»Sprich mir nach: Ich liebe dich, mein Gott.« »Ich liebe dich, mein Gott«, sagte das Mädchen.
Billy Joe umfaßte ihren Kopf mit beiden Händen. »Sehet, was Gott gewirkt hat«, sprach er feierlich zu der jubelnden Menge. Nun war Dick an der Reihe. »Was fehlt dir, mein Sohn?« fragte der Wuntertäter, und Dick nahm die Linse wahr, die wie ein anklagendes Auge auf ihn gerichtet war, und einen kleinen Hebel an der einen Seite der Kamera, der sich unablässig drehte und drehte.
»Krebs.«
»Knie nieder, mein Sohn.«
Er sah die Schuhe des Mannes, feine braune Schweinslederschuhe, die braunen- Seidensocken, deren straffer Sitz Sockenhalter verriet, die Aufschläge beigefarbiger Leinenhosen, die maßgeschneidert aussahen. Die großen Hände des Mannes legten sich über Dicks Augen, über sein Gesicht. Die Fingerspitzen gruben sich in seine Wangen, in seine Kopfhaut, und die Handflächen, die nach dem Schweiß anderer Gesichter rochen, so daß Dick leicht schwindlig wurde, drückten auf seine Nase und seinen Mund und beugten seinen Kopf zurück.
»O Herr«, sagte Billy Joe, während er Dicks Augen zudrückte, »die bösen Geister der Fäulnis fressen an diesem Mann, sie verschlingen ihn, Zelle um Zelle.
Herr, zeig diesem Mann, daß Du ihn liebst. Rette sein Leben, auf daß er mir helfe, Dein Werk zu tun. Gebiete Einhalt der Zerstörung, die seinen Körper befallen hat. Tilge aus das Übel mit dem eisernen Besen Deiner Liebe und behüte diesen Mann vor weiterem Unheil durch Krebs, Tumor und andere teuflische Krankheit. Herr -« Die Finger, die groß wie Würste und voll der Stärke waren, strafften sich zu Krallen und umklammerten schmerzhaft Dicks Gesicht.
»HEILE!« befahl Billy Joe.
Zu seiner Verwunderung spürte Dick an diesem Abend und auch am nächsten Tag keine Schmerzen. Das kam freilich zuweilen vor, und er wagte noch nicht, zu hoffen. Aber ein weiterer Tag verging, eine weitere Nacht, es vergingen noch zwei Tage und zwei Nächte der schmerzfreien Pause.
In dieser Woche fuhr er zweimal nach Atlanta, erschien zur festgesetzten Stunde im Krankenhaus, ließ sich vom diensthabenden Arzt eine Kanüle in die Ader einführen und wartete, während das Gelbkreuz in seinen Blutkreislauf tropfte - tropfte - tropfte. Am Sonntag darauf fuhr er wieder zum Zelt, um Billy Joe Raye zu sehen, und am folgenden Dienstag fuhr er nicht ins Krankenhaus, auch am Donnerstag nicht. Obwohl er kein Gelbkreuz bekommen hatte, hielt die Schmerzfreiheit an, und er begann, sich wieder kräftig zu fühlen. Er betete viel. Vor dem Feuer liegend und den Hund zwischen den Ohren kraulend, gelobte er Gott, im Falle seiner Errettung ein Jünger von Billy Joe Raye zu werden. Viele Stunden lang träumte er davon, wie er selbst ein Gebetsmeeting leiten würde - mit Hilfe des Trompeters Gottes und eines Mädchens. Das Gesicht des Mädchens veränderte sich von Traum zu Traum, ebenso wie ihre Haarfarbe. Aber immer war sie wohlgestaltet und schön, ein Mädchen, das auch von Billy Joe gerettet worden war und das nun gemeinsam mit Dick das Glück eines Lebens für Gott genoß.
Am Sonntag nach dem Meeting wandte sich Dick an einen Ordner. »Ich möchte gern auf irgendeine Art helfen«, sagte er. »Mit einer Spende vielleicht.«
Der Mann führte ihn in ein kleines Büro hinter einer Trennwand; dort wartete er als dritter in einer Reihe, bis ein dicker Mann mit freundlichem Gesicht ihm zeigte, wo er zu unterschreiben hatte, um Freund der Gesundheit durch Glauben zu werden; gleichzeitig verpflichtete er sich zu einer Zahlung von sechshundert Dollar im Laufe der nächsten zwölf Monate.
Inzwischen hatte der Arzt schon mehrmals mit Onkel Myron telephoniert und ihm mitgeteilt, daß Dick die Behandlung abgebrochen habe. Myron erschien im Haus seines Neffen, und es gab eine häßliche Szene. Dick überstand sie unerschüttert, indem er sich sagte, daß es sich ja schließlich um seine Rettung handelte. Am Samstagnachmittag wurde er ohnmächtig. Als er wieder zu sich kam, war auch der Schmerz wieder da, schlimmer als zuvor. Am Sonntag wurde es noch ärger. Etwas in seiner Brust schien nach außen zu drängen, gegen die Lungen vielleicht, so daß es ihm schwer wurde, voll durchzuatmen, und er merkte, wie er kleinmütig wurde.
Er fuhr hinaus zum Zelt und saß auf einem der harten hölzernen Klappstühle und betete.
Als er aufstand, um sich den an Billy Joe vorbeiziehenden Besuchern anzureihen, wurde er gewahr, daß in der Reihe hinter ihm der Rabbiner saß.
Zur Hölle mit ihm, dachte er, aber noch im Denken sah er sich aus dem Zelt rennen und weiter über den riesigen Parkplatz, die Ellbogen krampfhaft gegen die schmerzenden Rippen gepreßt, mit bleischweren Armen und Beinen. Und nirgends ein Ort, wo er sich verstecken konnte!
Als Michael vor dem Haus des jungen Mannes anhielt, fand er es verschlossen. Es war ein hübsches Haus, altmodisch zwar, aber solid.
Vernachlässigt wirkte es nicht, eher unbenützt: eines von jenen Häusern eben, die erst durch eine große Familie zum Leben erwachen.
Er ließ sich auf den Eingangsstufen nieder und blieb sitzen, bis nach einer Weile ein magerer irischer Setter, der irgendwie an einen traurigen Löwen erinnerte, um die Hausecke auf ihn zukam. »Hallo«, sagte Michael.
Der Hund verharrte reglos und blickte ihn an, schien aber dann den Fremden zu akzeptieren, denn er kam näher und legte sich quer auf eine der Stufen, die rotbraune Schnauze an Michaels Knie gelehnt. So verharrten die beiden, der Rabbi unablässig die Ohren des Hundes kraulend, bis der blaue Sportwagen in der Zufahrt erschien.
Minutenlang blieb Dick Kramer im Wagen sitzen und starrte die beiden an. Endlich stieg er aus und kam über den Rasen auf das Vorhaus zu.
»Der alte Lump hat das gern«, sagte er. Er zog den Schlüsselbund aus der Tasche, schloß die Tür auf, und Rabbi wie Hund traten hinter ihm ins Haus, ohne erst eine Einladung abzuwarten. Das Wohnzimmer war geräumig und gemütlich eingerichtet, wirkte aber mit seinen Geweihen über dem großen gemauerten Kamin und dem verglasten Gewehrschrank eher wie das Innere einer Jagdhütte.
»Trinken Sie etwas?« fragte Dick. »Mit Ihnen gern«, sagte Michael. »Und ob ich trinken werde! Man hat mir gesagt, daß ein gelegentlicher Schnaps meinen Nerven guttut. Es ist Bourbon. Wasser dazu?«
»Gern.«
Sie gossen es hinunter und saßen dann schweigend, die geleerten Gläser in der Hand, bis Dick sie nachgefüllt hatte.
»Wollen Sie sich's von der Seele reden?«
»Wenn ich das gewollt hätte, dann wäre ich, verdammt noch mal, längst schon zu Ihnen gekommen. Haben Sie sich das nicht denken können?«
»Doch, doch, natürlich.« Er erhob sich. »Nun, dann ist es wohl besser, ich gehe jetzt. Und danke für den Schnaps.«
Aber an der Tür rief ihn Dick zurück. »Es tut mir leid, Rabbi. Bleiben Sie doch da.«
Michael kehrte um und nahm Platz. Der Hund machte sich's leise ächzend zu Füßen seines Herrn bequem. Michael griff nach seinem Glas und tat einen langen Zug. Dann, nach einer kleinen Pause, begann Dick Kramer zu reden.
Als er geendigt hatte, schwiegen sie wieder eine Weile. »Warum sind Sie denn nicht zu mir gekommen?« fragte Michael schlicht.
»Sie hatten mir nichts zu geben«, sagte Dick. »Zumindest nicht das, was ich suchte. Billy Joe schon. Und eine Zeitlang schien es auch, als hätte er Erfolg gehabt. Und ich hätte einfach alles für ihn getan, wenn es wahr gewesen wäre.«
»Wenn Sie mich fragen, so sollten Sie jetzt schleunigst wieder zu Ihrem Arzt gehen«, sagte Michael. »Das ist wohl das wichtigste.« »Und nicht zu Billy Joe Raye. Sie raten mir davon ab?«
»Das müssen Sie schon mit sich selbst abmachen«, sagte Michael.
»Wissen Sie, wenn ich wirklich an ihn hätte glauben können, dann, glaube ich, hätte ich's geschafft. Aber meine jüdische Skepsis hat das nicht zugelassen.« Dick Kramer lächelte traurig.
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