Wenn Baba doch nur aufhören würde, ihn so zu nennen. Wie oft hatte er mich bisher Amir jan genannt? »Danke«, sagte ich. Assefs Mutter blickte mich an, als wollte sie etwas sagen, tat es dann aber doch nicht, und mir wurde bewusst, dass keiner von Assefs Eltern bisher auch nur ein einziges Wort gesprochen hatte. Bevor ich Baba und mich noch weiter in Verlegenheit bringen konnte — aber eigentlich doch mehr, um Assef und seinem Grinsen zu entgehen —, wich ich zurück. »Danke fürs Kommen«, sagte ich.
Ich schlängelte mich durch die Gästemenge und schlüpfte durch das schmiedeeiserne Tor. Zwei Häuser die Straße hinunter gab es ein großes unbebautes Grundstück. Ich hatte gehört, wie Baba Rahim Khan erzählte, dass ein Richter das Land gekauft habe und ein Architekt an den Plänen für ein Haus arbeite. Aber im Augenblick war das Grundstück noch leer, abgesehen von Erde, Stei nen und Unkraut. Ich riss das Papier von Assefs Ge schenk auf und hielt den Titel ins Mondlicht. Es war ein Buch über Hitler. Ich warf es ins Gestrüpp.
Dann lehnte ich mich an die Mauer des Nachbarn und ließ mich an ihr zu Boden gleiten. Dort saß ich eine ganze Weile in der Dunkelheit, die Knie an die Brust gezogen, blickte zu den Sternen hinauf und wartete, dass die Nacht zu Ende ginge.
»Solltest du nicht deine Gäste unterhalten?«, sagte eine vertraute Stimme. Rahim Khan schritt an der Mauer entlang auf mich zu.
»Dafür brauchen sie mich doch nicht. Baba ist da, schon vergessen?«, erwiderte ich. Das Eis in Rahim Khans Drink klirrte, als er sich neben mich setzte. »Ich wusste ja gar nicht, dass du Alkohol trinkst.«
»Jetzt weißt du es«, erwiderte er. Stieß mir munter den Ellbogen in die Seite. »Aber nur zu den ganz wichtigen Gelegenheiten.«
Ich lächelte. »Danke.«
Er neigte das Glas in meine Richtung und nahm einen Schluck. Dann zündete er sich eine Zigarette an, eine von den pakistanischen ohne Filter, die Baba und er immer rauchten. »Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass ich einmal fast geheiratet hätte?«
»Wirklich?«, fragte ich und musste bei der Vorstellung eines verheirateten Rahim Khan unwillkürlich lächeln. Ich hatte ihn immer für Babas stilles Alter Ego gehalten, für meinen Mentor, meinen Freund, der niemals vergaß, mir ein Souvenir, ein saughat, mitzubringen, wenn er von einer Auslandsreise zurückkam. Aber ein Ehemann? Ein Vater?
Er nickte. »Ja, wirklich. Ich war achtzehn. Ihr Name lautete Homaira. Sie war eine Hazara, die Tochter der Dienstboten unseres Nachbarn. Sie war so wunderschön wie ein pari, ein Engel, mit hellbraunem Haar, großen, haselnussbraunen Augen… und sie hatte so ein Lachen… Ich kann es manchmal heute noch hören.« Er schwenkte sein Glas. »Wir haben uns immer heimlich im Obstgarten meines Vaters getroffen, immer nach Mitternacht, wenn alle schon schliefen. Dann sind wir unter den Bäumen entlangspaziert, und ich habe ihre Hand gehalten… Mache ich dich verlegen, Amir jan?«.
»Ein bisschen«, gab ich zu.
»Es wird dich nicht umbringen«, erwiderte er und paffte an seiner Zigarette. »Also, wir hatten uns unser Leben so schön ausgemalt. Wir träumten von einer großartigen, wundervollen Hochzeit, zu der wir unsere Familien und Freunde von Kabul bis Kandahar einladen wollten. Wir träumten davon, Obstbäume im Garten zu pflanzen und alle möglichen Blumen, von einem Rasen, auf dem unsere Kinder spielen konnten. Und an den Freitagen, nach dem namaz in der Moschee, sollten sich alle zum Essen in unserem Haus treffen, und wir wollten mit ihnen im Garten essen, unter den Kirschbäumen, frisches Wasser aus dem Brunnen trinken. Und danach hätte es Tee mit Süßigkeiten gegeben, während wir zusahen, wie unsere Kinder mit ihren Cousins spielten…«
Er nahm einen großen Schluck von seinem Scotch. »Du hättest einmal den Gesichtsausdruck meines Vaters sehen sollen, als ich ihm davon erzählte. Meine Mutter ist sogar in Ohnmacht gefallen. Meine Schwestern haben ihr Wasser ins Gesicht gespritzt und ihr Luft zugefächelt und mir einen Blick zugeworfen, als hätte ich ihr die Kehle durchgeschnitten. Mein Bruder Jalal hatte bereits sein Jagdgewehr geholt, bevor mein Vater ihn aufhalten konnte.« Rahim Khan stieß ein bellendes, verbittertes Lachen aus. »Homaira und ich mussten es allein gegen die ganze Welt aufnehmen. Und du darfst mir eins glauben, Amir jan: Am Ende ist es immer die Welt, die gewinnt. So ist das nun einmal.«
»Und was ist dann passiert?«
»Am selben Tag noch hat mein Vater Homaira und ihre Familie auf einen Lastwagen verfrachtet und sie in den Hazarajat geschickt. Ich habe sie nie wiedergesehen.«
»Das tut mir Leid«, sagte ich.
»Ist wahrscheinlich besser so gewesen«, sagte Rahim Khan und zuckte mit den Schultern. »Sie hätte darunter gelitten. Meine Familie hätte sie niemals als eine der Ihren akzeptiert. Man kann doch niemanden mit Schwester anreden, dem man gestern noch befohlen hat, die Schuhe zu putzen.« Er blickte mich an. »Du weißt doch, dass du mir alles sagen kannst, Amir. Ich bin immer für dich da. Jederzeit.«
»Ich weiß«, sagte ich unsicher. Er blickte mich lange an, als wartete er auf etwas, und seine schwarzen unergründlichen Augen deuteten an, dass es ein unausgesprochenes Geheimnis zwischen uns gab. Einen Moment lang war ich versucht, ihm davon zu erzählen. Ihm alles zu erzählen, aber was würde er dann wohl von mir halten? Er würde mich verabscheuen, und das mit Recht.
»Hier.« Er reichte mir etwas. »Das hätte ich beinahe vergessen. Alles Gute zum Geburtstag.« Es war ein Notizbuch, in braunes Leder gebunden. Ich fuhr mit den Fingern über die mit Gold abgesteppten Kanten. Roch an dem Leder. »Für deine Geschichten«, sagte er. Ich wollte mich gerade bei ihm bedanken, als ein Krachen ertönte und Lichter über den Himmel zuckten.
»Ein Feuerwerk!«
Wir eilten zum Haus zurück, und dort standen alle Gäste im Garten und blickten zum Himmel hinauf. Kinder johlten und schrien bei jedem Prasseln und Zischen. Die Leute jubelten und brachen jedes Mal in Beifall aus, wenn eine Rakete hinaufschoss und in einem Feuerstrauß explodierte. Alle paar Sekunden wurde der Garten in ro tes, grünes und gelbes Licht getaucht.
Während einer dieser Salven sah ich etwas, das ich niemals vergessen werde: Hassan servierte Assef und Wali Getränke von einem Silbertablett. Das Licht funkelte und erstarb, dann ein Zischen und ein Knistern und wieder ein Flackern, dieses Mal orangefarben: ein grinsender Assef, der Hassan einen Fingerknöchel gegen die Brust drückt.
Dann gnädigerweise Dunkelheit.
Am nächsten Morgen saß ich in meinem Zimmer und riss ein Geburtstagspäckchen nach dem anderen auf. Ich weiß nicht, warum ich mir überhaupt die Mühe machte, sie auszupacken, da ich sämtliche Geschenke nur mit einem freudlosen Blick bedachte und dann in die Ecke warf. Der Haufen dort wurde immer höher: eine Polaroidkame ra, ein Transistorradio, eine aufwändige elektrische Eisenbahn — und mehrere zugeklebte Briefumschläge, die Bargeld enthielten. Ich wusste, dass ich weder das Geld ausgeben noch dem Radio lauschen würde, und auch die elektrische Eisenbahn würde niemals in meinem Zimmer über ihre Schienen rollen. Ich wollte nichts davon haben — es war alles Blutgeld; Baba hätte niemals eine solche Feier für mich ausgerichtet, wenn ich nicht das Turnier gewonnen hätte.
Von ihm bekam ich zwei Geschenke. Das eine hätte gewiss den Neid jedes Kindes in der Nachbarschaft hervorgerufen: ein nagelneues Fahrrad der Marke »Schwinn Stingray«, das beste aller Fahrräder. Nur eine Hand voll Kinder in ganz Kabul besaß ein solches Stingray, und jetzt gehörte ich dazu. Das Rad hatte einen hohen, geschwungenen Lenker mit schwarzen Gummigriffen und natürlich einen Bananensattel. Die Speichen waren goldfarben, der Stahlrahmen rot wie ein kandierter Apfel. Oder wie Blut. Vor ein paar Monaten wäre ich wie jedes andere Kind auch sofort auf das Rad gesprungen und damit durch die Straßen gerast.
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