»Magst du Kaffee trinken?« fragte er bei einem Restaurant. »Nein, danke«, sagte sie.
Als sie zu dem Studentenhaus kamen, in dem sie wohnte, versuchte er nochmals zu sprechen, aber sie hörte nicht zu. »Leb wohl«, sagte sie. »Viel Glück, Dick.« Sie öffnete die Wagentür und schlüpfte hinaus, und er blieb sitzen und sah ihr nach, wie sie auf das Haus zulief, über die Stufen und durch die geräumige Veranda, sah ihr nach, bis die Tür hinter ihr zuschlug.
Er hatte keine Lust, in sein Studentenheim zu gehen, und es wäre zu dumm gewesen, in einem Hotel zu übernachten; so fuhr er zurück ins Krankenhaus.
Dort blieb er die nächsten zehn Tage.
Eine hübsche kleine Krankenschwester mit wildem dunklem Haar spritzte ihm das Medikament intravenös. Am ersten Tag hatte er mit ihr gescherzt und nur Augen für ihren schönen Körper gehabt und gehofft, daß sein Versager vom vergangenen Abend eine einmalige Schwäche gewesen sei, eine vorübergehende psychisch bedingte Störung und nicht eine Begleiterscheinung seiner Krankheit. Am dritten Tag merkte er nicht einmal mehr, ob sie im Zimmer war.
Das Gelbkreuz verursachte ihm Durchfall und elende Übelkeit im Magen.
Der alte Arzt kam und verordnete eine neue Dosierung, aber auch von der geringeren Dosis wurde ihm übel.
Onkel Myron kam dreimal die Woche abends nach Atlanta und saß nur an seinem Bett, ohne viel zu reden.
Einmal kam auch Sheldon. Er schaute Dick unentwegt an, stotterte schließlich etwas von bevorstehenden Prüfungen, ging und kam nicht wieder.
Am Abend des zehnten Tages wurde er entlassen. »Sie müssen zweimal die Woche zur ambulanten Behandlung kommen«, sagte der Alte.
»Er wird bei mir wohnen«, sagte Onkel Myron.
»Nein«, sagte Dick. »Ich gehe zurück an die Universität.« »Ich fürchte, das kommt jetzt nicht in Frage«, sagte der Arzt. »Bei dir wohnen kommt aber auch nicht in Frage«, erklärte er Myron. »Dann gehe ich nach Cypress. Ich laß mich nicht als Kranken behandeln.«
»Was ist los mit dir? Was denkst du dir eigentlich?« fragte Myron.
»Warum mußt du so eigensinnig sein?«
Aber der Doktor verstand ihn. »Lassen Sie ihn in Ruhe. Er wird es ganz gut allein schaffen - wenigstens noch für kurze Zeit«, sagte er zu Myron.
Dick packte seine Sachen am späten Vormittag, als das Haus fast menschenleer war. Nicht einmal von Sheldon verabschiedete er sich.
Er verstaute seine Koffer im Wagen und den Hund auf den Koffern und das Schießeisen auf einer Decke unten hinter dem Fahrersitz, dann fuhr er noch ein paar Runden um das Universitätsgelände. Die Blätter begannen sich schon zu verfärben. Vor einem der Studentinnenhäuser war eine Schar Mädchen mit Malerbürsten und Eimern am Werk, um den Wänden einen neuen Anstrich zu geben.
Um sie drängte sich eine Horde johlender und pfeifender Jungen.
Dick fuhr über die Autobahn. Innerhalb weniger Minuten hatte er den Tachometer auf hundertzwanzig Stundenkilometer hinaufgejagt, der kleine blaue Sportwagen ging kreischend in die Kurven und schoß in der Geraden dahin, während der Hund winselte und Dick dauernd darauf wartete, daß der Wagen aus einer Kurve getragen oder an einen Baum, eine Mauer oder einen Telephonmast geschleudert würde. Aber nichts geschah, der Tod griff nicht ein, nicht einmal ein Polizist hielt ihn mit einem Strafmandat wegen zu schnellen Fahrens auf, und so jagte er, wie in einer Rakete, durch halb Georgia.
Er richtete sich wieder im Haus seines Vaters ein und stellte zum Aufräumen und Kochen eine Negerin an, die Frau eines Lastwagenfahrers, der die Möbellieferungen für das Geschäft durchführte. Am zweiten Nachmittag seines Aufenthalts zu Hause erschien er im Betrieb, wo zwei Männer ihm versicherten, wie entsetzlich schlecht er aussehe, und einer ihn nur wortlos anstarrte.
Von da an blieb er der Möbelfabrik fern. Manchmal ging er mit dem Hund in die Wälder, und der winselte und tänzelte, wenn er Wachteln oder Wildtauben entdeckte, aber Dick unternahm keinen Jagdversuch mehr. Es gab Tage, an denen er es gekonnt hätte, Tage, an denen sich die Taubheit in den Fingern und der Schmerz nicht meldeten. Aber ihm war nicht mehr nach Töten zumute. Zum erstenmal kam ihm zu Bewußtsein, daß er Leben ausgelöscht hatte, wenn er Vögel vom Himmel herunterholte, und nun schoß er nicht mehr, nicht einmal auf Tontauben. Zweimal in der Woche unternahm er die lange Fahrt nach Atlanta ins Krankenhaus, aber er fuhr langsam, fast träge, und versuchte nicht mehr, irgend etwas zu übereilen.
Es wurde kälter. Die Maulwurfsgrillen auf dem Feld hinterm Haus verschwanden. Waren sie wirklich fort, dachte Dick, oder hatten sie sich irgendwo vergraben, um im Frühling wieder lebendig zu werden?
Er begann, über Gott nachzudenken.
Er begann zu lesen. Er las die ganze Nacht lang, wenn er nicht schlafen konnte, und er las unter Tags, bis er endlich gegen Abend über einem Buch einschlief. In den Cypress News las er, daß ein jüdischer Gottesdienst stattfinden sollte, und er nahm daran teil.
Als die Gottesdienste zu einer allfreitäglichen Einführung wurden, zählte er zu den regelmäßigen Besuchern. Er kannte fast alle Leute dort, und jeder wußte, daß er krankheitshalber von der Universität nach Hause gekommen war. Sie waren taktvoll, und die Frauen flirteten tapfer mit ihm und bemutterten ihn und fütterten ihn beim oneg schabat.
Aber er fand keine Antwort im Gottesdienst. Vielleicht, dachte er, wenn sie ein religiöses Oberhaupt hätten, einen Rabbiner, der ihm helfen könnte, die Antwort auf seine Fragen zu finden. Ein Rabbiner müßte ihm doch zumindest sagen können, was er als Jude nach dem Tod zu erwarten hatte.
Als aber der Rabbiner nach Cypress kam, stellte Dick fest, daß Michael Kind jung war und selbst etwas unsicher aussah. Obwohl er weiterhin getreulich jedem Gottesdienst im Tempel beiwohnte, wußte er doch, daß er von einem so gewöhnlichen Mann das Wunder nicht erwarten konnte, das er brauchte.
An einem Sonntag, als er vor dem Fernsehapparat auf den Beginn der Sportschau wartete, sah Dick die letzten zehn Minuten der Übertragung von Billy Joe Rayes Show. Im weiteren Verlauf des Programms sah er Fischer, die im zugefrorenen Michigansee Weißfische fingen, dann bronzebraune Männer und goldbraune Mädchen, die sich in katalanischer Brandung tummelten, und er gestattete seinen Gedanken nicht, dem vorangegangenen religiösen Programm nachzuhängen. Doch am folgenden Sonntag rasierte und kleidete er sich mit Sorgfalt und reihte sich, statt vor dem Bildschirm zu sitzen, ohne viel Überlegen in die Wagenkolonne ein, die dem Zelt des Wuntertäters zustrebte.
Auf Billy Joes Frage nach jenen, die ihren Frieden mit Jesus zu machen wünschten, hatte er die Hand nicht erhoben, aber er hatte die Karte genommen und unterschrieben, mit der die Gläubigen um ein persönliches Gespräch mit dem Wundermann ansuchten.
Während er in der langsam auf die Bühne sich zubewegenden Reihe stand, beobachtete er die Leute, die das Podium verließen. Ein Mann und nach ihm eine Frau warfen unter Triumphgeheul ihre Krücken von sich, ja die Frau tanzte sogar durch den Mittelgang.
Andere stiegen verkrüppelt, verfallen oder irr die Stufen hinauf und verließen die Bühne am anderen Ende, allem Augenschein nach unverändert. Eine Frau tat zwei zögernde Schritte und warf dann leuchtenden Blickes ihre Krücken von sich; wenige Minuten später war sie zu Boden gefallen und kroch zu ihren Krücken hin, und ihr Gesicht war verwüstet von Verzweiflung. Aber weder sie noch einen der anderen Enttäuschten behielt Dick in Erinnerung. Er hatte das Wunder von Billy Joes Händen gesehen, und er sah immer neue Beweise.
Unmittelbar vor ihm stand ein etwa zehnjähriges taubes Mädchen.
Nachdem Billy Joe für sie gebetet hatte, bedeutete er ihr, sich mit dem Gesicht zur Menge zu drehen, und sprach, da sie seine Lippen nicht mehr sehen konnte:
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