Doch er rührte sich nicht. Also wiederholte ich meinen Gruß und fügte hinzu: »Ich bin fremd hier und brauche jemanden, der mir den Weg erklärt.«
Er gab keinen Laut von sich und blieb versunken in seinem Reich.
»Möchten Sie nicht mit mir reden?« Meine Frage blieb ohne Antwort, ganz so, als gäbe es mich nicht.
Der Mann brachte mich zur Verzweiflung, also blieb mir nichts weiter übrig, als weiterzugehen. Je tiefer ich in den Wald vordrang, desto öfter begegnete ich menschlichen Wesen, die genauso auf dem Boden hockten wie der Alte. Mal war es ein Mann, mal eine Frau. Ich versuchte jedes Mal aufs Neue, eine Antwort zu erhalten, aber keiner nahm mich zur Kenntnis. Mir kam es vor, als wäre dieser Wald nur für Stumme, Taube, Blinde gemacht. Ich schaute mich um, konnte nicht genug staunen angesichts der grünen Pracht. »Ein Paradies ohne Menschen«, murmelte ich. Ich sammelte ein paar Früchte vom Boden auf und aß mich satt. Dann kehrte ich zu meinem Gepäck zurück. Die Händler stopften ihre Säcke mit Obst voll, und niemand beaufsichtigte ihr Treiben und zählte die Säcke. Als mich der Führer der Karawane sah, lachte er. »Na, konnten Sie jemanden zum Sprechen bringen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das ist das Paradies der Dämmernden, das seine Schätze großzügig verschenkt.«
Neugierig geworden, fragte ich: »Was wissen Sie über diese Menschen?«
Er zuckte mit den Achseln. »Es gibt dort einen alten Mann, den die meisten Reisenden aufsuchen. Vielleicht kann er Ihnen mehr erzählen.«
In meiner Brust regte sich wieder die Freude am Reisen, und wie ein Rausch überkam mich neuer Lebensmut. Ich atmete tief durch. »Was für ein angenehmer Sommer das hier ist!«
»Wieso Sommer? So sind alle Jahreszeiten.« Am nächsten Morgen stand ich, erfüllt von frischem Tatendrang, mit der Sonne auf. Ich hörte, wie einer der Händler vorschlug, zwischen dem Ghurub- und dem Amanland so lange zu pendeln, bis der Krieg beendet und die Karawanenstraße wieder frei sei. Ich hatte anderes im Sinn und machte mich wieder auf den Weg. Ohne zu rasten, drang ich Stunde um Stunde tiefer in den Wald ein. Irgendwann hörte ich auf einmal Gesang, es waren mehrere Stimmen. Vorsichtig ging ich weiter, und dann sah ich die Gruppe : Frauen und Männer saßen im Halbrund auf dem Boden, und vor ihnen hatte im Schatten eines großen Baums ein alter Mann Platz genommen. Offenbar unterrichtete er sie, denn er sang zuerst, und die Gruppe wiederholte sehr einfühlsam die Töne. Ich trat näher, und nachdem ich mich hinter der Gruppe niedergelassen hatte, schaute ich mir den alten Mann, der lediglich mit einem Lendenschurz bekleidet war, genauer an. Von dem klaren Gesicht und den glänzenden Augen ging ein Strahlen aus, als würde ein Lichtschein sein Haupt umspielen. Der Gesang verstummte, offenbar war der Unterricht beendet. Die Frauen und Männer standen auf und schritten gemächlich davon. Nein, Arusa war nicht dabei, auch am Tag zuvor hatte ich vergeblich nach ihr Ausschau gehalten.
Außer mir und dem alten Mann befand sich nun niemand mehr auf dem Platz. Ich stand ein wenig verschüchtert vor ihm, und als sein warmherziger Blick auf mir ruhte, wurde ich mir meines eigenen Ichs bewusst. Jegliches Gefühl von Befremdung, das mich gestern noch zu ersticken drohte, fiel von mir ab. Ich spürte, dass ich hierher gehörte und diese Reise nicht umsonst getan hatte. Ich legte zum Gruß die Hand an die Stirn und sagte: »Meister, Ihr seid der, nach dem ich seit langem suche.«
Er schaute mich durchdringend an. »Bist du ein neuer Gast?«
»Ja.«
»Was willst du?«
»Ich reise von Land zu Land, um mein Wissen zu mehren.«
Für einen kurzen Moment schloss er die Augen, und als er sie wieder öffnete, sagte er: »Du hast die Heimat um des Wissens willen verlassen, aber dein Ziel mehrmals aus dem Blick verloren. Kostbare Zeit hast du im Finstern vergeudet. Dein Herz hängt an zwei Frauen, die eine hast du zurückgelassen, nach der anderen bist du auf der Suche.«
Ich fuhr erschrocken zusammen. »Ihr könnt das Verborgene lesen?«
»Das können alle, das und noch mehr.«
»Seid Ihr der Herrscher dieses Landes?«
»Es gibt hier keinen Herrscher. Ich behandle Menschen, deren Geist verwirrt ist.«
»O bitte, erklärt mir das genauer!«
»Alles zu seiner Zeit.«
Ich wies mit der Hand auf den Wald. »Warum erwidert niemand einen Gruß? Warum hört einem keiner zu?«
»Ihr Leben ist auf die Wahrheit und das Alleinsein ausgerichtet.«
»Die Leute machten auf mich den Eindruck, als würden sie alle vor sich hindämmern.«
»Bist du der Bitternis von Heimsuchungen ausgesetzt, eröffnet dir einzig Geduld das Tor zu trauter Zwiesprache.«
Ich dachte einen Moment über das eben Gehörte nach, dann fragte ich: »Aber was wollen die Menschen damit erreichen?«
»Sie sind Flüchtlinge und kommen aus den verschiedensten Regionen. Sie haben ihre Heimat verlassen, um sich von ihren verderblichen Gelüsten zu befreien und für die Reise ins Gaballand bereit zu sein.«
Ins Gaballand! Mir hüpfte das Herz vor Freude. »Ist das wirklich wahr? Dann finde ich hier also Gefährten, die mit mir ins Gaballand ziehen.«
Seine Augen blitzten mich belustigt an. »Auch du hast dich auf diese Reise vorzubereiten.«
»Wie lange dauert das?«
»Das hängt ganz von der Willenskraft des Einzelnen ab. Wer in seinem Eifer nachlässt, erhält den Rat, im Ghurubland zu bleiben.«
Mir wurde beklommen zu Mute. »Und wenn ich trotzdem auf meinem Wunsch bestehe?«
»In diesem Fall ist zu befürchten, dass man dich dort für eine niedere Kreatur hält.«
»Wie bereitet Ihr die Menschen auf die Reise vor?«
»Es hängt alles ganz allein von ihnen ab. Ich unterweise sie im Gesang, um den Weg vorzubereiten. Aber es ist an ihnen, die Kräfte, die in ihnen schlummern, zu erwecken.«
»So etwas Seltsames habe ich noch nie gehört«, murmelte ich verwirrt.
»Das geht jedem Neuankömmling so.«
Fast flehentlich fragte ich: »Wozu soll es gut sein, die Kräfte, die in einem verborgen sind, zu entdecken?«
»Jeder Mensch verfügt in seinem Innern über Schätze, deren er sich bewusst werden muss. Das gilt vor allem für die, die ins Gaballand aufbrechen wollen.«
»Aber was hat das mit dem Gaballand zu tun?«
Er schwieg lange, dann sagte er: »Weil man sich im Gaballand auf diese Schätze beruft und auf sinnliche Empfindungen oder körperliche Vorzüge keinen Wert legt.«
»Könntet Ihr mir nicht genauer erklären, um welche Schätze es sich handelt?«
»Nur keine Eile.«
»Und woran merke ich, dass ich diese Schätze gehoben habe?«
»Wenn du ohne Flügel fliegen kannst«, erwiderte er sehr bedächtig.
Ich starrte ihn verblüfft an. Aber beeindruckt von dem Ernst, mit dem er sprach, sagte ich: »Bestimmt meint Ihr das im übertragenen Sinn.«
»O nein, das ist die reine Wahrheit. Das Gaballand gründet sich auf solchen Kräften, deshalb rückt es auch dem Zustand der Vollkommenheit immer näher.«
Aufs Äußerste entschlossen, erklärte ich: »Dann könnt Ihr mich zu denen zählen, die ehrlichen Herzens dabei sind.«
»Dein Lohn wird sein, dass du im Gaballand leben darfst.«
»Ich will es nur besuchen«, sagte ich hastig. »Danach kehre ich in meine Heimat zurück.«
»Du wirst alles vergessen, die ganze Welt.«
»Aber mein Land braucht mich.«
Er sah mich erstaunt an. »Warum bist du dann weggegangen?«
»Ich begann die Reise in der Hoffnung, mit Erfahrungen zurückzukehren, die für meine Heimat heilsam sind.«
»Du bist geflohen«, erwiderte er unwillig. »Die Reise diente dir lediglich als Vorwand, um dich deiner Pflicht zu entziehen. Die anderen, die dieses Land erreicht haben, sind alle ihren Pflichten nachgekommen. Manch einer hat seine besten Jahre im Gefängnis verbracht, und zwar nicht wegen einer Frauengeschichte, sondern weil er einen hehren Kampf führte.«
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