Ich rannte denselben Weg zurück, den ich gekommen war. Rannte zurück zu dem beinahe verlassen daliegenden Basar. Ich taumelte auf eine Bude zu und lehnte mich an die mit einem Vorhängeschloss versehenen Schwingtüren. Stand keuchend und schwitzend da und wünschte mir, dass die Dinge einen anderen Ausgang genommen hätten.
Ungefähr fünfzehn Minuten später vernahm ich Stimmen und schnelle Schritte. Ich duckte mich hinter die Bude und sah, wie Assef und die anderen beiden vorbeirannten. Sie lachten, als sie die verlassene Straße entlangliefen. Ich zwang mich, weitere zehn Minuten zu warten. Dann ging ich zu dem zerfurchten Weg zurück, der entlang der verschneiten Schlucht verlief. Ich blinzelte in dem dämmerigen Licht und entdeckte Hassan, der langsam auf mich zukam. Wir trafen uns an einer nackten Birke am Rande der Schlucht.
Er hielt den blauen Drachen in den Händen; das war das Erste, was ich sah. Und ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, ich hätte nicht nach irgendwelchen Rissen Ausschau gehalten. Sein chapan war vorn voller Flecken und sein Hemd unterhalb des Kragens zerrissen. Er blieb stehen. Schwankte, als würde er jeden Moment umfallen. Dann fing er sich wieder. Reichte mir den Drachen.
»Wo bist du denn nur gewesen? Ich habe nach dir gesucht«, sagte ich. Es kam mir vor, als würde ich auf einem Stein herumkauen, als ich die Worte aussprach.
Hassan fuhr sich mit einem Ärmel über das Gesicht, wischte Rotz und Tränen weg. Ich wartete darauf, dass er etwas sagen würde, doch wir standen einfach nur stumm da im schwindenden Licht. Ich war dankbar für die frühen Schatten des Abends, die auf Hassans Gesicht fielen und das meine verbargen. Ich war froh, dass ich seinen Blick nicht erwidern musste. Ob er Bescheid wusste? Und wenn ja, was würde ich sehen, wenn ich tatsächlich in seine Augen blickte? Vorwürfe? Entrüstung? Oder — was Gott verhüten mochte, weil ich es am meisten fürchtete — womöglich arglose Ergebenheit? Denn das hätte ich am wenigsten von allem ertragen können.
Er wollte etwas sagen, doch die Stimme gehorchte ihm nicht. Er schloss den Mund, öffnete ihn wieder und schloss ihn erneut. Trat einen Schritt zurück. Wischte sich noch einmal über das Gesicht. Das war der einzige Moment, in dem wir beinahe über das geredet hätten, was in jener Gasse geschehen war. Ich fürchtete, er könne möglicherweise in Tränen ausbrechen, aber zu meiner Erleichterung tat er es nicht, und ich gab vor, das Versagen seiner Stimme gar nicht bemerkt zu haben. Genauso wie ich vorgab, die dunklen Spuren auf seinem Hosenboden nicht zu sehen. Oder die winzigen Tropfen, die ihm zwischen den Beinen herabfielen und den Schnee mit schwarzen Flecken tupften.
»Aga Sahib wird sich schon Sorgen machen«, war alles, was ich sagte. Er wandte sich von mir ab und hum pelte davon.
Es geschah genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich öffnete die Tür zu dem verrauchten Arbeitszimmer und trat ein. Baba und Rahim Khan tranken Tee und lauschten den knisternden und knackenden Nachrichten im Radio. Ihre Köpfe drehten sich. Ein Lächeln erschien auf den Lippen meines Vaters. Er breitete die kräftigen haarigen Arme aus. Ich legte den Drachen hin und trat in diese Umarmung. Ich vergrub mein Gesicht an der Wärme seiner Brust und weinte. Baba drückte mich ganz fest an sich, schaukelte mich hin und her. In dieser Umarmung vergaß ich, was ich getan hatte. Und das war gut.
Ich sah Hassan beinahe eine ganze Woche lang nicht. Wenn ich erwachte, fand ich das Brot getoastet, den Tee aufgegossen und das Ei fertig gekocht auf dem Küchentisch vor. Meine Kleidung für den Tag lag gebügelt und gefaltet auf dem Rohrstuhl in der Halle, wo Hassan für gewöhnlich das Bügeln erledigte. Meistens hatte er gewartet, bis ich am Frühstückstisch saß, bevor er damit begann — auf diese Weise konnten wir uns unterhalten. Oder er übertönte das Zischen des Eisens mit seinem Gesang und gab alte Hazara-Lieder über Tulpenfelder zum Besten. Doch jetzt begrüßten mich lediglich meine gefalteten Kleider. Und ein Frühstück, das ich nur noch selten ganz aufaß.
An einem bedeckten Morgen, als ich gerade das gekochte Ei auf meinem Teller herumschob, trat Ali mit einem Arm voll Holzscheite in die Küche. Ich fragte ihn, wo Hassan steckte.
»Der hat sich wieder schlafen gelegt«, sagte er, kniete sich vor den Ofen und zog die kleine viereckige Tür auf.
Ob er wohl nachher mit mir spielen könne, wollte ich wissen.
Ali verharrte mit einem Scheit in der Hand. Ein besorgter Ausdruck deutete sich auf seinem Gesicht an. »In letzter Zeit scheint er nur noch schlafen zu wollen. Er erledigt seine Aufgaben — darauf achte ich —, aber dann möchte er am liebsten nur noch unter seine Decke kriechen. Darf ich etwas fragen?«
»Wenn es sein muss.«
»Als er nach dem Drachenturnier nach Hause gekommen ist, da hat er ein wenig geblutet, und sein Hemd war zerrissen. Ich habe ihn gefragt, was geschehen ist, und er hat mir geantwortet, gar nichts, er sei bloß wegen des Drachens in eine kleine Rauferei mit ein paar Kindern geraten.«
Ich antwortete nichts darauf. Schob nur weiter das Ei auf meinem Teller herum.
»Ist ihm etwas zugestoßen, Amir Aga? Etwas, von dem er mir nichts sagt?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen?«
»Du würdest es mir doch sagen, oder? Inschallah, du würdest mir sagen, wenn etwas geschehen wäre?«
»Wie ich schon sagte, woher soll ich wissen, was mit ihm los ist?«, fuhr ich ihn an. »Vielleicht ist er ja krank. Die Leute werden doch ständig krank, Ali. So, wirst du jetzt wohl endlich den Ofen anzünden, oder soll ich etwa erfrieren?«
An jenem Abend fragte ich Baba, ob wir am Freitag nach Jalalabad fahren könnten. Er schaukelte in dem ledernen Drehstuhl hin und her, der hinter seinem Schreibtisch stand, und las Zeitung. Er legte die Zeitung hin und nahm die Lesebrille ab, die ich so hasste — Baba war nicht alt, ganz und gar nicht, und er hatte noch so viele Jahre vor sich, warum also musste er diese dumme Brille tragen?
»Warum nicht!«, sagte er. In letzter Zeit schien mir Baba nie mehr etwas abschlagen zu wollen. Zwei Abende zuvor hatte er mich sogar gefragt, ob ich Lust hätte, mir El Cid mit Charlton Heston im Aryana-Kino anzusehen. »Möchtest du Hassan fragen, ob er Lust hat, nach Jalalabad mitzukommen?«
Warum bloß musste Baba alles verderben? »Er ist mareez«, sagte ich. Fühlt sich nicht wohl.
»Wirklich?« Baba hörte auf, in seinem Stuhl zu schaukeln. »Was ist denn mit ihm los?«
Ich zuckte mit den Schultern und sank in das Sofa am Kamin. »Er hat wohl einen Schnupfen. Ali sagt, er schläft sich gesund.«
»Ich habe Hassan in den letzten Tagen selten gesehen«, sagte Baba. »Es ist also wirklich nichts weiter als ein Schnupfen?« Ich konnte nicht anders, die Art und Weise, wie sich seine Stirn vor Sorge furchte, war mir verhasst.
»Ja, bloß ein Schnupfen. Werden wir denn jetzt am Freitag fahren, Baba?«
»Ja, ja«, sagte er und schob seinen Stuhl vom Schreibtisch zurück. »Tut mir Leid wegen Hassan. Ich dachte, es hätte dir mehr Spaß gemacht, wenn er mitkommt.«
»Ach, wir zwei können doch auch Spaß zusammen haben«, erwiderte ich. Baba lächelte. Zwinkerte mir zu. »Zieh dich warm an«, sagte er.
Es sollten eigentlich nur wir beide sein — so hätte ich es gern gehabt —, aber bis Mittwochabend hatte Baba es geschafft, noch zwei Dutzend weitere Leute zu der Fahrt einzuladen. Er rief seinen Cousin Homayoun an — genau genommen ein Cousin zweiten Grades — und erwähnte, dass er am Freitag nach Jalalabad fahren wolle, und Homayoun, der in Frankreich Maschinenbau studiert und ein Haus in Jalalabad hatte, sagte, er würde gern alle dorthin einladen, er selbst wolle die Kinder und seine beiden Frauen mitnehmen, und seine Cousine Shafiqa und ihre Familie seien gerade aus Herat zu Besuch da, die hätten vielleicht auch Lust mitzukommen, und da sie in Kabul bei Cousin Nader wohnten, müsse man dessen Familie ebenfalls einladen, auch wenn Homayoun und Nader im Augenblick miteinander im Streit lagen, und wenn Nader eingeladen wurde, musste man selbstverständlich seinen Bruder Faruq dazubitten, sonst wäre der gekränkt und würde sie im nächsten Monat vielleicht nicht zur Hochzeit seiner Tochter einladen…
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