Zum Glück schlummerte Germán in seinem Studio, als wir ankamen. Leise führte mich Marina zu einem der Badezimmer, um mir im Kerzenlicht die Wunde am Bein zu waschen. Wände und Boden waren mit glasierten Kacheln ausgekleidet, in denen sich die Flammen spiegelten. In der Mitte stand auf vier eisernen Füßen eine riesige Badewanne.
»Zieh die Hose aus«, sagte Marina, die mir den Rücken zuwandte und in der Hausapotheke hantierte.
»Was?«
»Du hast mich schon gehört.«
Ich tat wie geheißen und legte das Bein auf den Wannenrand. Der Schnitt war tiefer, als ich gedacht hatte, und die Ränder hatten sich purpurrot verfärbt. Mir wurde übel. Marina kniete neben mir nieder und untersuchte das Bein sorgfältig.
»Tut’s weh?«
»Nur wenn ich es anschaue.«
Meine Behelfskrankenschwester näherte sich dem Schnitt mit einem alkoholgetränkten Wattebausch.
»Das wird brennen…«
Als der Alkohol die Wunde ätzte, klammerte ich mich so kräftig an die Wanne, dass sich meine Fingerabdrücke in sie eingruben.
»Tut mir leid«, flüsterte Marina und blies auf den Schnitt.
»Mir tut es noch leider.«
Ich atmete tief durch und schloss die Augen, während sie gewissenhaft die Wunde reinigte. Schließlich nahm sie eine Mullbinde aus der Hausapotheke und verband den Schnitt. Mit kundiger Hand klebte sie das Pflaster fest.
»Sie hatten es nicht auf uns abgesehen«, sagte sie.
Ich wusste nicht genau, was sie meinte.
»Diese Figuren im Gewächshaus«, sagte sie, ohne mich anzuschauen.»Sie haben das Fotoalbum gesucht. Wir hätten es nicht mitnehmen dürfen.«
Ich spürte ihren Atem auf dem Bein, während sie den Verband anlegte.
»Wegen dem am Strand, neulich…«, begann ich.
Marina hielt inne und schaute auf.
»Nichts.«
Sie klebte das letzte Stück Pflaster fest und betrachtete mich schweigend, ich dachte, sie würde etwas sagen, doch sie stand einfach auf und verließ das Badezimmer.
Ich blieb mit den Kerzen und einer unbrauchbaren Hose allein.
Als ich nach Mitternacht das Internat betrat, lagen alle meine Kameraden schon im Bett, aber durch die Schlüssellöcher sickerten schwache Lichtstrahlen auf den Gang. Auf Zehenspitzen glitt ich zu meinem Zimmer und schloss so leise wie möglich die Tür. Dann schaute ich auf den Wecker – fast ein Uhr. Ich knipste die Lampe an und zog das Fotoalbum aus der Tasche, das wir aus dem Gewächshaus mitgenommen hatten.
Wieder versank ich in die Galerie der Gestalten, die es beherbergte. Ein Bild zeigte eine Hand, deren Finger wie bei einem Amphibium durch Membranen verbunden waren. Daneben entblößte ein Mädchen in Weiß und mit blonden Korkenzieherlocken teuflisch grinsend zwischen den Lippen Reißzähne wie bei einem Hund. Seite um Seite zogen grausame Auswüchse der Natur an mir vorbei. Zwei Albinogeschwister, deren Haut im bloßen Licht einer Kerze in Flammen aufzugehen schien. Am Schädel zusammengewachsene Siamesen mit einander für ein ganzes Leben zugewandten Gesichtern. Der nackte Körper einer Frau mit einer Wirbelsäule, die gewunden war wie ein dürrer Ast. Viele waren Kinder oder Jugendliche, die jünger aussahen als ich. Erwachsene und gar Greise gab es kaum. Natürlich – die Lebenserwartung dieser Unglückseligen war äußerst gering.
Ich erinnerte mich an Marinas Worte, dieses Album gehöre nicht uns und wir hätten es niemals an uns nehmen dürfen. Jetzt, da sich das Adrenalin in meinem Blut verflüchtigt hatte, bekam dieser Gedanke eine neue Bedeutung. Mit dem Betrachten des Albums entweihte ich eine Sammlung von Erinnerungen, die nicht mir gehörten. Ich sah, dass diese Bilder der Traurigkeit und des Unglücks auf ihre Art ein Familienalbum bildeten. Wiederholt blätterte ich mich durch die Seiten, im Glauben, in ihnen eine Verbindung zu spüren, die weiter reichte als Raum und Zeit. Schließlich klappte ich es zu und verwahrte es wieder in meiner Tasche. Ich löschte das Licht, und das Bild von Marina, wie sie über den Strand spazierte, kam mir in den Sinn. Ich sah sie am Ufer davongehen, bis der Schlaf die Stimme der Flut zum Verstummen brachte.
Für einen Tag hatte der Regen Barcelona satt und entfernte sich nach Norden. Wie ein Strolch ließ ich an diesem Nachmittag die letzte Unterrichtsstunde aus, um mich mit Marina zu treffen. Die Wolken hatten sich zu einem blauen Vorhang aufgetan, die Sonne sprenkelte die Straßen. Marina erwartete mich im Garten, in ihr Geheimheft versunken. Sowie sie mich erblickte, klappte sie es eilig zu. Ich fragte mich, ob sie über mich schrieb oder über das, was uns im Gewächshaus widerfahren war.
»Wie geht’s deinem Bein?«Sie drückte das Heft mit beiden Armen an sich.
»Ich werde es überleben. Komm, ich möchte dir etwas zeigen.«
Ich zog das Album hervor und setzte mich neben sie auf den Brunnenrand. Während ich blätterte, seufzte Marina leise, verwirrt von diesen Bildern.
»Da.«Bei einem Foto gegen Ende des Albums hielt ich inne.»Heute Morgen beim Aufstehen ist es mir eingefallen. Bisher war ich noch nicht drauf gekommen, aber jetzt…«
Marina betrachtete das Bild, das ich ihr hinhielt. Ein Schwarzweißfoto, verhext durch die seltene Schärfe, die nur die alten Studioporträts besitzen. Darauf sah man einen Mann mit brutal missgebildetem Schädel und einer Wirbelsäule, die ihn kaum auf den Füßen hielt. Er stützte sich auf einen jungen Mann in weißem Kittel mit runden Brillengläsern und einer zu seinem akkurat geschnittenen Schnurrbart passenden Fliege. Ein Arzt. Er schaute in die Kamera. Der Patient bedeckte sich mit der Hand die Augen, als schämte er sich seiner Geartetheit. Dahinter konnte man die spanische Wand einer Umkleidekabine erkennen und etwas, was eine Arztpraxis sein musste. In einer Ecke sah man eine halb geöffnete Tür. Dort stand ein sehr kleines Mädchen mit einer Puppe und betrachtete schüchtern die Szene. Die Fotografie schien in erster Linie ein medizinisches Dokument zu sein.
»Schau genau hin«, sagte ich.
»Ich sehe nichts weiter als einen armen Teufel…«
»Schau nicht ihn an. Schau dahinter.«
»Ein Fenster…«
»Und was siehst du durch dieses Fenster?«
Sie runzelte die Stirn.
»Erkennst du ihn?«Ich deutete auf eine Drachenfigur, die die Fassade des Hauses jenseits des Zimmers schmückte, wo die Aufnahme gemacht worden war.
»Den hab ich irgendwo gesehen…«
»Das habe ich auch gedacht. Hier in Barcelona. Auf den Ramblas, gegenüber dem Liceo-Theater. Ich habe sämtliche Aufnahmen in diesem Album genau studiert, und das ist die einzige, die in Barcelona gemacht worden ist.«
Ich löste das Bild ab und reichte es Marina. Auf der Rückseite war in fast verwischten Buchstaben zu lesen:
Fotostudio Martorell-Borrás – 1951
Kopie – Dr. Joan Shelley
Rambla de los Estudiantes, 46 – 48, 1º. Barcelona
Mit einem Schulterzucken gab mir Marina das Bild zurück.
»Das Foto ist vor fast dreißig Jahren gemacht worden, Óscar, das besagt doch nichts.«
»Heute Vormittag habe ich im Telefonbuch nachgeschaut. Dieser Dr. Shelley ist immer noch drin, und zwar in der Rambla de los Estudiantes Nr. 46 – 48, erster Stock. Ich wusste doch, dass er mir bekannt vorkam. Dann habe ich mich daran erinnert, dass Sentís sagte, Dr. Shelley sei Michail Kolweniks erster Freund in Barcelona gewesen.«
Marina schaute mich lange an.
»Und du, um das zu feiern, hast noch etwas mehr getan, als nur im Telefonbuch nachzuschlagen…«
»Ich habe angerufen«, gab ich zu.»Dr. Shelleys Tochter María hat geantwortet. Ich hab ihr gesagt, es sei höchst wichtig, dass wir mit ihrem Vater sprechen.«
»Und sie hat dich ernst genommen?«
»Zuerst nicht, aber als ich Michail Kolweniks Namen nannte, hat sich ihre Stimme verändert. Ihr Vater hat eingewilligt, uns zu empfangen.«
Читать дальше