Manche Kinder kamen zur Welt, wurden den kraftlosen Müttern in die Arme gedrückt und man sah sofort: Das waren Kinder, für die es keinen Babysitter gab. Sie konnten sich zwar noch nicht mitteilen. Sie konnten nur die verknautschte Stirn runzeln, den Mund öffnen und den einen oder anderen Eröffnungsschrei von sich geben. Aber sie hatten bereits eine imaginäre Tafel um den Hals hängen. Und darauf stand: »Für uns gibt es keinen Babysitter. Sollte einer zum Einsatz kommen, machen wir ihn zur Sau.« Und die kraftlosen Mütter drückten die Kinder so fest sie (schon) konnten an ihre Brust und signalisierten damit: Macht nichts. Wir brauchen keinen Babysitter. Wir sind immer für euch Babys da. Und ihr seid immer bei uns dabei. Und wenn das unseren Freunden nicht passt, dann haben sie eben Pech gehabt. - So eine Mutter war Franziska. Sie hatte übrigens auch einen Ehemann. Katrin war verblüfft, dass sie auch das noch unterbrachte.
Es gab zwei weitere elektronische Antworten. Eine kam von Aurelius, die öffnete sie zuerst. Er war die letzte große Liebe der Schulmeister-Hofmeisters gewesen. Er hatte alles, was ein Mann haben musste, damit die Eltern sagen konnten: »Goldschatz, was willst du mehr?« (Mutter.) Und: »Maus, lass nur ja nicht locker. Machen wir Nägel mit Köpfen!« (Vater.) Aurelius war erst 35 und hatte schon eine eigene Notariatskanzlei (geerbt). Er war Staatsmeister in der Vierer-Klasse (Rudern). Er war ehrenamtlicher Präsident des Taubenzüchterverbandes. Er war klug. Er war gebildet. Er war schön. (Schöner als das »Best of« der letzten drei James Bonds, also bereits obszön schön.) Er hatte zwölf dunkle Anzüge, zehn Paar schwarze Schuhe. (Praktische Schuhe. Sie sahen alle gleich aus, er konnte sie beliebig variieren, er musste nur aufpassen, dass er nicht zwei linke oder zwei rechte erwischte.) Er hatte drei Putzfrauen: eine Hausputzfrau, eine Fensterputzfrau und eine Schuhputzfrau. Er hatte ... darf es genug sein? Er schrieb: »Wenn du dich einsam fühlst, so weißt du, wo du mich erreichst. In treuer Liebe, Aurelius.« Er hatte kein Gefühl für die richtigen Worte zur richtigen Zeit.
Die vierte Antwort kam von Max. Katrin hatte gerade ein letztes Stück Zwieback den Rachen herunterbröseln lassen, und der heiß nachgespülte schwarze Kaffee zupfte wie ein Kontrabassist an ihrer Magenschleimhaut. Da las sie: »Guten Morgen. Der Birnenkuchen ist fertig. Sie können gern zum Frühstück kommen. Kurt freut sich. Lieber Gruß, Max.« Frühstück war eine Idee, dachte sie und rief bei ihm an.
Niemand meldete sich. Vielleicht ging er gerade mit Kurt Gassi. Oder er stand unter der Dusche. Oder er war mit seinen Pin-ups beschäftigt. Zehn Minuten später versuchte sie es noch einmal und da meldete er sich sofort: »Bei Max.« - »Hallo, Katrin spricht, wenn das noch gilt, das mit dem Kuchen, würde ich vor der Arbeit gerne kurz vorbeikommen, wenn es nicht stört. Ich würde gleich losgehen. Aber wirklich nur, wenn es nicht stört.« - Es störte nicht.
Sie war eine Dreiviertelstunde bei ihm. Sie sprachen hauptsächlich über den Birnenkuchen. Er schmeckte erstaunlich gut, überhaupt nicht nach Birnen, das musste man erst einmal so hinkriegen, lobte Katrin. »Birnen schmecken ja eigentlich nach nichts«, meinte Max. Nur deshalb verwendete er sie. Ein Obstkuchen sollte seiner Ansicht nach nicht nach Obst, sondern nach Kuchen schmecken. Denn wer Obst essen wollte, sollte Obst essen, der brauchte keinen Kuchen dazu, war sein Standpunkt. Katrin nickte, teils einsichtig, teils höflich, meinte dann aber doch: »Eigentlich hättest du die Birnen weglassen können.« (Hatte sie »du« gesagt?) »Da hast du an sich Recht«, erwiderte Max (somit waren sie per du). »Aber wie nenne ich den Kuchen ohne Birnen?«, fragte er. »Sage ich: >Ich habe einen Kuchen gemachte so fragen mich die Leute: >Was für einen Kuchen?< Und dann müsste ich zugeben: >Ach, einfach nur einen Kuchen.< Da würde mir schon bei der eigenen Ansage die Lust darauf vergehen.« Katrin nickte, teils einsichtig, teils verständnisvoll, teils höflich.
»Oder die Leute fragen erst gar nicht nach«, setzte Max fort, »sie denken: >Aha, Kuchen, einfach nur ein Kuchen, sonst kann er nichts, der Kuchen. Nicht einmal ein Schokoladekuchen, einfach nur ein Kuchen. Gott, wie langweilig!< Die Leute wären enttäuscht, bevor sie noch ein Stück davon gekostet hätten. Möglicherweise würden sie gar nicht auf die Idee kommen, von dem Kuchen zu kosten. Wozu mache ich dann überhaupt einen Kuchen?«, fragte Max. - Wenn ihn Katrin richtig verstanden hatte, so brauchte er also die Birnen primär, um »Birnenkuchen« sagen zu können.
»Hast du's schon einmal mit Stachelbeeren probiert?«, fragte Katrin. »Stachelbeeren schmecken auch nach nichts. Sie schmecken sogar noch mehr nach nichts als Birnen.« Max horchte auf und sah sie an. Dabei wurden seine Augen groß. Er hatte große Augen, wenn er sich bemühte, dachte Katrin. »Und >Stachelbeerkuchen< klingt fast noch besser als >Birnenkuchen<, finde ich«, meinte Katrin. »Aber Stachelbeeren sind schwer zu kriegen, sie haben selten Saison«, erwiderte Max. Da hatte er Recht. Es war eine gute Diskussion, fand Katrin. Leider wurde die Besuchszeit bereits knapp. Katrin musste in die Ordination.
»Und hast du einen Freund?«, fragte Max. Die Frage war unverschämt, dachte Katrin und fragte: »Wieso?« - »Ich hätte ihm gerne ein Stück Birnenkuchen mitgegeben«, erwiderte Max. »Er isst keinen Kuchen«, erwiderte Katrin und fragte sich, wie sehr nun offen geblieben war, ob sie einen Freund hatte oder nicht. Es sollte möglichst weit offen geblieben sein, hoffte sie. »Schade«, sagte Max. Schade, dass sie einen Freund zu haben schien, oder schade, dass er keinen Kuchen aß?, fragte sich Katrin.
»Ich habe keine Freundin«, setzte Max in überraschend heiterem Tonfall fort. Katrin dachte an die Pin-ups und hätte gerne »Warum nicht?« gefragt. Aber das wäre ein Stilbruch gewesen. Sie sagte besser »Ah so« und versuchte ihm einen Blick zuzuwerfen, den er als wertneutrale Zukenntnisnahme auffassen würde. Er drehte sich zu Kurt und sagte: »So ist es Kurt, nicht wahr?« - Für solche Sätze zahlte es sich aus, Hunde zu besitzen, dachte Katrin. Kurt erwiderte nichts. Er lag unter seinem Sessel und schlief. »Was hat er eigentlich?«, fragte Katrin. »Nichts«, sagte Kurt. »Leider.« - »Aber du liebst ihn«, meinte sie. »Ich?«, fragte Max. Das hatte ihm offenbar noch niemand unterstellt.
Beim Verabschieden drückte er ihre Hand länger als notwendig, fühlte Katrin. Sie hatte kein Problem damit. Sie fand Max nicht uninteressant. Sie kannte ihn nicht. Er hatte noch nichts von sich verraten (außer dass er keine Freundin hatte, aber was sagte das schon über einen Menschen aus?). Sie war sicher, dass er absichtlich nichts von sich verriet, nicht weil er es nicht konnte. Somit stand es im Nichts-von-sich-Verraten unentschieden. Das war gerecht. »Man sieht sich«, sagte sie. »Würde mich freuen«, erwiderte Max. Katrin freute sich schon jetzt. Außerdem mochte sie Kurt. Er war ihr Lieblingshund. Er nahm ihr die Scheu vor Weihnachten.
Die Straßen waren frisch geölt vom Nieselregen, aber es half nichts. Kurt musste Max ins Büro von »Leben auf vier Pfoten« begleiten. Sie mussten die wöchentliche Kolumne »Treue Augenblicke« verfassen. Max brauchte Kurt diesmal persönlich, denn er hatte noch keine Idee, was an schriftlich Verwertbarem er seinem Deutsch-Drahthaar entlocken konnte. Er war auf jede Regung des Hundes angewiesen, auf jede seiner täglichen drei.
Kurt ging nicht gern in ein Büro, schon gar nicht im Winter, schon gar nicht, wenn der Boden nass, rutschig und dreckig war - und schon gar nicht in jenes von »Leben auf vier Pfoten«. Dort waren die Menschen in unerträglicher Weise anlehnungsbedürftig. Sie liebten Tiere so sehr, dass sie vor Freude tanzen, singen, springen und manchmal sogar weinen mussten, wenn sie eines sahen. Überhaupt wenn sie Kurt sahen. Er war ihr Lieblingstier. Denn er konnte sich nicht wehren. Es war ihm zu anstrengend. Und gegen die vielen streichelnden, abgrabbelnden, knuddelnden, grapschenden Hände der »Leben-auf-vier-Pfoten«-Mitarbeiter hätte er ohnehin niemals eine Chance gehabt. Also ließ er die Zuwendungen über sich ergehen.
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