»So lange lebe ich sicher nicht«, meinte Staatsanwalt Ranelid. »Im Moment frage ich mich, ob ich überhaupt dieses Gespräch überlebe. Wie können Sie mir erklären, dass der Draisine Leichengeruch anhaftete, als sie gefunden wurde?«
»Was Sie nicht sagen, Herr Staatsanwalt. Tja, der Herr Bolzen hat die Draisine ja als Letzter verlassen, das müsste er Ihnen also selbst erzählen, aber nun ist er ja da unten in Dschibuti so unglücklich ums Leben gekommen. Wäre es wohl vorstellbar, dass ich an diesem Geruch schuld gewesen bin, Herr Staatsanwalt? Ich bin zwar noch nicht tot, das nicht, aber ich bin weiß Gott uralt … Könnte vielleicht so eine Art verfrühter Leichengeruch von mir ausgehen?«
Jetzt wurde der Staatsanwalt langsam ungeduldig. Die Zeit tickte ihm davon, und sie waren noch nicht mal über die ersten vierundzwanzig Stunden der fraglichen sechsundzwanzig Tage hinausgekommen. Was der alte Tattergreis hier von sich gab, war ja zu neunzig Prozent unwichtiger Quatsch.
»Erzählen Sie weiter!«, befahl Ranelid, ohne weiter auf die Leichengeruchsfrage einzugehen.
»Na ja, wir haben den schlafenden Herrn Bolzen dann auf der Draisine zurückgelassen und sind zu dem Imbissstand spaziert, der von Per-Gunnars Freund Benny betrieben wurde.«
»Haben Sie auch gesessen?«, erkundigte sich der Staatsanwalt.
»Nein, aber ich habe Kriminologie studiert«, erklärte Benny wahrheitsgemäß. Dann fügte er die Lüge hinzu, dass er im Zusammenhang mit diesem Studium Häftlinge in Hall befragt und dabei Per-Gunnars Bekanntschaft gemacht habe.
Staatsanwalt Ranelid schien sich noch eine Notiz zu machen und bat Allan Karlsson anschließend mit eintöniger Stimme:
»Erzählen Sie weiter!«
»Gern. Benny sollte Julius und mich ja nach Stockholm fahren, damit wir Per-Gunnar den Koffer mit den Bibeln übergeben konnten. Aber dann meinte Benny, er würde gern einen Umweg über Småland machen, wo seine Verlobte wohnt … Gunilla …«
»Friede Ihrer Hütte!«, sagte Gunilla und nickte Staatsanwalt Ranelid zu.
Staatsanwalt Ranelid bedachte die Schöne Frau ebenfalls mit einem kurzen Nicken und wandte sich dann wieder Allan zu, der bereits fortfuhr:
»Benny kannte Per-Gunnar ja am besten, und er meinte, Per-Gunnar könnte sicher noch ein paar Tage auf seine Bibeln warten, da stehen ja nun nicht unbedingt die ganz tagesaktuellen Nachrichten drin. Da muss man ihm sicher recht geben. Obwohl man ja auch nicht in alle Ewigkeit warten kann, denn wenn Jesus erst einmal auf die Erde zurückgekehrt ist, sind alle Kapitel zu seiner Wiederkunft ja doch überholt …«
»Nun schweifen Sie nicht schon wieder ab, Karlsson. Bleiben Sie beim Thema!«
»Selbstverständlich, Herr Staatsanwalt! Ich bleibe selbstverständlich beim Thema, denn alles andere kann weiß Gott ins Auge gehen. Ich kann Ihnen sagen, wenn das jemand weiß, dann ich. Wenn ich nicht beim Thema geblieben wäre, als ich in der Mandschurei vor Mao Tse-tung stand, wäre ich mit Sicherheit auf der Stelle erschossen worden.«
»Das wäre sicherlich das Beste gewesen«, sagte Staatsanwalt Ranelid und gab Allan mit einer Geste zu verstehen, dass er sich beeilen sollte.
»Ja, wie auch immer, Benny meinte, dass Jesus bestimmt nicht auf die Erde zurückkehren würde, während wir gerade in Småland sind, und soviel ich weiß, sollte er damit recht behalten …«
»Karlsson!«
»Ja, ja, schon gut. Na, wir fuhren also alle drei nach Småland. Julius und mir gefiel dieses kleine Abenteuer, aber dummerweise setzten wir Per-Gunnar nicht davon in Kenntnis. Das war natürlich ein Fehler.«
»Allerdings war das ein Fehler«, mischte sich Per-Gunnar Gerdin nun ein. »Natürlich hätte ich noch ein paar Tage auf die Bibeln warten können, das war nicht das Problem. Aber Sie müssen verstehen, Herr Staatsanwalt, ich dachte, dass Bolzen irgendwelche Dummheiten mit Julius, Allan und Benny ausgeheckt hat. Denn Bolzen hatte die Idee nie gefallen, dass Never Again das Evangelium verbreiten sollte. Und was man so in der Zeitung lesen konnte, war ja auch nicht gerade beruhigend!«
Der Staatsanwalt nickte und machte sich weitere Notizen. Vielleicht kam langsam ja doch so etwas wie Logik in die Geschichte. Er wandte sich an Benny:
»Aber als Sie von einem vermutlich gekidnappten Hundertjährigen lasen, von Never Again und dem ›Meisterdieb‹ Julius Jonsson – warum haben Sie da denn nicht Kontakt mit der Polizei aufgenommen?«
»Ich muss sagen, ich hab tatsächlich kurz dran gedacht. Aber als ich die Sache mit Allan und Julius besprach, entschieden wir uns klipp und klar dagegen. Julius erklärte, dass er aus Prinzip nicht mit der Polizei sprach, und Allan wies darauf hin, dass er aus dem Heim ausgerissen war und ganz bestimmt nicht zu Schwester Alice zurückwollte, nur weil die Zeitungen und das Fernsehen da was in den falschen Hals gekriegt hatten.«
»Sie sprechen aus Prinzip nicht mit der Polizei?«, wandte sich Ranelid an Julius Jonsson.
»Nee, das tu ich nicht. Ich hatte über Jahre immer wieder Pech in meinem Verhältnis zum Polizeilichen. Obwohl ich solche netten Begegnungen – wie gestern mit Kommissar Aronsson oder auch heute mit dem Herrn Staatsanwalt – natürlich davon ausnehme. Noch ein Schlückchen Kaffee gefällig, Herr Staatsanwalt?«
Ja, das war dem Herrn Staatsanwalt gefällig. Er brauchte seine ganze Kraft, um Ordnung in diese Unterredung zu bringen und um drei Uhr den Medien irgendetwas präsentieren zu können – etwas, was entweder der Wahrheit entsprach oder zumindest einigermaßen glaubwürdig war.
Doch der Staatsanwalt wollte noch nicht wieder von Benny Ljungberg ablassen.
»Und warum haben Sie Ihren Freund Per-Gunnar Gerdin nicht angerufen? Ihnen musste doch klar sein, dass er von Ihnen in der Zeitung lesen würde?«
»Ich dachte mir, die Polizei und der Staatsanwalt haben bestimmt noch nicht mitgekriegt, dass Jesus in Per-Gunnars Leben getreten ist, und deswegen hören sie sicher immer noch sein Telefon ab. Was das betrifft, muss mir der Herr Staatsanwalt doch sicher recht geben, oder?«
Der Staatsanwalt brummte etwas Unverständliches, machte sich eine Notiz und bereute, dass er den Journalisten auch dieses Detail verraten hatte, doch nun war es eben geschehen. Also machte er weiter. Diesmal wandte er sich an Per-Gunnar Gerdin.
»Aber Herr Gerdin scheint ja einen Tipp bekommen zu haben, wo sich Allan Karlsson und seine Freunde befanden. Woher kam dieser Tipp?«
»Leider werden wir das nie erfahren. Diese Information hat Kollege Humpen Hultén mit sich ins Grab genommen. Beziehungsweise in die Schrottpresse.«
»Und was war das für ein Tipp?«
»Dass Allan, Benny und seine Freundin in Rottne in Småland gesehen worden sind. Ich glaube, ein Bekannter von Humpen hat angerufen. Mich interessierte am meisten die Information an sich. Ich wusste ja, dass Bennys Freundin in Småland lebt und rote Haare hat. Also gab ich Humpen den Auftrag, sofort zu dieser Ortschaft zu fahren und sich vor dem ICA auf die Lauer zu legen. Essen muss ja schließlich jeder …«
»Und das machte der Humpen gern für Sie – im Namen Jesu?«
»Na ja, da treffen Sie jetzt den Nagel auf den Kopf, Herr Staatsanwalt. Man kann ja allerhand von Humpen behaupten, aber religiös war er nie. Er war fast genauso sauer über die neue Ausrichtung des Clubs wie Bolzen. Er redete immer davon, nach Russland oder ins Baltikum zu gehen und dort mit Drogen zu handeln. Haben Sie schon mal so was Schreckliches gehört, Herr Staatsanwalt? Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass er tatsächlich damit angefangen hat, aber da müssen Sie ihn selbst fragen … Ach nein, geht ja gar nicht mehr …«
Der Staatsanwalt musterte Per-Gunnar Gerdin misstrauisch.
»Wie Benny Ljungberg schon angedeutet hat, haben wir eine Aufzeichnung, in der Sie Gunilla Björklund als ›die Alte‹ bezeichnen, und später schieben Sie auch noch den einen oder anderen Fluch nach. Was sagt der Herr denn dazu?«
Читать дальше