»Nicht heute Nacht«, sagte er. »Heute Nacht ist da kein Schmerz.«
»In Ordnung«, erwiderte sie. Sie zog ihm die Decke bis zum Kinn hoch. Wir schlossen die Tür. Baba wachte nicht mehr auf.
Sie füllten die Parkplätze der Moschee in Hayward. Auf dem kahlen Rasenplatz hinter dem Gebäude parkten die Autos in engen, improvisierten Reihen. Die Leute mussten bis zu drei oder vier Straßenblöcke weit fahren, um einen Platz zu finden.
Der Teil der Moschee, der den Männern vorbehalten war, bestand aus einem großen, rechteckigen Raum, der mit afghanischen Teppichen und dünnen Matratzen bedeckt war, die in parallel angeordneten Reihen lagen. Männer kamen nacheinander herein, zogen am Eingang die Schuhe aus und setzten sich im Schneidersitz auf die Matratzen. Aus einem Lautsprecher ertönte der Sprechgesang eines Mullahs, der surrahs aus dem Koran vortrug. Ich saß an der Tür, der für die Familie des Verstorbenen vorgesehenen Stelle. General Taheri saß neben mir.
Durch die geöffnete Tür konnte ich die lange Reihe der Autos sehen, die ankamen. Das Sonnenlicht glitzerte auf den Windschutzscheiben. Den Autos entstiegen Männer in dunklen Anzügen, Frauen in schwarzen Kleidern, die Köpfe mit den traditionellen weißen hijabs bedeckt.
Während Worte aus dem Koran im Raum widerhallten, dachte ich an die alte Geschichte über Baba, in der er in Belutschistan mit einem Schwarzbären ringt. Baba hatte sein ganzes Leben lang mit Bären gerungen. Seine junge Frau verloren. Einen Sohn allein groß gezogen. Sein geliebtes Heimatland, sein watan, verlassen. Armut. Demütigung. Am Ende war er auf einen Bären getroffen, den er nicht zu bezwingen vermochte. Aber selbst da hatte er zu seinen eigenen Bedingungen verloren.
Nach jeder Gebetsrunde stellten sich Gruppen von Trauernden hintereinander auf und grüßten mich auf ihrem Weg hinaus. Ich schüttelte ihnen pflichtbewusst die Hände. Viele von ihnen kannte ich kaum. Ich lächelte höflich, dankte ihnen für ihre Wünsche, lauschte, was auch immer sie über Baba zu sagen hatten.
»…hat mir dabei geholfen, das Haus in Taimani zu bauen…«
»…segne ihn…«
»…niemanden, an den ich mich wenden konnte, und er hat mir Geld geliehen…«
»…kaum gekannt… aber hat mir Arbeit besorgt…«
»…wie ein Bruder für mich…«
Während ich ihnen zuhörte, wurde mir klar, wie viel von dem, was ich war, was ich darstellte, von Baba und den Spuren, die er im Leben anderer Leute hinterlassen hatte, bestimmt worden war. Mein ganzes Leben lang war ich »Babas Sohn« gewesen. Jetzt war er fort. Baba konnte mir den Weg nicht mehr weisen; ich würde ihn von nun an allein finden müssen.
Der Gedanke jagte mir schreckliche Angst ein.
Zuvor hatte ich am Grab in dem kleinen muslimischen Teil des Friedhofs zugesehen, wie sie Baba in das Loch hinabließen. Der Mullah und ein anderer Mann begannen sich darüber zu streiten, welcher Vers des Koran am Grab gesprochen werden sollte. Die Diskussion hätte noch hitziger werden können, wenn nicht General Taheri eingeschritten wäre. Der Mullah wählte einen Vers und trug ihn vor, wobei er seinen Widersacher mit bösen Blicken bedachte. Ich sah zu, wie sie die erste Schaufel Erde in das Grab fallen ließen. Dann ging ich. Schritt auf die andere Seite des Friedhofs. Setzte mich in den Schatten eines Roten Ahorns.
Nun hatten alle Trauergäste Baba die letzte Ehre erwiesen, und die Moschee war bis auf den Mullah, der das Mikrofon ausstöpselte und den Koran in ein grünes Tuch hüllte, leer. Der General und ich traten in die späte Nachmittagssonne hinaus. Wir schritten die Stufen hinunter, vorbei an Männern, die in Gruppen zusammenstanden und rauchten. Ich vernahm Gesprächsfetzen. Es ging um ein Fußballspiel in Union City, das am nächsten Wochenende stattfand, ein neues afghanisches Restaurant in Santa Clara. Das Leben ging bereits weiter, ließ Baba zurück. »Wie geht es dir, bachem ?«, fragte General Taheri.
Ich biss die Zähne zusammen. Hielt die Tränen zurück, die den ganzen Tag zu fließen gedroht hatten. »Ich werde Soraya suchen«, sagte ich.
»In Ordnung.«
Ich ging zur Frauenseite der Moschee. Soraya stand mit ihrer Mutter und ein paar Frauen, an die ich mich noch vage von unserer Hochzeitsfeier erinnerte, auf den Stufen. Ich bedeutete ihr herüberzukommen.
»Können wir ein paar Schritte gehen?«, fragte ich.
»Natürlich.« Sie nahm meine Hand.
Wir gingen schweigend einen gewundenen Kiesweg entlang, der von niedrigen Hecken gesäumt wurde. Wir setzten uns auf eine Bank und beobachteten ein älteres Ehepaar, das einige Reihen entfernt neben einem Grab kniete und einen dicken Strauß Tausendschönchen an den Grabstein legte. »Soraya?«
»Ja?«
»Ich werde ihn vermissen.«
Sie legte ihre Hand auf meinen Schoß. Babas chila glitzerte an ihrem Ringfinger. Hinter ihr konnte ich sehen, wie Babas Trauergäste über den Mission Boulevard davonfuhren. Bald schon würden auch wir uns auf den Rückweg machen, und Baba würde zum ersten Mal ganz allein sein.
Soraya zog mich an sich, und endlich ließ ich den Tränen freien Lauf.
Da Soraya und ich keine Verlobungszeit gehabt hatten, erfuhr ich viele Dinge über die Taheris erst, nachdem ich in ihre Familie eingeheiratet hatte. Zum Beispiel, dass der General einmal im Monat an einer furchtbaren Migräne litt, die beinahe eine Woche lang anhielt. Wenn der Kopfschmerz kam, ging der General in sein Zimmer, zog sich aus, löschte das Licht, schloss die Tür ab und kam erst wieder heraus, wenn der Schmerz nachgelassen hatte. Niemandem war es erlaubt, das Zimmer zu betreten, niemand durfte klopfen. Irgendwann tauchte er mit verschwollenen, blutunterlaufenen Augen wieder auf, trug seinen grauen Anzug und roch nach Schlaf und Bettlaken. Ich erfuhr von Soraya, dass Khanum Taheri und er schon so lange sie sich erinnern konnte in getrennten Zimmern schliefen. Ich erfuhr, dass er manchmal kleinlich war, zum Beispiel, wenn er einen Bissen von dem qurma probierte, das seine Frau vor ihn hingestellt hatte, um dann einen Seufzer auszustoßen und es wegzuschieben. »Ich werde dir etwas anderes zubereiten«, sagte Khanum Taheri darauf für gewöhnlich, er aber ignorierte sie und aß schmollend Brot und Zwiebeln. Das machte Soraya wütend und brachte ihre Mutter zum Weinen. Soraya erklärte mir, dass er Antidepressiva nahm. Ich erfuhr, dass die Familie von der Fürsorge lebte und er in den USA noch kein einziges Mal versucht hatte, sich Arbeit zu suchen — er zog es vor, von der Regierung ausgestellte Schecks einzulösen, statt sich mit Arbeit zu erniedrigen, die für einen Mann von seinem Rang unangemessen war. Den Trödelmarkt betrachtete er als Hobby, als eine Möglichkeit, sich mit anderen Afghanen zu treffen. Der General glaubte, dass Afghanistan über kurz oder lang befreit und die Monarchie wieder hergestellt werden würde. Dann würde man auch seine Dienste wieder benötigen. Und so legte er jeden Tag seinen grauen Anzug an, zog seine Taschenuhr auf und wartete.
Ich erfuhr, dass Khanum Taheri — die ich jetzt Khala Jamila nannte — einmal in Kabul für ihre wundervolle Stimme berühmt gewesen war. Auch wenn sie das Singen nie zum Beruf gemacht hatte, hatte sie doch das Talent dazu gehabt. Ich erfuhr, dass sie Volkslieder singen konnte, ghazals, sogar raga, was für gewöhnlich eine Männerdomäne war. Aber sosehr der General die Musik auch liebte — er besaß eine beachtliche Sammlung von Aufnahmen klassischer ghazals, auf denen afghanische und Hindi-Sänger zu hören waren —, so war er doch der Ansicht, dass man das Singen besser denen überlassen sollte, die ein weniger hohes Ansehen genossen. Es war eine seiner Bedingungen vor der Hochzeit gewesen, dass seine Frau niemals in der Öffentlichkeit auftreten würde. Soraya erzählte mir, dass ihre Mutter sehr gern bei unserer Hochzeit gesungen hätte — ein einziges Lied nur —, dass der General ihr aber nur einen seiner Blicke zugeworfen hatte und die Angelegenheit damit erledigt gewesen war. Khala Jamila spielte einmal in der Woche Lotto und sah sich jeden Abend im Fernsehen Johnny Carson an. Sie verbrachte die Tage im Garten, kümmerte sich um ihre Rosen, Geranien, Kartoffeln und Orchideen.
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