«Sie leben beide«, sagte der Fischer, der als erster an Bord gesprungen war.»Ohnmächtig sind sie. Der Sturm hat sie schön erwischt. Und die anderen sind von den Wellen weggespült. Verdammt, woher mögen sie kommen?«
Zunächst war es wichtig, das Boot soweit leer zu schöpfen, daß es im Schlepp der beiden Ruderboote mitglitt. Fünf Fischer holten mit Eimern das Wasser aus dem Boot, bis nur noch der Boden bedeckt war. Zwar lag Kolka noch immer mit den Füßen im Wasser, aber das beachtete man nicht, denn aufgeweicht war er sowieso.
Am Ufer erwarteten Frauen, Kinder und die anderen Fischer den Schleppzug. Das ganze Dorf war versammelt, und als man von den Kähnen an Land rief:»Wir haben zwei Ohnmächtige an Bord!«rannten zwei größere Jungen los und holten den alten Fedja aus seiner Hütte, den einzigen, der etwas von Heilkunde verstand, denn er war früher Sanitäter beim Militär gewesen.
Man muß das Leben in diesen einsamen Gegenden kennen, um zu verstehen, wie wichtig der alte Fedja war. Der nächste Arzt wohnte 57 Werst nördlich, und ehe er kam, auch wenn er guten Willens war und mit einem Jeep über die staubige Küstenstraße raste, war es oft schon zu spät, denn die Fischer riefen einen Arzt nur, wenn es aufs Letzte ging. Zwar gab es, ganz in der Nähe, noch einen anderen Arzt, 21 Werst südlich, an der persischen Grenze, einen Militärarzt der dort stationierten Schützenbrigade, aber den hatte man nur einmal geholt. Er war ein guter Arzt, gewiß, aber er trug eine Uniform, und wer das Dorf, in das Kolka und Bettina vom Sturm verschlagen wurden, genauer kennt, wird verstehen, daß eine Uni-form das letzte ist, was die Fischer ertragen konnten.
So war Fedja der richtige Mann. Er kannte Aspirin und Tees, er scheute sich nicht, bei den Geburten die Weiber kräftig anzufassen und sie anzuschnauzen, wenn sie jammerten (was ungemein guttut, Freunde, denn eine gebärende Frau kann keine wehleidigen Gesichter ertragen!), kurzum: Fedja, der Alte, wurde geholt.
Unterdessen hatte man Kolka und Bettina aus dem Boot gehoben und trug sie in die Vorratshalle, wo die Netze trockneten und geflickt wurden, wo die Fische in großen Fässern gesalzen wurden, wo man Ruder ausbesserte und Reusen flocht. Eine große Hütte mit festem Strohdach, an deren Dachbalken die Schnüre mit Stockfisch hingen.
Je zwei Fischer trugen die schlaffen, aufgeweichten Körper in die Hütte und legten sie vorsichtig auf lange Kisten nieder, entkleideten sie und begannen, das Wasser aus ihren Brustkörben herauszupumpen. So traf sie der alte Fedja an, der mit einer Flasche Wodka und Riechsalz herankam. Zwei weiße Menschlein, denen das Meerwasser aus den Mündern rann und deren Körper zuckten unter den breiten Händen der kräftigen Fischer.
«Ein herrliches Weibchen!«sagte einer, der Bettinas Brustkorb drückte.»Eine wahre Freude ist's, da zu massieren.«
«Er bleibt ein Ferkel, der Wassilij«, rief ein älterer Mann, der sich um Kolka bemühte, ihn ohrfeigte, anrief und immer wieder schüttelte,»lös in ab, Fedja… in der Lunge hat sie Wasser, nicht in den Brustwarzen!«
«Sie werden gleich sagen, wer sie sind«, behauptete Fedja, drängte Wassilij, den Streichler, weg und hielt Bettina das Riechsalz unter die Nase. Dann holte er einen kleinen Löffel aus der Tasche, wischte ihn am Ärmel ab, goß ein wenig Wodka darauf, preßte mit den Fingern Bettinas verkrampfte Zähne auseinander, schüttete den Wodka in den Mund und ließ die Zähne wieder zuschnappen.
Bettina hustete. Ihr weißer zitternder Körper verkrampfte sich, sie rollte sich auf die Seite, die Arme bewegten sich, die Hände krallten sich an die Kiste, und dann übergab sie sich und der Rest des
Meerwassers kam aus ihrer Lunge und dem Magen. Nicht schön sah es aus, aber es rettete ihr das Leben.
Nebenan erging es Kolka nicht anders. Nur reagierte er schneller als Bettina. Er roch den Wodka, er schmeckte ihn auf der Zunge, er schluckte ihn hinunter und er erbrach ihn wieder — aber gleich munter war er dadurch, die Augen nahmen die Umwelt wahr, und während er noch würgte, in den kurzen Pausen bis zum nächsten Schuß Meerwasser aus seinem Magen, keuchte er:»Haltet den Wodka bereit. Dank, Freunde, Dank. Oh, dieses Meer! Oh!.. Mein Magen kommt mit, Genossen. Ich kotze mir die Lunge aus.«
Dann saß er auf der Kiste, schlaff und müde und mit zuckendem Magen, sah auf Bettina, die von Fedja gehalten wurde und ganz langsam, Schlückchen für Schlückchen, Wodka aus dem Löffel trank, und umarmte die beiden neben ihm stehenden Fischer und tat einen Schrei, der alle zusammenzucken ließ.
«Wir leben!«brüllte er dann.»Wir leben! Freunde, wo sind wir? Seid ihr gute Menschen? Ach, was frage ich? Und wenn ihr Satane wärt: Wir atmen wieder. Schrecklich ist's, mit offenen Augen zu sterben. Oh, wie ich es hasse, das Meer!«
«Du bist kein Fischer?«fragte der ältere der Männer und schob Kolka als Stütze einen Sack Hirse in den Rücken.
«Ich komme aus Tiflis, Bürger.«
«Und das Boot? Es war einmal ein gutes Fangboot. Woher ist es?«
«Von einem guten Freund. Agafonow heißt er. «Kolka blickte zur Seite. Dort hatte man Bettina wieder zurückgelegt, wickelte sie in Decken und hob sie hoch, um sie wegzutragen. Sie sagte kein Wort; nur ihr großen blauen Augen sahen umher, erfaßten Kolka und blickten ihn lange an. Sie war zu schwach, um zu sprechen, und doch schien sie etwas zu sagen, denn ihre Lippen bewegten sich.
«Ich komme mit«, sagte Kolka und nickte ihr zu.»Freunde, wohin bringt ihr sie?«
«Zu mir«, sagte der große Fischer.»Meine Frau wird euch pflegen. Ich bin Gawril Andrejewitsch Kokurin.«
Es war eine gute Idee, Bettina und Kolka dorthin zu bringen. Die
Kokurina, eine große, stämmige Frau, fragte nicht lange, ob es recht sei, sie wusch Kolka und Bettina mit heißem und dann kaltem Wasser und schrubbte sie mit einer harten Bürste, daß die Haut brennendrot wurde.
Dann gab sie ihnen heiße Milch mit Honig zu trinken, kochte einen fleischigen weißen Fisch und übergoß ihn mit Dilltunke. Es war ein Festtag nach all der Qual, und Kolka und Bettina fühlten sich, als habe der Sturm sie geradewegs in den Himmel getrieben.
Am frühen Morgen wachte Kolka auf und fühlte sich frisch wie nie. Neben ihm lag Bettina und schlief noch, und er kroch ganz leise unter den Decken heraus, tappte mit bloßen Füßen aus der Stube und suchte die Küche, den Zentralraum eines russischen Hauses.
Das Haus war leer. Gawril war schon auf dem Meer und fischte, und die Kokurina stand draußen an einem Holzbottich und wusch Wäsche. Dazu schlug sie mit einem flachen Schlegel auf die dampfenden Teile, und ihre mächtige Brust wogte im Dunst der kochenden Lauge. Ein wohltuendes Bild von Kraft, so fand es Kolka, trat vom Fenster weg und schnupperte zum Herd hin, wo es nach gebratenem Fisch roch.
Aber er kam nicht bis zu der angestellten Pfanne. In der schönen Ecke — der Ecke, in der der Tisch steht und wo früher eine Ikone mit dem ewigen Licht und einem Strauß Strohblumen hing — sah Kolka ein Bild.
Eine in einen einfachen Holzrahmen eingefaßte, verwaschene, undeutliche, verblichene Fotografie. Ein tief verschneiter Wald. Im Eis erstarrte Bäume. Die himmelhoch ragende Wand eines Urwaldes. Taiga.
Und davor, im Schnee, bis zu den Knien eingesunken, eine Gruppe Menschen.
Männer in grauen langen Mänteln. Den Kragen hochgeschlagen. Selbstgeschnitzte Pfeifen im Mund. Auf den Köpfen die sibirischen Pelzmützen mit den langen Ohrenklappen. Hohlwangige, ausgehungerte, aber lachende Gesichter. Tiefliegende Augen, aber ein Glanz in ihnen, der hieß: Wir haben überlebt!
Und der Rauch ihrer Pfeifen lag wie eine geballte Masse Dampf über ihren Köpfen, zwischen den kleinen Menschen und der riesigen Taiga.
Kolka hob den Kopf und schnupperte.
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