»Danke, Chef.« Galbez grinste. »Es kann nicht jeder den Geist eines Chefkommissars haben! - Wann soll ich fahren?«
Selvano blickte nach rückwärts auf eine Tafel mit Zug- und See-Verbindungen.
»Am besten ist, Sie steigen noch in den 23-Uhr-Zug nach Madrid ein. Danri können Sie morgen abend in Amsterdam sein.«
Galbez stand auf und ergriff seine Aktentasche.
»Und was wird mit Biancodero?«
»Den hole ich am Hafen persönlich ab. Ist Ihr Aufenthalt in Amsterdam ergebnislos, ist auch Biancodero für mich ohne Interesse. Wir können dann zur Tagesordnung übergehen.«
Galbez nickte und verließ das Zimmer. Draußen auf dem Flur pfiff er leise durch die Zähne und steckte sich dann eine Zigarette an.
»Ich glaube, er verkennt den Jungen«, sagte er leise vor sich hin. »Man sollte ihn nie aus den Augen verlieren ...«
Ein Kollege vom Erpresserdezernat kam ihm entgegen und klopfte ihm auf die Schulter.
»Na, alte Spürnase«, rief er. »Wieder auf Tour? Hast wieder Wind bekommen? Wo geht's denn hin?«
Primo Galbez grinste über das ganze Gesicht.
»Zur Schwiegermutter«, sagte er lustig. »Will mich beschweren! Meine Frau hat Zwillinge bekommen ...«
Die Reise Primo Galbez' nach Amsterdam war ein völliger Fehlschlag. Konsul Don Manolda war im Hotel gar nicht angemeldet, in Den Haag wußten der Diener und der Sekretär nur, daß der Konsul seit sechs Wochen auf unbekannten Reisen war, eine Haussuchung in der Villa war negativ, und was
Trambaeren und Ferdinand Brox über die Affäre Pieter van Brouken erzählten, über diesen einwandfreien Selbstmord des kleinen Sparkassenbeamten, war so klar und im Vergleich zu der Person Biancoderos dermaßen absurd und verschieden, daß Primo Galbez genickt und leicht beschämt nach Lissabon zurückfuhr.
Selvano entschloß sich endlich, die unbekannte Leiche wieder begraben zu lassen und machte damit einen Strich unter ein Aktenstück, das zu den geheimnisvollsten Fällen der Kriminalgeschichte überhaupt gehörte: drei bekannte und ein unbekannter Toter, Motive in Massen, Indizien von erdrückender Fülle, Kombinationen von völliger Klarheit - aber kein einziger Beweis, kein Licht in das Dunkel der Mutmaßungen, und vor allem in der Folge der Geschehnisse im Grunde genommen kein Sinn.
Und dann die Gestalt dieses Jose Biancodero! Unantastbar, unwissend um alle Dinge, die um ihn herum geschahen, mißbraucht zu einem ekelhaften Schmuggel und selbst in der Gefahr, ein Ende zu nehmen wie alle, die in diesen Fall verwickelt waren. Er stand weit außerhalb jeglichen Verdachtes und war doch der Drehpunkt des ganzen Geschehens - wenn es überhaupt ein Geschehen gab!
Das war es, was Selvano so aus der Fassung brachte! Ein Aktenbündel Material, nach dem jeder Staatsanwalt ein >Schuldig< beantragen würde, und doch kein handgreiflicher Grund, Anklage gegen eine der verdächtigen Personen zu erheben.
Jose Biancodero saß wieder auf seinem Felsennest bei Azenhas do Mar und starrte den Sonnenuntergang auf dem Meer an, wartete auf den Tag, an dem er von diesem Leben einmal erlöst würde - wie er einmal zu Selvano sagte - und begann wieder um ein Mädchen zu trauern, das in den Akten der Polizei eine dunkle und mehr als geheimnisvolle Rolle spielte. Ihr Tod war für Selvano das größte Fragezeichen des ganzen Falles, und seine Kombinationen, daß sie das Doppelleben ihres Onkels entdeckt hatte und deshalb vor Scham in den Tod gegangen war, trafen zwar den Kern der Sache, ließen sich aber - wie alles in diesem großen Rätsel - nicht im geringsten beweisen.
So schloß Selvano einen Fall ab, der die größte Blamage seiner Laufbahn wurde und der ihn mit dem Gedanken spielen ließ, seinen Abschied zu nehmen. Aber der Polizeipräsident, den er mit dem Antrag um Ruhestellung besuchte, redete ihm seinen Entschluß aus, und so saß Selvano, vergrämt und verschlossen selbst vor Primo Galbez, in seinem Dezernat und zeigte eine Strenge, die ihn bald zu dem Schrecken der kleinen Kokainschmuggler werden ließ.
Nur eine Befriedigung hatte er: Seit dem Tode Baron v. Pottlachs und dem Verschwinden des Konsuls Manolda war es ruhig im Rauschgiftdezernat. Selvano buchte diese Tatsache wieder zu den Pluspunkten, die er für die Erhärtung seiner Theorien und seiner inneren Beruhigung ständig im stillen suchte.
Primo Galbez durchschnüffelte unterdessen alle Hauptstädte Südund Westeuropas nach Spuren eines Schmugglernetzes anhand der Liste, die man bei Baron v. Pottlach im Büro fand und die sich deckte mit der Kundenliste, die Manolda an Jose Biancodero gab. Aber wo auch Galbez hinkam, ob nach London oder Madrid, nach Brüssel oder Paris, nach Berlin oder Aachen, nach Vaduz oder Rom, überall traf er angesehene, alteingesessene Obstexportfirmen an, deren Leumund derart gut und einwandfrei war, daß Galbez nach seiner Rundreise müde und voller Resignation Selvano seinen Bericht auf den Tisch warf und sich sechs Wochen Urlaub nach Estoril nahm.
Anders ging es Dr. Albez.
Er war durch den Mißerfolg Primo Galbez' ungeheuer hellhörig geworden. Da es nun feststand, daß man ihn mit dem fingierten Telegramm nach Amsterdam locken wollte, um ihn dort unschädlich zu machen, mußte es doch eine Gruppe geben, die Interesse an seiner Person hatte und alles versuchen würde, nach dem Fehlschlag in Amsterdam in einer anderen Form seiner habhaft zu werden.
Dr. Albez dachte zunächst an einen Überfall auf sein Felsenschloß. Aber dann verwarf er den Gedanken, da der Gegner damit rechnen mußte, daß die Villa von der Polizei heimlich bewacht würde. Man mußte also auf eine andere Weise versuchen, ihn unschädlich zu machen. So blieb Dr. Albez stets in seinen Räumen oder betrat den Garten nur in Begleitung zweier bewaffneter Diener.
Das Rätselhafteste an dieser ganzen Sache war, daß er nicht wußte, was man von ihm wollte. Seine Exportfirma hatte er aufgelöst, Geheimsachen und Formeln von Professor Destillianos illegalen Tbc-Mitteln gab es nicht, und sonstige Wertsachen wie Patente oder auswertbare Erfindungen gab es ebensowenig.
So lebte Dr. Albez auf seiner Felsenvilla abgeschlossener und einsamer als je zuvor.
Kaum ein Jahr später fuhr ein dunkler Reisewagen den steilen Felsweg von dem Landhaus bei Azenhas do Mar herunter und bog auf die Hauptchaussee nach Lissabon ein. Weit zurückgelehnt in die dicken Lederpolster saß Dr. Albez im Wagen und las noch einmal den Brief durch, den er vor wenigen Stunden von Konsul Manolda aus Den Haag erhalten hatte. Es war ein kurzer, prägnanter Brief, der in keiner Weise den wahren Grund des Schreibens durchblicken ließ. Dieses Schreiben hatte - so glaubte Dr. Albez zu folgern - auch nur den einen Grund, ihn aus der Villa zu locken.
Dr. Albez war in den verflossenen Monaten zu der Überzeugung gekommen, daß es eigentlich sinnlos sei, sich hier auf seiner Felseninsel vor allen Menschen zu verschließen und daß alles, was kommen würde, ja doch nur eine vorher vom
Schicksal geknüpfte Kette sei, der er nie auf die Dauer entrinnen könnte.
Er hatte deshalb Selvano nicht von dem Schreiben aus Den Haag unterrichtet, sondern hatte seinem Personal die Anweisung gegeben, seine Sachen und den großen Reisewagen für eine längere Fahrt herzurichten. Er hatte die Komödie sogar so weit mitgespielt, daß er nach Den Haag an Manolda ein Telegramm richtete, in dem er seine Ankunft auf die Stunde genau angab und seine Freude über das Wiedersehen nach so langer Zeit bekundete.
Der Brief lautete:
»Lieber Freund Albez!
So geht das Leben nicht weiter! Nachdem ich es für dringend notwendig hielt, eine Zeitlang in die Dunkelheit zu tauchen, um für uns einige große Geschäfte unter Dach und Fach zu bringen, ist heute die Zeit gekommen, wo wir an die Auswertung meiner Bemühungen gehen müssen.
Ich habe Ihnen zunächst viel zu erklären, ehe ich zu Ihnen mit meinen Erfolgen kommen kann. Sie werden mit Recht über das Ihnen unbekannt anmutende Spiel der verschiedenen Interessengruppen erbost sein. Aber glauben Sie mir, daß all dies sein mußte, um das Erbe unseres Freundes Destilliano vor fremden Händen zu retten. Erklärungen darüber kann ich Ihnen aus verständlichen Gründen in diesem Brief nicht geben. Es ist nur so viel zu sagen, daß die Zeit des Wartens und der Ungewißheit nutzbringend angelegt wurde.
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