Aber dann verblüffte mich Baba, indem er sagte: »Ich vergebe dir.«
Er wollte ihm vergeben? Aber Diebstahl war doch die eine unverzeihliche Sünde, die größte aller Sünden über haupt. Wenn du einen Mann umbringst, stiehlst du ein Leben. Du stiehlst seiner Frau das Recht auf einen Ehemann, raubst seinen Kindern den Vater. Wenn du eine Lüge erzählst, stiehlst du einem anderen das Recht auf die Wahrheit. Wenn du betrügst, stiehlst du das Recht auf Gerechtigkeit. Es gibt keine erbärmlichere Tat als das Stehlen. Hatte mich Baba nicht auf seine Knie gehoben und mir diese Worte gesagt? Wie konnte er Hassan dann so einfach vergeben? Und wenn Baba das vergeben konnte, warum war er nicht imstande, mir zu verzeihen, dass ich nicht der Sohn war, den er sich immer gewünscht hatte? Warum…
»Wir gehen weg von hier, Aga Sahib«, sagte Ali.
»Was?«, rief Baba, und alle Farbe wich aus seinem Gesicht.
»Wir können hier nicht mehr leben«, sagte Ali.
»Aber ich vergebe ihm, Ali, hast du das denn nicht gehört?«, fragte Baba.
»Das Leben hier ist für uns unmöglich geworden, Aga Sahib. Wir gehen von hier weg.« Ali zog Hassan an sich, legte den Arm um die Schulter seines Sohnes. Es war eine beschützende Geste, und ich wusste, vor wem Ali ihn beschützte. Ali blickte zu mir hinüber, und in seinem kalten, unversöhnlichen Blick sah ich, dass Hassan es ihm erzählt hatte. Er hatte ihm alles erzählt, über Assef und seine Freunde und was sie ihm angetan hatten, über den Drachen und über mich. Seltsamerweise war ich froh, dass jemand wusste, was für ein Mensch ich wirklich war; denn ich hatte genug von der Versteckspielerei.
»Das mit dem Geld oder der Uhr ist mir egal«, sagte Baba, der die Arme geöffnet hatte und dessen Handflächen zum Himmel zeigten. »Ich verstehe nur nicht, war um du das tust… was meinst du mit unmöglich?«
»Es tut mir Leid, Aga Sahib, aber wir haben bereits gepackt. Unsere Entscheidung ist gefallen.«
Als Baba sich erhob, war ein kummervoller Ausdruck auf seinem Gesicht. »Ali, habe ich nicht gut für dich gesorgt? Bin ich zu dir und Hassan nicht gut gewesen? Du bist der Bruder, den ich nie gehabt habe, Ali, das weißt du doch. Bitte geh nicht.«
»Macht es nicht schwerer, als es ohnehin schon ist, Aga Sahib«, sagte Ali. Sein Mund zuckte, und einen Moment lang glaubte ich, eine Grimasse zu sehen. Da begriff ich die Tiefe des Schmerzes, den ich verursacht hatte, die Größe des Leids, das ich über alle gebracht hatte, sodass nicht einmal Alis erstarrte Miene seinen Kummer verbergen konnte. Ich zwang mich, Hassan anzusehen, aber er hatte den Kopf tief gebeugt, seine Schultern waren nach vorn gesackt, und seine Finger spielten mit einem Faden, der sich aus dem Saum seines Hemdes gelöst hatte.
Babas Stimme hatte einen flehenden Tonfall angenommen.
»Dann sag mir doch wenigstens, warum. Ich muss den Grund wissen!«
Aber Ali verriet Baba nichts. Er schwieg zu seinen Fragen genauso, wie er geschwiegen hatte, als Hassan den Diebstahl gestand. Ich werde niemals wirklich wissen, warum er es getan hat, doch ich konnte mir vorstellen, wie die beiden in dieser düsteren kleinen Hütte weinend dasaßen und Hassan ihn anflehte, mich nicht zu verraten. Aber ich konnte nicht ermessen, welche Beherrschung es Ali gekostet haben musste, dieses Versprechen zu halten.
»Werdet Ihr uns zur Bushaltestelle fahren?«
»Ich verbiete dir, das zu tun!«, brüllte Baba ungehalten. »Ich verbiete es dir, hörst du!«
»Bei allem Respekt, aber Ihr könnt mir gar nichts verbieten, Aga Sahib«, erwiderte Ali. »Wir arbeiten nicht mehr für Euch.«
»Wohin wirst du gehen?«, fragte Baba, und die Stimme brach ihm dabei.
»In den Hazarajat.«
»Zu deinem Cousin?«
»Ja. Werdet Ihr uns zur Bushaltestelle fahren, Aga Sahib?«
Und dann tat Baba etwas, was ich noch nie bei ihm gesehen hatte: Er weinte. Es jagte mir ein wenig Angst ein, einen erwachsenen Mann schluchzen zu sehen. Väter sollten eigentlich nicht weinen. »Bitte«, sagte Baba, aber Ali hatte sich schon zur Tür gewandt, und Hassan trottete hinter ihm her. Ich werde niemals vergessen, wie Baba dieses Wort aussprach, werde niemals den Schmerz in seiner Bitte vergessen, die Angst, die darin lag.
In Kabul regnete es selten im Sommer. Der klare Himmel erstrahlte in seinem Blau, und die Sonne glich einem Brandeisen, das einem den Nacken versengte. Bäche, in denen Hassan und ich den ganzen Frühling über Steine hatten springen lassen, trockneten aus, und Rikschas wirbelten Staub auf, wenn sie vorüberfuhren. Die Leute gingen für die zehn raka’t des Mittagsgebets in die Moschee und zogen sich dann irgendwo in den Schatten zurück, um zu dösen und auf die Kühle des frühen Abends zu warten. Sommer hieß lange, verschwitzte Schultage in hoffnungslos überfüllten, schlecht belüfteten Klassenräumen: Tage, an denen wir lernten, Verse aus dem Koran aufzusagen, und uns mit den zungenbrecherischen arabischen Wörtern herumquälten. Hieß Fliegen in der Handfläche fangen, während der Mullah die Worte herunterleierte und eine heiße Brise den Gestank vom Klohäuschen herübertrug, das auf der anderen Seite des Schulhofs stand, und den Staub um den einsamen, altersschwachen Basketballkorb aufwirbelte.
Aber als Baba Ali und Hassan an jenem Nachmittag zur Bushaltestelle fuhr, regnete es. Gewitterwolken zogen auf, färbten den Himmel stahlgrau. Innerhalb von wenigen Minuten schüttete es nur so, und das ununterbrochene Rauschen des herabströmenden Wassers schwoll in meinen Ohren an.
Baba hatte ihnen angeboten, sie bis nach Bamiyan zu fahren, aber das hatte Ali abgelehnt. Durch das trübe, vom Regen nasse Fenster meines Zimmers beobachtete ich, wie Ali den einen Koffer, in dem all ihr Hab und Gut untergebracht war, zu Babas Wagen trug, der mit laufendem Motor draußen vor dem Tor stand. Hassan schleppte seine Matratze, die fest zusammengerollt und mit einem Seil umwickelt war, auf der Schulter. Am nächsten Tag entdeckte ich, dass er sein ganzes Spielzeug in der leeren Hütte zurückgelassen hatte. Es lag auf einem Haufen in einer Ecke, genau wie die Geburtstagsgeschenke in meinem Zimmer.
Regen rann über meine Fensterscheibe. Ich sah, wie Baba den Kofferraum zuschlug. Dann ging er, schon ziemlich nass, zur Fahrerseite hinüber, lehnte sich in den Wagen und sagte etwas zu Ali, der auf dem Rücksitz saß; vielleicht war es ein letzter Versuch, ihn zum Bleiben zu bewegen. Sie unterhielten sich eine Weile, bis Baba, der vornübergebeugt dastand, einen Arm auf das Dach des Wagens gelegt, völlig durchnässt war. Aber als er sich aufrichtete, da sah ich an seinen eingesackten Schultern, dass das Leben, wie ich es seit meiner Geburt gekannt hatte, vorüber war. Baba glitt hinter das Steuer. Die Scheinwerfer wurden eingeschaltet und schnitten parallele Schneisen aus Licht in den Regen. Wenn dies einer der Hindi-Filme wäre, die Hassan und ich uns so oft angeschaut hatten, dann wäre dies der Teil, in dem ich nach draußen renne und meine nackten Füße durch das aufspritzende Regenwasser platschen. Ich laufe hinter dem Wagen her und bringe ihn mit lauten Schreien zum Anhalten, zerre Hassan vom Rücksitz und sage ihm — während sich meine Tränen mit dem Regenwasser vermischen —, wie Leid, wie schrecklich Leid mir das alles tut. Und dann umarmen wir uns mitten im Wolkenbruch. Aber das hier war kein Hindi-Film. Es tat mir wohl Leid, aber weder weinte ich, noch rannte ich dem Wagen hinterher. Ich sah zu, wie Babas Auto losfuhr und den Menschen mitnahm, dessen erstes gesprochenes Wort mein Name gewesen war. Ich erhaschte einen letzten, verschwommenen Blick auf Hassan, der zusammengesunken auf dem Rücksitz saß, bevor Baba an der Straßenecke, an der wir so viele Male Murmeln gespielt hatten, nach links abbog.
Ich trat zurück und sah nur noch den Regen wie schmelzendes Silber die Fensterscheibe hinablaufen.
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