Am Nachmittag dieses 29. Juni 1930 ging er grüßend an dem Portier vorbei, hinaus in den strahlenden Sonnenschein. Sein hellgrauer, nach neuester Mode geschnittener Freskoanzug und sein weißer Panamahut leuchteten noch lange auf der geraden Straße, bis er mit energischen Schritten in Richtung des Botanischen Gartens abbog.
Unter den Bäumen des Parkes verlangsamte er seinen Schritt und bummelte vergnügt an den schönen, breiten Grachten entlang, beobachtete die Angler an den kleinen Fußgängerbrücken, das Leben in den reich dekorierten Geschäften und schlenderte dann weiter die Nieuwe Heerengracht hinab.
Kurz am Ende der Straße, wo sie auf das Entrepot-Dock mündet und das Park-Theater steht, fühlte er plötzlich ein heftiges Unwohlsein und ein Schwindelgefühl, das ihn einen Augenblick wanken ließ. Verwundert sah er sich um, rückte den Panama ein wenig aus der Stirn und fühlte dabei, daß ihm kalter Schweiß auf der Stirn stand.
»Zu dumm!« murmelte Dr. Albez und blieb stehen, weil seine
Beine schwer wie Blei wurden und die Kniegelenke einzuknicken drohten. »Jahrelang lebt man in der größten Hitze, und gerade hier muß einem schlecht werden. Man wird alt, lieber Fernando, und die Nerven ... ja, die Nerven ...«
Er versuchte weiterzugehen, aber seine Füße schienen auf dem Asphalt festzukleben. Ein Brausen und Summen kreiste durch seinen Kopf, es war, als habe er einen festen Schlag auf den Hinterkopf bekommen, bunte Sterne tanzten vor seinem sich trübenden Blick, die Straße, die Häuser, die Docks, die Grachten wurden wie von einem Nebel überzogen, der Lärm der Straße klang fern und fremd an sein Ohr.
Sprachlos über diesen ungewohnten Zustand versuchte er, einen in der Nähe einer Bank stehenden Baum zu erreichen. Mit ungeheurer Mühe gelang es ihm, die wenigen Schritte zu gehen. Dann lehnte er sich an den rissigen Stamm, nahm den Hut ab und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Es war ihm, als würde ihm der Kragen seines Seidenhemdes zu eng, mit zitternden Fingern wollte er die Krawatte etwas lösen, da begann er zu taumeln, sah noch einige Passanten hinzuspringen, fühlte mehr, als daß er es sah, wie man ihn zu der nahen Bank führte und dort hinsetzen ließ ... dann flimmerte es wieder vor seinen Augen, die nebelige Straße begann sich zu drehen, die Gesichter der Menschen wurden zu Fratzen und die Fahrzeuge auf den Grachten zu widerlichen Ungeheuern. Er wollte schreien, um Hilfe rufen, wollte vor diesen ekeligen Fratzen weglaufen, wollte um sich schlagen und spürte doch, daß sein Körper wie mit Blei gefüllt war und immer tiefer in die Bank einsank ... in das Holz ... durch das Holz hindurch ... und dann fiel er ... endlos ... ewig ... ein Abgrund ohne Boden saugte ihn auf ... bis die tiefe Dunkelheit alles Bewußtsein aufsaugte ...
»Er ist ohnmächtig geworden«, sagte ein Mann und legte den Oberkörper des Fremden in dem vornehmen Freskoanzug so an die Lehne der Bank, daß er nicht nach vorn übersank. »Die Hitze ist heute aber auch unvorstellbar.«
Dann zerstreuten sich die Menschen. Die nach ihnen kommenden Passanten sahen nicht sonderlich interessiert auf den schlafenden Mann auf der Bank des Botanischen Gartens ... man war dies an Sommertagen gewöhnt, es gehörte gewissermaßen zum Straßenbild. Und man lächelte sogar, daß die Sommermüdigkeit die feinen Herren genauso überkam wie den Dockarbeiter, der zwei Bänke weiter sein Schläfchen nach der schweren Schicht herunterschnarchte.
Dr. Fernando Albez verschlief das Zusammentreffen mit Konsul Don Manolda.
Die Abendschatten glitten schon über die Grachten und fingen sich in den Bäumen des Botanischen Gartens, als Dr. Albez endlich erwachte. Gähnend rieb er sich die Augen, zuckte dann empor, schaute auf die Uhr am Park-Theater und sah sich auf der Bank nach einem Gegenstand um.
»Meine Aktentasche«, sagte er plötzlich laut. »Wo ist meine Aktentasche?!« Die Passanten blieben stehen und kamen näher. »Meine Aktentasche ist gestohlen worden!« sagte Dr. Albez laut. »Hier, hier hat sie gelegen! Ich habe sie neben mich gestellt
- mir wurde schlecht, ich habe mich auf diese Bank gesetzt und muß wohl geschlafen haben! Und da hat man sie gestohlen.«
Er wollte in die Tasche greifen, um ein Taschentuch zu holen, da blieb er wie versteinert stehen, kniff die Augen zusammen, riß sie wieder auf, blickte an sich herunter, betastete sich und den hellen Feskoanzug, befühlte sein Hemd, seine Schuhe, sah einen wundervollen Panamahut auf der Bank liegen und fuhr mit zitternden Fingern über den wertvollen Brillantring an seiner linken Hand.
»Was ist das?« stammelte er. »Was ist denn das?« Er blickte sich um, sah in erstaunte, zum Teil belustigte Gesichter und fühlte, daß man ihn für einen Betrunkenen hielt. »Glauben Sie mir, meine Herrschaften - ich bin bestohlen worden! Ich hatte einen anderen Anzug an, ein anderes Hemd - hier dieser Ring gehört mir gar nicht ... und dieser Hut da ... ich habe mir nie einen Panama leisten können. Glauben Sie mir doch ... ich schlafe hier vor einer Stunde ein, und wie ich jetzt erwache, habe ich fremde Sachen an und bin bestohlen.«
Er fuhr mit der Hand in die innere Rocktasche.
»Nichts!« rief er. »Auch meine Brieftasche ist weg! Mein Paß, meine neue Gehaltsbescheinigung! Und das Gummipüppchen ...«, er faßte in die Tasche ... »Auch das Gummipüppchen ist weg! Ich habe es vorhin noch gekauft, bei Vermeeren an der Ecke, ein Gummiäffchen für meinen Fietje ... «
Die Passanten lachten und gingen weiter. Man hielt ihn für einen leichten Fall von Blödheit, harmlos, witzig - lachend sah man sich um und weidete sich an der Ratlosigkeit des Irren.
Dr. Albez tastete sich von neuem ab und sah sich dann um. Verwundert sah er an der Ecke der Heerengracht ein neues, großes Geschäft, das vor einer Stunde noch nicht dagewesen war, sah auf den Straßen völlig neue Autotypen und eine Mode, die vor einer Stunde noch nicht getragen wurde.
Völlig aus der Bahn geworfen, ratlos, verwirrt, erschüttert und ein wenig ängstlich setzte er sich wieder auf die Bank und spielte mit dem Panamahut.
»Was wird Antje sagen, wenn ich so nach Hause komme«, fuhr es ihm durch den Kopf. »Antje, die so sparsam ist, die jeden Gulden dreimal herumdreht, ehe sie ihn ausgibt.« Und er schlief am hellen Nachmittag auf der Bank ein, ließ sich bestehlen und sogar umziehen.
Dr. Albez schüttelte den Kopf und starrte vor sich auf die Straße. Die Abendschatten hatten mittlerweile die Bank erreicht und umspielten die Gestalt in dem hellen Freskoanzug. Der Brillantring am kleinen Finger der linken Hand glitzerte.
Was soll ich tun, dachte Dr. Albez. Soll ich so nach Hause gehen? Oder soll ich erst die Polizei um Hilfe anrufen? Aber man hat doch keinen Anhaltspunkt. Solch einen Anzug, wie ich ihn hatte, gibt es in Amsterdam zu Tausenden. Und was will man ausgerechnet mit einem solch abgetragenen Anzug? Wenn man stiehlt, dann sucht man sich doch Werte aus! Was wollte man an mir stehlen? Das Gummipüppchen?! Er mußte lächeln trotz seiner Ratlosigkeit. Das Gummipüppchen für Fietje ... gestohlen ...
Das Rätsel um ihn wurde riesengroß und wuchs über ihn hinaus. Er kam sich klein und armselig vor. Und er wagte nicht, nach Hause zu Antje zu gehen ...
Plötzlich hatte er einen Gedanken. Er stand auf, ging zum Park-Theater und bat den Portier, einmal telefonieren zu dürfen. Dann wählte er die Nummer der gutmütigen Postinspektorswitwe, der Etagennachbarin, und wartete, bis sich ihre Stimme im Apparat meldete.
»Ja? Ist dort Noorderstraat? Ja? Hier ist Pieter van Brouken ... kann ich meine Frau ...«
Erschreckt hielt er inne. Aus dem Apparat kam mit erhobener Stimme eine Menge von Schimpfworten und Frechheiten, die ihn verstummen ließ. Hilflos hörte er die Worte »Flegel, Unverschämtheit, Polizei benachrichtigen, Lümmel« und legte dann zitternd den Hörer auf die Gabel. Als er sich umdrehte, sah er, wie der Portier sich in eine Ecke gedrückt hatte und ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Auf seine Frage gab er keine Auskunft, sondern stierte ihn stumm an. Kopfschüttelnd verließ Pieter van Brouken - so wollen wir ihn wieder nennen -das Parktheater und machte sich schweren Herzens auf, Antje unvorbereitet von dem ungeheuerlichen Geschehen zu unterrichten.
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