März 1981
Schräg gegenüber von uns saß eine junge Frau. Sie trug ein olivgrünes Kleid und hatte sich einen schwarzen Schal um das Gesicht gelegt, um sich gegen die Kälte der Nacht zu schützen. Sie begann jedes Mal hektisch zu beten, wenn der Lastwagen einen Satz machte oder durch ein Schlagloch holperte, und jedes Vibrieren und Rütteln des Wagens mündete in einem » Bismillah!«. Ihr Ehemann, ein kräftiger Mann in einer ausgebeulten Hose mit einem himmelblauen Turban auf dem Kopf, hielt ein Kleinkind im Arm und befingerte mit der freien Hand seine Gebetsperlen. Seine Lippen bewegten sich in einem stillen Gebet. Da waren noch andere, insgesamt ungefähr ein Dutzend, Baba und mich eingeschlossen, die wir mit unseren Koffern zwischen den Beinen zusammengepfercht auf der mit einer Plane abgedeckten Ladefläche eines alten russischen Lastwagens saßen.
Meine Eingeweide waren in Aufruhr, seit wir kurz nach zwei Uhr morgens Kabul verlassen hatten. Auch wenn Baba es mir nie offen sagte, so wusste ich doch,dass er die Übelkeit, die mich beim Autofahren immer wieder überfiel, nur als eine weitere meiner zahllosen Schwächen ansah — das verriet mir sein verlegener Gesichtsausdruck, als ich ein- oder zweimal stöhnte, weil sich mein Magen so schrecklich verkrampfte. Als mich der stämmige Kerl mit den Perlen — der Ehemann der betenden Frau — fragte, ob ich mich übergeben müsse, erwiderte ich: »Vielleicht.« Baba blickte zur Seite. Der Mann hob die Ecke der Plane in die Höhe und klopfte an die Scheibe des Führerhauses, um dem Fahrer zuzurufen, dass er anhalten solle. Aber Karim, ein dürrer dunkelhäutiger Mann mit scharfen Zügen und einem schmalen Schnurrbart, schüttelte den Kopf.
»Wir sind noch zu nah an Kabul«, gab er zurück. »Sag ihm, dass er seinen Magen an die Kandare nehmen soll.« Baba brummte etwas in sich hinein. Ich wollte ihm sagen, dass es mir Leid tat, aber plötzlich füllte sich mein Mund mit Magensaft, und ich schmeckte Galle hinten in meiner Kehle. Ich drehte mich um, hob die Plane und erbrach mich über die Seite des fahrenden Lastwagens. Hinter mir entschuldigte sich Baba bei den anderen Pas sagieren. Als wäre es ein Verbrechen, wenn einem beim Autofahren übel wurde. Als dürfte einem mit achtzehn Jahren nicht mehr schlecht werden. Ich übergab mich noch zwei weitere Male, ehe Karim sich überreden ließ anzuhalten — was er vor allem deshalb tat, damit ich ihm das Fahrzeug, mit dem er sich seinen Lebensunterhalt verdiente, nicht völlig verdreckte. Karim war ein Menschenschmuggler, was damals ein recht lukratives Geschäft war. Er fuhr Menschen aus dem von den Shorawi, den Kommunisten, besetzten Kabul in die relative Sicherheit Pakistans. Er brachte uns nach Jalalabad, das ungefähr 170 Kilometer südöstlich von Kabul liegt, wo sein Bruder, Toor, der einen größeren Lastwagen besaß, mit einer zweiten Flüchtlingsgruppe auf uns wartete, um uns alle über den Khyberpass nach Peshawar zu bringen.
Wir befanden uns ein paar Kilometer westlich von Mahipar und seinem Wasserfall, als Karim am Straßenrand anhielt. Mahipar — was »Fliegender Fisch« bedeutet — war eine hoch gelegene Bergkuppe mit einem steilen Abhang, von der aus man das Wasserkraftwerk überblicken konnte, das die Deutschen 1967 für Afghanistan gebaut hatten. Baba und ich waren auf dem Weg nach Jalalabad — der Stadt der Zypressen und der Zuckerrohrfelder, wo die Afghanen im Winter Urlaub machten — unzählige Male diese über 1000 Meter hoch gelegene und 40 Kilometer lange Passstrecke entlanggefahren.
Ich sprang von der Ladefläche des Lastwagens und taumelte zur staubigen Böschung am Straßenrand. Mein Mund hatte sich mit Magensaft gefüllt, ein Anzeichen dafür, dass das Gewürge gleich wieder losgehen würde. Ich stolperte zu dem Felsvorsprung hinüber, von dem aus man sonst das tiefe Tal überblicken konnte, das nun in Dunkelheit gehüllt dalag. Ich bückte mich, die Hände auf die Knie gestützt, und wartete auf die Galle. Irgendwo brach ein Ast, und der Schrei einer Eule ertönte. Der kalte Wind ließ die Zweige der Bäume knacken und fuhr in die Büsche, die den Abhang sprenkelten. Und von unten ertönte das Geräusch von Wasser, das durch das Tal stürzte.
Während ich so gebückt am Straßenrand stand, dachte ich daran, wie wir das Haus verlassen hatten, in dem ich mein ganzes Leben gewohnt hatte — als wären wir nur gerade einmal kurz weggegangen, um einen Happen zu essen: Mit kofta verschmierte Teller stapelten sich in der Spüle, die Wäsche lag im Weidenkorb in der Halle, die Betten waren ungemacht, Babas Geschäftsanzüge hingen im Schrank. An den Wänden des Wohnzimmers befanden sich noch die Gobelins, und die Bücher meiner Mutter standen immer noch in den voll gestopften Regalen in Babas Arbeitszimmer. Die Anzeichen unserer Flucht waren nur für einen sehr aufmerksamen Beobachter wahrnehmbar: Das Hochzeitsfoto meiner Eltern war verschwunden, ebenso wie das unscharfe Foto von meinem Großvater und König Nadir Shah, auf dem sie mit dem toten Hirsch zu sehen sind. Einige wenige Kleidungsstücke fehlten in den Schränken. Das in Leder gebundene Notizbuch, das mir Rahim Khan vor fünf Jahren geschenkt hatte, war auch nicht mehr da.
Am Morgen würde Jalaluddin — unser siebter Dienstbote in fünf Jahren — sicherlich glauben, dass wir spazieren gegangen oder zu einer kleinen Spritztour weggefahren waren. Wir hatten ihm nichts erzählt. Man konnte niemandem in Kabul mehr trauen; für Geld oder unter Androhung von Gewalt verrieten die Leute einander, der Nachbar den Nachbarn, das Kind die Filtern, der Bruder den Bruder, der Diener den Herrn, der Freund den Freund. Ich erinnerte mich an den Sänger Ahmad Zahir, der an meinem dreizehnten Geburtstag Akkordeon gespielt hatte. Er war mit Freunden mit dem Auto zu einem Ausflug aufgebrochen, und irgendjemand hatte seine Leiche später mit einer Kugel im Kopf am Straßenrand gefunden. Die rafiqs, die Genossen, waren überall, und sie hatten Kabul in zwei Gruppen gespalten: die, die heimlich lauschten, und die, die es nicht taten. Das Problem war, dass niemand wusste, wer zu welcher Gruppe gehörte. So konnte man beispielsweise, wenn man beim Anpassen des neuen Anzugs beim Schneider eine beiläufige Bemerkung fallen ließ, dafür in den Kerkern von Koteh-Sangi landen. Beschwerte man sich beim Metzger über die Ausgangssperre, saß man, ehe man sichs versah, hinter Gittern und blickte in den Lauf einer Kalaschnikow. Selbst am Abendbrottisch, im eigenen Heim, konnten die Menschen nicht einfach so drauflosreden — die rafiqs waren auch in den Klassenzimmern; sie hatten den Kinder beigebracht, ihre Eltern auszuspionieren: worauf es zu hören galt, wem man es sagen sollte.
Was hatte ich nur mitten in der Nacht auf dieser Straße zu suchen? Ich hätte im Bett sein sollen, unter meiner Decke, ein Buch mit Eselsohren neben mir auf dem Nachttisch. Das hier war nur ein Traum. Das konnte nur ein Traum sein. Morgen früh würde ich aufwachen und aus dem Fenster sehen, und es gäbe keine russischen Soldaten mit grimmigen Gesichtern mehr, die über die Gehsteige patrouillierten, keine Panzer, die durch die Straßen meiner Stadt rollten und ihre Türme wie anklagende Finger hin und her drehten, keine Trümmer, keine Ausgangssperren, keine russischen Truppentransporter, die sich ihre Wege durch die Basare bahnten.
Dann hörte ich, wie Baba und Karim hinter mir bei einer Zigarette die Regelung in Jalalabad besprachen. Karim versicherte Baba, dass sein Bruder einen großen Lastwagen »von hervorragender und erstklassiger Qualität« besitze und dass der Weg nach Peshawar für ihn bloße Routine darstelle. »Er könnte Sie mit geschlossenen Augen dorthin fahren«, behauptete Karim. Ich hörte, wie er Baba erzählte, dass sein Bruder und er die russischen und afghanischen Soldaten kannten, die an den Kontrollposten Dienst taten, dass sie eine Vereinbarung getroffen hatten, die »für beide Seiten profitabel« war. Das hier war kein Traum. Plötzlich heulte wie aufs Stichwort eine Mig über uns hinweg. Karim warf seine Zigarette weg und zog eine Pistole aus dem Gürtel. Richtete sie auf den Himmel und tat so, als würde er schießen, während er auf die Mig spuckte und sie verfluchte.
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