Bosse war der Erste in der Gruppe, der dem Staatsanwalt keinen reinen Unfug auftischte, sondern tatsächlich meinte, was er sagte. Und das musste Ranelid auch gespürt haben, denn plötzlich begann er zu bezweifeln, dass dieses ganze Bibelgerede nur Tarnung war. Er ergriff die Bibel, die Bosse ihm hinhielt, und dachte, dass ihn jetzt vielleicht sowieso nur noch eine spontane Bekehrung aus seiner Zwangslage retten konnte. Doch das sagte er nicht. Stattdessen fragte er:
»Können wir bitte zur Schilderung der Vorfälle zurückkommen? Was ist denn nun mit diesem verdammten Koffer in Malmköping passiert?«
»Nicht fluchen!«, ermahnte ihn die Schöne Frau.
»Soll ich jetzt vielleicht wieder weitererzählen?«, schlug Allan vor. »Also, ich musste etwas früher zum Reisezentrum als gedacht, da Julius mich in Per-Gunnars Auftrag darum gebeten hatte. Es hieß, Bolzen Bylund habe gerade Per-Gunnar in Stockholm angerufen und sei ein bisschen angeschickert gewesen – wenn Sie meine Ausdrucksweise nochmals entschuldigen wollen! Aber das weiß der Herr Staatsanwalt ja schon, oder vielleicht auch nicht, denn ich kenne Ihre Trinkgewohnheiten ja nicht und möchte Ihnen nichts unterstellen, aber auf jeden Fall … Wo war ich noch mal stehen geblieben? Ach ja, ich wollte sagen, Sie wissen ja, wo der Schnaps hineingeht, da geht der Verstand heraus, oder wie das heißt. Übrigens saß ich selbst schon mal in berauschtem Zustand in einem U-Boot in zweihundert Meter Tiefe mitten in der Ost…«
»In Gottes Namen, jetzt kommen Sie doch endlich zur Sache«, bat Staatsanwalt Ranelid.
»Nicht den Namen des Herrn missbrauchen!«, ermahnte ihn die Schöne Frau.
Staatsanwalt Ranelid stützte die Stirn in eine Hand, während er ein paarmal tief durchatmete. Unterdessen fuhr Allan Karlsson fort:
»Ja, also Bolzen Bylund hatte Per-Gunnar in Stockholm angerufen und ihm lallend mitgeteilt, dass er seine Mitgliedschaft im Bibelclub kündigen und lieber Fremdenlegionär werden wollte. Aber vorher – nur gut, dass Sie schon sitzen, Herr Staatsanwalt, denn jetzt muss ich etwas ganz Schreckliches erzählen – vorher wollte er auf dem Marktplatz in Malmköping noch die ganzen Bibeln verbrennen !«
»Wortwörtlich soll er gesagt haben: ›diese ganzen verfluchten Scheißbibeln‹«, erläuterte die Schöne Frau.
»Natürlich wurde ich sofort losgeschickt, um Herrn Bolzen zu suchen und ihm den Koffer abzunehmen, bevor es zu spät war. Die Zeit ist ja oft knapp, manchmal knapper, als man ahnt. Wie zum Beispiel damals, als General Franco in Spanien um ein Haar vor meinen Augen in die Luft gesprengt worden wäre. Aber seine Mitarbeiter waren unglaublich geistesgegenwärtig, packten ihren General und trugen ihn in Sicherheit. Die dachten nicht lange nach, die handelten einfach.«
»Was hat General Franco denn mit dieser Geschichte zu tun?«, wollte Staatsanwalt Ranelid wissen.
»Überhaupt gar nichts, Herr Staatsanwalt, ich wollte ihn nur als erhellendes Beispiel nennen. Man kann sich nie deutlich genug ausdrücken.«
»Wie wäre es dann, wenn Sie sich ebendarum bemühen würden, Herr Karlsson? Was ist dann mit dem Koffer passiert?«
»Tja, der Herr Bolzen wollte ihn nicht aus der Hand geben, und meine körperliche Verfassung gestattete mir nicht, den Koffer mit Gewalt an mich zu nehmen – übrigens nicht nur meine körperliche Verfassung, rein prinzipiell finde ich, dass es ganz furchtbar ist, wenn die Menschen …«
»Nun bleiben Sie doch endlich mal beim Thema!«
»Ja, entschuldigen Sie, Herr Staatsanwalt. Also, als der Herr Bolzen ganz plötzlich die sanitären Anlagen des Reisezentrums aufsuchen musste, nutzte ich die Gelegenheit. Der Koffer und ich verschwanden im Bus nach Strängnäs und fuhren Richtung Byringe, zum guten alten Julius, oder Julle, wie wir ihn manchmal nennen.«
»Julle?«, echote der Staatsanwalt, dem nichts Intelligenteres mehr einfiel.
»Oder Julius«, sagte Julius. »Angenehm.«
Der Staatsanwalt schwieg wieder eine Weile. Jetzt hatte er tatsächlich angefangen, sich die eine oder andere Notiz zu machen, und es sah so aus, als würde er Striche und Pfeile aufs Papier malen. Dann wandte er ein:
»Aber Karlsson hat das Busticket doch mit einem Fünfziger bezahlt und sich dabei erkundigt, wie weit er damit kommt. Wie passt das zu seinem Vorhaben, nach Byringe zu fahren und nirgendwo anders hin?«
»Ach, Unsinn«, sagte Allan. »Ich weiß doch, was die Fahrt nach Byringe kostet. Ich hatte nur gerade einen Fünfziger in der Brieftasche und hab mir einen kleinen Scherz erlaubt. Das ist doch wohl noch nicht verboten, oder, Herr Staatsanwalt?«
Ranelid machte sich nicht die Mühe zu erörtern, inwieweit ein kleiner Scherz verboten war. Stattdessen forderte er Allan erneut auf, sein Erzähltempo etwas zu steigern.
»Was ist dann passiert – in groben Zügen?«
»In groben Zügen? In groben Zügen ist passiert, dass Julius und ich einen gemütlichen Abend zusammen verbrachten, bis irgendwann Herr Bolzen gegen die Tür bolzte, wenn der Herr Staatsanwalt das Wortspiel gestattet. Doch da wir Schnaps auf dem Tisch hatten – Sie erinnern sich vielleicht noch von vorhin, dass ich eine Flasche Schnaps dabeihatte, und um genau zu sein, es war nicht nur eine Flasche, sondern zwei, man sollte schließlich auch in den kleinsten Details bei der Wahrheit bleiben, und wer bin ich schon, dass ich beurteilen könnte, was in dieser Geschichte wichtig oder weniger wichtig wäre, das muss der Herr Staatsanw…«
»Erzählen Sie weiter!«
»Entschuldigung. Ja, also der Herr Bolzen war schon nicht mehr ganz so wütend, als wir ihm Elchbraten und Schnaps auftischten. Im Laufe des Abends kam er zu dem Entschluss, die Bibeln doch nicht zu verbrennen, zum Dank für den Schnaps, den wir ihm spendiert hatten. Der Alkohol hat eben auch seine positiven Seiten, finden Sie nicht, Herr St…«
»Erzählen Sie weiter!«
»Am nächsten Morgen hatte der Herr Bolzen einen schrecklichen Kater, wenn Sie verstehen, was ich meine, Herr Staatsanwalt. Ich habe ja seit Frühjahr ’45 keinen Kater mehr gehabt – damals habe ich versucht, Vizepräsident Truman mit Tequila unter den Tisch zu trinken. Leider starb in dem Moment Präsident Roosevelt, deswegen mussten wir unsere kleine Feier vorzeitig abbrechen, aber das war vielleicht nicht das Verkehrteste, denn am nächsten Tag … mein Lieber, da ging es vielleicht rund in meinem Schädel! Da ging es mir nur unwesentlich besser als Roosevelt, möchte ich fast sagen.«
Während Staatsanwalt Ranelid überlegte, was er sagen sollte, zwinkerte er nervös. Schließlich gewann seine Neugier die Oberhand. Außerdem rutschte ihm vor lauter Verwirrung prompt das Du heraus.
»Was redest du da eigentlich die ganze Zeit? Hast du tatsächlich Tequila mit Vizepräsident Truman getrunken, als Roosevelt das Zeitliche segnete?«
»Na ja, gesegnet hat der wohl nicht mehr viel«, meinte Allan. »Aber ich verstehe schon, worauf Sie hinauswollen. Doch wir wollen uns jetzt ja nicht an Details aufhängen, oder was meinen Sie, Herr Staatsanwalt?«
Der Staatsanwalt meinte gar nichts, worauf Allan fortfuhr:
»Der Herr Bolzen war auf jeden Fall nicht in der Lage, uns beim Fortbewegen der Draisine zu helfen, als wir am nächsten Tag nach Åkers Styckebruk aufbrachen.«
»Er hatte ja nicht mal Schuhe an, wenn ich das recht verstanden habe«, sagte der Staatsanwalt. »Können Sie mir das erklären?«
»Hach, wenn Sie gesehen hätten, was für einen Kater der Herr Bolzen hatte – der hätte sich auch in der Unterhose auf die Draisine gesetzt.«
»Und Ihre eigenen Schuhe? Ihre Pantoffeln wurden ja später in der Küche von Julius Jonsson gefunden.«
»Ja, also, Schuhe hab ich mir natürlich von Julius geliehen. Wenn man hundert Jahre alt ist, kann es schon mal vorkommen, dass man in Pantoffeln losläuft. Das werden Sie schon noch merken, wenn Sie noch so vierzig, fünfzig Jahre abwarten.«
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