Mädchen waren zu sehen; um diese Tageszeit hatten fast alle irgendwo Vorlesungen. Im zweiten Stockwerk fand sie ohne Zögern die richtige Tür, als wäre sie erst vor einer halben Stunde weggegangen, um die Bibliothek aufzusuchen.
Sie hatte fast nicht erwartet, daß ihr Klopfen eine Antwort finden werde, und als das Mädchen öffnete, stand sie einen Augenblick lang sprachlos da, nach Worten suchend.
»Hello«, sagte sie schließlich. »Hello?«
»Entschuldigen Sie die Störung. Ich habe vor vielen Jahren in diesem Zimmer gewohnt - ich hätte es gern wieder gesehen. « Es war ein chinesisches Mädchen. Sie trug ein kurzes Nachthemd, und ihre kräftigen, muskulösen Beine wirkten wie Säulen aus Elfenbein.
»Bitte, kommen Sie herein«, sagte sie, und als Leslie der Einladung folgte, nahm sie einen Schlafrock aus dem Schrank und zog ihn über.
Natürlich war das Zimmer anders möbliert, und auch die Farben waren völlig verändert. Es sah aus, als wäre es gar nicht mehr dasselbe Zimmer.
Sie ging zum Fenster und schaute hinaus - und die Aussicht versetzte sie nun wirklich wieder zurück. Lake Waban war derselbe geblieben. Er war zugefroren und verschneit. Nahe dem Ufer war der Schnee entfernt worden, und die Mädchen liefen Schlittschuh auf dem Eis.
»Wie lange haben Sie hier gewohnt?« fragte das Mädchen höflich.
»Zwei Jahre.« Sie lächelte. »Sind die Toiletten noch immer so leicht verstopft?«
Das Mädchen schien verwundert. »Nein. Die Installationen dürften hier sehr ordentlich sein.«
Plötzlich kam Leslie sich völlig verrückt vor. Sie schüttelte dem Mädchen die Hand und ging zur Tür.
»Möchten Sie nicht noch auf einen Kaffee bleiben?« fragte das Mädchen, aber Leslie konnte ihr ansehen, daß sie froh war, den ungebetenen Besuch loszuwerden. Sie bedankte sich und verließ das Zimmer und das Haus.
Die alte Schule, dachte sie, brrr.
Sie entdeckte ein neues Gebäude, das Jewett Arts Center, und sie ging hinein und besichtigte die Galerie, die gut war. Es gab einen kleinen Rodin und einen kleinen Renoir und einen Baudelaire-Kopf aus hellem Stein mit großen, blicklosen Augen, der ihr gefiel. Sie stand lange vor einem heiligen Hieronymus von Hendrik van Somer. Der Heilige war ein alter Mann mit runzligen Wangen, kahlem Kopf und einer Hakennase, einem langen Bart und wilden Augen, den wildesten Augen, die sie je gesehen hatte, und plötzlich fiel ihr ein, wie Michael ihr seinen Großvater beschrieben hatte.
Sie verließ das Gebäude auf der anderen Seite, und sobald sie aus dem Tor trat, wußte sie genau, wo sie sich befand.
Da war der alte Galen Turm und der Hof und die Bäume und die steinernen Bänke, die meisten von ihnen jetzt schneebedeckt, aber eine blankgefegt. Sie setzte sich und hatte Severance Hill vor sich, wo ein einsamer Schifahrer am Hang zappelte und schließlich stürzte. Sie erinnerte sich an den Hügel im Mai, an den Tree Planting Day und an Debbie Marcus in einer Art Leintuch, als Vestalin verkleidet.
Ein Mann in schwarzem Überzieher und eine Frau in grauem Mantel mit Fuchskragen kamen aus dem Verwaltungsgebäude. Leslie hielt ihn auf Grund seiner roten Gesichtsfarbe für einen Trinker, ohne auch nur das geringste über ihn zu wissen. »Das ist offenbar die einzige schneefreie Bank«, sagte die Frau zu ihrem Mann.
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