«Ich habe nur das berichtet, was ich gesehen habe«, sagte Paul And-resen leise.»Seit drei Jahren fliege ich mit Betti, ich kenne Betti sehr genau. Ich weiß auch keine Erklärung dafür.«
«Seien wir glücklich, daß sie lebt und gesund ist. «Wolfgang Wolter legte seine Hand tröstend auf die weißen Haare seiner Mutter. Er spürte, wie sie innerlich zitterte, aber sie hatte die ungeheure Kraft, nicht zu weinen und wie versteinert dazusitzen.»Und warten wir ab, was uns die nächsten Tage oder Wochen bringen. Mehr als abzuwarten, bleibt uns ja nicht übrig.«
An einem Montag traf Oberst Jassenskij in Rolandseck ein.
Borokin begrüßte ihn mit saurer Miene, denn er wußte, was der Besuch des Obersten bedeutete.
«Willkommen am Rhein, Safon Kusmajewitsch«, sagte er sarkastisch.»Sie werden von dem Blick auf den Drachenfels und Petersberg begeistert sein. Und mit einem Fernrohr können Sie Konrad Adenauer direkt auf der Terrasse seiner Villa in Rhöndorf erblicken. Das ist bei dem Genossen Kossygin nicht möglich.«
Oberst Jassenskij war in keinerlei Stimmung, auf solche Reden einzugehen. Er war bedrückt. Der Chef des GRU in Moskau hatte ihn einen Versager genannt. Nur wer in Rußland lebt, weiß, was das bedeutet, und nur, wer schon einmal eine Uniform getragen hat, kann ermessen, was ein bedrückter Vorgesetzter bedeutet.
Für Borokin begann eine schwere Zeit.
Zunächst erfuhr er, daß Bettina Wolter Rußland verlassen hatte. Zusammen mit einem Kolka Iwanowitsch Kabanow und dessen Ziehsohn Dimitri Sotowskij. Noch wußte man nicht den genauen Weg, aber Meldungen vom Kaspischen Meer ließen ahnen, daß sie mit einem Fischerboot zur iranischen Küste gefahren waren.
«Pfui!«sagte Borokin voll vaterländischer Verachtung.»Ein Ingenieur des Ölkombinats! Welche Verworfenheit!«
Oberst Jassenskij sah Borokin mitleidig an.»Reden wir nicht um den heißen Brei herum, Jurij Alexandrowitsch. Die Lage ist fatal. «Jassenskij setzte sich in einen Korbstuhl auf der Terrasse und blickte über den in der Sonne leuchtenden Rhein, der hier wie silbern, aber nicht, wie er ist, lehmig-dreckig aussah. Aber er nahm das gar nicht wahr. Nicht das berühmte Panorama vom Drachenfels und Petersberg, Bad Honnef und der Insel Nonnenwerth. Nicht die weißen Schiffe auf dem Strom und die Zinnen der im Hochwald eingebetteten Drachenburg. Ein Mensch, der ertrinkt, lobt nicht das kühle, erfrischende Wasser.
«Was haben wir bisher erreicht?«sagte er, und Borokin wußte genau, wie die Antwort ausfiel.»Solange das Mädchen als verschollen galt, hatten wir alle Trümpfe in der Hand, über ihren Bruder etwas zu erfahren. Sie, Jurij Alexandrowitsch, hatten allein die Karten zwischen den Fingern. Was haben Sie daraus gemacht? Ein paar Meldungen über versteckte Radiostationen an der Zonengrenze, die noch gar nicht arbeiten und von denen wir nicht wissen, ob sie wirklich bestehen. Nennen wir es beim Namen: Sie haben Windeier gelegt!«
Borokin sah hinunter an den Rhein. Trotz der schwülen Sommerhitze war es kalt in ihm. Die Gnadenlosigkeit Moskaus wehte ihn an.
«Man kann in ein paar Wochen nicht alles das erfahren, was verlangt wird«, sagte er etwas heiser.»Genausogut könnte ich fragen: Warum hatte man keine Möglichkeit, Bettina Wolter in Grusinien festzuhalten? Warum konnte sie überhaupt die Sowjetunion verlassen? Noch vier Wochen, und wir wären weiter als heute gewesen.«
«Es hat keinen Sinn, zu denken, was wäre, Jurij Alexandrowitsch. «Oberst Jassenskij fächelte durch die stehende Luft. In Moskau begannen jetzt schon wieder die kühlen Tage. Aber so ist das, dachte Jassenskij. Sie verweichlichen hier im Westen, die Genossen. Wärme, Sorglosigkeit, weit weg vom Kreml, Weiber, Sekt, Kaviar, ein widerliches bourgeoises Leben — was kann da schon herauskommen? Drei Jahre ist dieser Borokin schon am Rhein. Viel zu lange. Er sollte abgelöst werden und nach Ulan-Bator kommen. Von rheinischen
Weinbergen in die mongolische Steppe, das ist die richtige Abwechslung.
Jassenskij sah Borokin kopfschüttelnd an.»Überlegen Sie mal, was nun los ist! Wir haben einen Sarg mit den sterblichen Überresten Bettina Wolters freigegeben. Er ist in Hamburg.«
«Um Gottes willen!«entfuhr es Borokin. Jassenskij lächelte verkniffen.
«Wie stehen wir da?!«sagte er dumpf.»Lächerlich machen wir uns.«
«Ist es meine Schuld, Genosse Oberst? Wer hat diesen blöden Sarg denn nach Hamburg geschickt?«
Jassenskij vermied es, darauf eine Antwort zu geben. Wer tritt sich schon gerne selbst in den Hintern? Ganz davon abgesehen, daß dies eine artistische Leistung wäre.
«Fragen wir anders, Genosse«, bellte Jassenskij.»Warum haben Sie aus diesem Oberleutnant Wolter nicht mehr herausgeholt? Sie hatten alle Druckmittel in der Hand. Nun steckt die Karre im Dreck! Man weiß jetzt, wer Sie sind, man wird in kürzester Zeit wissen, daß der Sarg ein Betrug ist, man wird uns lächerlich machen. Ich kann Ihnen sagen, daß man im Kreml so sauer ist, als habe man Essig in den Adern. Und Sie stehen hier auf der Terrasse und singen Rheinlieder.«
Das war maßlos übertrieben, aber Borokin verzichtete darauf, Oberst Jassenskij zu berichtigen. Er sagte vielmehr das, was jeder Russe in seiner Lage gefragt hätte:»Wann muß ich nach Moskau, Genosse?«
Jassenskij schielte zu ihm hoch. Er hielt nicht viel von sinnlosem Heldentum.»Zunächst müssen wir sehen, daß wir soviel wie möglich ausbügeln«, sagte er nachdenklich.»Wir stehen in einem Wettrennen mit der Zeit. Ich habe Ihre Berichte gelesen; sie sind Mist, Jurij Alexandrowitsch. Diese Sache mit dem Weibsstück Irene Brandes, sie mußte schiefgehen. Mutter hin — Mutter her: Wenn sich solch ein Täubchen richtig verliebt, ist der Mann wichtiger als das Mütterchen. Das hätten Sie wissen müssen.«
«Irene Brandes tat alles für ihre Mutter«, antwortete Borokin mit rostiger Stimme.»Seit zwei Jahren war sie unsere beste Schlepperin. Sie hat uns bisher sechs Agenten gebracht.«
«Aber dieser Oberleutnant ist etwas anderes. Borokin, ein Weib arbeitet mit dem Herzen! Doch was hilft's? Wir klagen uns nur an, und es geschieht nichts.«
«Und was soll geschehen, Genosse Oberst?«
«Am meisten drückt mich der dumme Sarg in Hamburg.«
«Das dürfte die blamabelste Geschichte werden, die in den letzten Jahren passiert ist.«
«Und deshalb muß Ihnen etwas einfallen, Jurij Alexandrowitsch. «Oberst Jassenskij erhob sich aus seinem Korbsessel und trat in den Schatten des schloßähnlichen Hauses der Botschaft zurück.»Mit dem Oberleutnant werde ich selbst einmal sprechen. Vermitteln Sie einen Treff. Wo findet er sonst statt?«
«Am Rheinufer bei Köln oder in einem Waldstück des Stadtwaldes.«
«Also: Treff für morgen! Und kümmern Sie sich um den Sarg!«Das war keine normale Unterhaltung mehr, sondern ein Befehl. Bo-rokin verstand, nickte stumm und wußte, daß seine schöne Zeit am Rhein vorüber war.»Und packen Sie vorsorglich!«Jassenskij sah an Borokin vorbei auf die Insel Nonnenwerth. Das kleine Glöcklein im Turm des Klosters begann zu bimmeln.»Es kann sein, daß wir schnell wieder zurück nach Rußland müssen.«
«Es wird alles vorbereitet, Safon Kusmajewitsch«, sagte Borokin dumpf.
Ein eigenartiges Gefühl ist es, Freunde, plötzlich zu wissen, daß man ein Nichts geworden ist.
Bis heute weiß man noch keine Erklärung dafür, wie es möglich war, daß aus der verschlossenen Leichenhalle des Hamburger Nordfriedhofes ein plombierter und verlöteter Zinksarg über Nacht verschwinden konnte. Kein Fenster war zertrümmert, kein Schloß auf-gebrochen, keine Wand eingestemmt. Die merkwürdigen Diebe mußten mit einem Nachschlüssel gearbeitet haben, unauffällig und fachmännisch. Sogar einen Leichenwagen hatten sie bei sich. Die Radspuren waren deutlich im sandigen Boden zu erkennen.
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