Schöne Abende wären das gewesen, hätte nicht immer die Furcht im Nacken gesessen, ein Patrouillenboot könnte auftauchen und die Flucht aus Tiflis in die Tragödie vom Untergang einer Familie verwandeln.
Am dritten Tage kamen Kolka einige Bedenken. Er hatte sie schon lange, aber er sprach sie jetzt erst aus.
«Wie ist das eigentlich, Herzchen?«sagte er und gab Agafonow eine grusinische Zigarre.»Wird man dich zu Hause vermissen?«
«Ich glaube schon«, antwortete Daniel Alexandrowitsch und biß die Spitze der Zigarre ab.»Ich habe eine Frau und neun Kinder.«
«Was werden sie jetzt tun?«
«Jammern und schreien. Und dem Wildwellengeist ein Opfer bringen. «Agafonow sah dem ersten Rauchring nach, der im Mondlicht zum Mast emportrieb. Eine Zigarre, dachte er. Wie ein Kapitalist!
Wer hat in unserem Dorf schon jemals eine Zigarre geraucht? Der Natschalnik von der staatlichen Fischsammelstelle, gewiß. aber so ein einfacher Fischer mit neun Kindern. nicht daran zu denken.»Sie werden denken, ich sei mit dem Boot abgetrieben.«
«Aber die See war doch ganz ruhig.«
«Das stimmt«, sagte Agafonow nachdenklich.
«Und am Ufer standen zwei Pferdchen und ein Wagen, von denen niemand weiß, wem sie gehören.«
«Das wird einen Auflauf gegeben haben.«
Kolka Iwanowitsch nahm einen tiefen Schluck Wodka. Er war sehr in Sorge.»Sie werden das sofort dem Sowjet gemeldet haben. Der Miliz. Der Partei.«
«Das könnte sein.«
«Und dann sucht man uns.«
«Mit einem Hubschrauber. «Agafonow sah auf seine Zigarre.»Wieviel Zigarren hast du bei dir, Brüderchen?«
«Zwanzig. Und drei Flaschen Kognak.«
«Das ist ein schönes Wort. «Agafonow griff zu seiner Handharmonika.»Sie werden uns nicht finden, Kolka Iwanowitsch. Wo bekomme ich jemals wieder zwanzig Zigarren und drei Flaschen Ju-bileiny?«
Sie schlugen einen Bogen, weit aufs Meer hinaus, wo kein Hubschrauber sie suchen würde, denn dorthin verirrt sich kein Boot und wird auch keines entführt. Und so trieben sie sieben Tage über das Kaspische Meer, bräunten in der Sonne, fingen Fische, sangen zu Agafonows Musik und fanden das Leben herrlich.
Nur nachts, wenn Agafonow schlief und grauenhaft schnarchte, starrten Kolka und Bettina auf das leise gekräuselte Meer und dachten den gleichen Gedanken.
Was mochte mit Dimitri sein?
War er noch in Beirut? Wartete er noch auf sie? Hatte er irgendwo Unterschlupf gefunden?
Oder war er wieder zurückgeflogen nach Tiflis, in die Heimat, zu der er gehörte wie der Samen der Maulbeerbäume?
Dimitri.
Bettina legte ihr Gesicht auf beide Hände. Sie sah ihn vor sich… seine schwarzen Locken, seine strahlenden Augen, seine fröhlichen, immer lachenden Lippen.
«Er wartet auf uns«, sagte Kolka und legte den Arm um ihre Schulter.»Er liebt dich, Kleines. Und ich kenne doch Dimitri, mein Söhn-chen.«
In der deutschen Handelsmission in Beirut waren an dem Abend, an dem sich Dimitri Sergejewitsch entschloß, aus Liebe zu einer Frau seine sowjetische Heimat zu verlassen, nur ein Nachtportier und ein Stenograf vorhanden, die sich nicht zuständig erklärten für einen um politisches Asyl bittenden geflüchteten Russen. Sie ließen Dimitri zwar ins Gebäude, aber nur bis in die Eingangshalle; dort saß er auf einer kalten marmornen Bank und erklärte dem nicht zuständigen Stenografen, daß er nach Deutschland wolle.
«Aus Liebe«, sagte er ehrlich.»Verstehen Sie das, Gospodin?«
Der Stenograf verstand das nicht; vielmehr glaubte er, das sei ein Besoffener, und Betrunkene soll man nach Erfahrung aussprechen lassen und nicht reizen. Hinzu kam der Smoking. Hat man schon gesehen, daß jemand in einem Smoking um Asyl bittet? Ohne Köf-ferchen in der Hand, aber mit einem weißen Ziertuch in der Brusttasche?
Ein klarer Fall von Belästigung durch Trunkenheit.
«Wo ist der Leiter der Handelsmission?«fragte Dimitri, nachdem er eine halbe Stunde auf der kalten Steinbank gesessen hatte. Er sprach das harte Deutsch, wie es alle Russen sprechen, die diese Sprache auf der Schule gelernt haben.
«Beim Empfang des Nobelpreisträgers Bunche im Hotel >Arab<���«, sagte der Stenograf mißmutig. Er war müde. Sein Dienst ging in einer halben Stunde zu Ende. Erfahrungsgemäß trafen nachts keine Telegramme mehr ein, denn in der Welt war es verhältnismäßig ru-hig. Vietnam, na ja, aber das war weit entfernt von Beirut. Und auch Nasser in Ägypten war ruhiger geworden. Ab 22 Uhr übernahm eine Telefonistin die Wache in der Nachrichtenzentrale der Handelsmission, und der Stenograf hatte eine Verabredung mit einer libanesischen Schönen.
«Vom Hotel >Arab< komme ich ja«, sagte Dimitri und lächelte schwach.
«Bitte! Warum haben Sie den Chef nicht dort angesprochen?«
«Ich habe den Saal nicht betreten. Wir stehen unter Kontrolle. Ich kann doch nicht in einem Hotelsaal um Asyl bitten. Ich bin Dimitri Sergejewitsch Sotowskij. Ingenieur des Ölkombinats in Tiflis.«
«Angenehm. Heinrich Friedrich Schmitz. «Der Stenograf sah an die Stuckdecke der Halle. Was soll ich mit ihm, dachte er. Warum kommt er auch um eine solch dumme Zeit und will flüchten?
«Können Sie Ihren Vorgesetzten nicht anrufen?«fragte Dimitri.
«Unmöglich! Warum denn?«
«Ein Mensch sucht Schutz.«
«Deswegen können wir doch nicht einen Empfang des Friedensnobelpreisträgers stören!«
«Das stimmt. «Dimitri starrte auf den Boden. Er kam sich armselig vor, wie ein Bettler, der um einen Teller Suppe bettelt und dem man eine Tasse voll heißen Wassers gibt.»Wann sind denn die Herren da?«
«Die einzelnen Abteilungsleiter kommen gegen neun Uhr morgens. Das Sekretariat ist zwar früher da… aber die können ja nicht entscheiden.«
«Danke. «Dimitri erhob sich. Trotz der lauen Nacht fröstelte ihn.»Können Sie mir eine Taxe besorgen?«
«Aber ja.«
Zehn Minuten später verließ Dimitri die deutsche Handelsmission in Beirut. Er warf sich in den Wagen, sah zurück, hob die Schultern und beugte sich zu dem Fahrer vor.
«Ambassadeur americain«, sagte er in holprigem Französisch. Der Fahrer nickte und raste los. In Beirut hatten die Autos anscheinend keinen ersten und zweiten Gang.
Die amerikanische Botschaft war auch nur schwach besetzt, auch ihr Botschafter war im Hotel >Arab< und machte die Honneurs für Ralph Bunche. Aber der Militärattache war noch anwesend, in Galauniform, und arbeitete einige Meldungen aus Washington auf, die gerade per Fernschreiber gekommen waren. Man sah, daß er es eilig hatte, denn im Hotel >Arab< wartete Maud auf ihn, die Tochter eines englischen Bankiers.
Verwundert starrte Major Hawkins auf den großen, eleganten Mann im Smoking, der in sein Zimmer geführt wurde und sich als Dimitri Sotowskij vorstellte.
«Was kann ich für Sie tun, Mister Sotowskij?«fragte er.
«Ich spreche kein Englisch«, antwortete Dimitri.»Können Sie Deutsch?«
«Ein wenig.«
«Sehr schön. «Dimitri richtete sich auf, straffte den Oberkörper, als wolle er eine Meldung machen.»Ich bitte um politisches Asyl. Ich gehöre zu einer Gruppe sowjetischer Ölfachleute aus Tiflis und möchte im Westen bleiben.«
«Das ist wieder einmal ein dicker Hund, der ausgerechnet zur falschen Zeit an die Laterne pißt!«sagte Major Hawkins in bestem Te-xanisch. Dimitri verstand gar nichts; er lächelte, weil er glaubte, es sei etwas Gutes.
«Ich bin vor dem Empfang geflüchtet«, sagte Dimitri.»Ich habe alles zurückgelassen. Sogar der Smoking ist geliehen.«
«Und nun wollen Sie in die USA?«Hawkins setzte sich, schob ein Päckchen Zigaretten über den Tisch und lehnte sich zurück. Good night, liebe Maud, dachte er. Dieser Russe kostet uns fünf Stunden Zärtlichkeit. Und gerade heute bin ich so gut in Form.
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