Die Schöne Frau reagierte mit einem lebhaften Vortrag zum Thema, dass es wohl kaum irgendwas bringen dürfte, sich hinzusetzen und ausgerechnet dem Staatsanwalt die Entwicklungen der letzten Wochen in allen Einzelheiten zu schildern. Julius stimmte ihr zu. Wenn man für unschuldig erklärt worden war, dann war man das auch.
»Und das ist für mich ja völlig neu, deswegen fände ich es auch schrecklich schade, wenn es mit meiner Unschuld in nicht mal vierundzwanzig Stunden schon wieder vorbei wäre.«
Doch Allan sagte, seine Freunde sollten endlich aufhören, sich wegen jeder Kleinigkeit Sorgen zu machen. Die Zeitungen und das Fernsehen würden die Gruppe garantiert nicht in Ruhe lassen, bevor sie ihre Story hatten. Da war es doch noch besser, wenn sie das Ganze einer Einzelperson, nämlich dem Staatsanwalt, erzählten, als wenn ihnen noch wochenlang die Journalisten durch den Vorgarten stolperten.
»Außerdem haben wir doch den ganzen Abend, um uns auszudenken, was wir sagen wollen«, meinte Allan.
Diese letzte Bemerkung hatte Kommissar Aronsson nicht hören wollen. Er stand auf, um den anderen seine Anwesenheit in Erinnerung zu rufen und sie davon abzuhalten, noch mehr zu sagen, was nicht für seine Ohren bestimmt war. Dann meinte er, dass er jetzt aufbrechen wolle, wenn die Gruppe einverstanden sei. Wenn Benny so freundlich sein wolle, ihn zum Hotel in Falköping zu fahren, wäre ihm Aronsson sehr dankbar. Ansonsten beabsichtige er, unterwegs Staatsanwalt Ranelid anzurufen und ihm auszurichten, dass er morgen um zehn Uhr willkommen war, wenn das die Entscheidung der Gruppe sei. Er selbst habe vor, morgen Vormittag im Taxi vorbeizukommen, und sei es nur, um sein Auto zu holen. Ach, und ob es wohl möglich sei, noch ein Glas von diesem auserlesenen bulgarischen Champagner zu bekommen, bevor man aufbrach? Ach, ein ungarischer sei das? Na, das kam ja fast aufs Gleiche heraus.
Kommissar Aronsson bekam noch ein randvolles Glas, das er hastig herunterkippte, bevor er sich die Nase kratzte und sich auf den Beifahrersitz seines Autos setzte, das Benny schon vorgefahren hatte. Dann deklamierte er durch das heruntergelassene Fenster:
Ach, wenn wir hätten, o Freunde, ein Schaff
ungarisch Wein, uns zu laben …
»Carl Michael Bellman«, nickte Beinahe-Literaturwissenschaftler Benny.
»Johannesevangelium, Kapitel 8, Vers 7, Kommissar. Vergessen Sie das morgen nicht«, rief Bosse ihm in einer plötzlichen Eingebung hinterher. » Johannesevangelium, Kapitel 8, Vers 7! «
25. KAPITEL Freitag, 27. Mai 2005
Eskilstuna–Falköping gehört nicht zu den Strecken, die man in einer Viertelstunde zurücklegt. Staatsanwalt Conny Ranelid hatte im Morgengrauen aufstehen müssen (nachdem er obendrein äußerst schlecht geschlafen hatte), um um zehn Uhr auf Klockaregård zu sein. Das Treffen selbst durfte dann auch nicht länger als eine Stunde dauern, weil die Pressekonferenz ja schon wieder um drei Uhr beginnen sollte.
Als Ranelid auf der E20 bei Örebro hinter dem Steuer saß, war er den Tränen nahe. Der große Sieg der Gerechtigkeit , so hätte sein Buch heißen sollen. Pah! Wenn es auch nur einen Hauch von Gerechtigkeit gäbe, müsste sofort der Blitz in dieses verdammte Anwesen einschlagen und alle, die sich dort aufhielten, verbrennen. Dann könnte sich der Staatsanwalt für die Journalisten auch ausdenken, was er wollte.
In seinem Hotel in Falköping hatte sich Kommissar Aronsson gründlich ausgeschlafen – das war schon lange mal wieder fällig gewesen. Gegen neun Uhr wachte er auf und spürte einen Stich von Reue, als er daran dachte, wie er mit den potenziellen Verbrechern mit Champagner angestoßen hatte. Außerdem hatte er klar und deutlich gehört, wie Allan sagte, dass sie sich eine Geschichte für Staatsanwalt Ranelid ausdenken sollten. Machte Aronsson sich am Ende gerade mitschuldig? Und wenn ja, woran?
Als er am Abend zuvor ins Hotel gekommen war, hatte er – auf Bosse Ljungbergs Empfehlung hin – die Bibel herausgesucht, die der Gideonbund verdienstvollerweise in eine der Schreibtischschubladen gelegt hatte, und das Johannesevangelium, Kapitel 8, Vers 7 aufgeschlagen. Dann saß er mehrere Stunden in der Hotelbar und las in der Bibel. Ein Gin Tonic leistete ihm dabei Gesellschaft, anschließend noch ein Glas Gin Tonic, und zum Schluss noch ein Gin Tonic.
Das genannte Kapitel handelte von der Ehebrecherin, die die Pharisäer vor Jesus geschleppt hatten, um ihn vor ein Dilemma zu stellen. Wenn er sagte, dass die Frau nicht für ihr Verbrechen gesteinigt werden solle, verstieß Jesus gegen das Gebot Mose (3. Buch Mose). Stellte er sich hingegen auf Moses’ Seite, geriet er in Konflikt mit den Römern, denen Blutgerichtsbarkeit allein oblag. Sollte er sich also mit Moses anlegen oder mit den Römern? Die Pharisäer rieben sich schon die Hände, weil sie glaubten, den Rabbi in die Enge getrieben zu haben. Doch Jesus war eben Jesus, und nach einer gewissen Bedenkzeit sagte er:
»Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.«
Damit hatte er nicht nur den Konflikt mit Moses und den Römern vermieden, sondern auch den mit den Pharisäern. Und trotzdem war die Sache erledigt. Die Pharisäer konnten sich schleichen, einer nach dem anderen (denn die Menschen sind ja im Allgemeinen nicht ohne Sünde). Zum Schluss war Jesus mit der Frau allein.
»Weib, wo sind sie, deine Verkläger? Hat dich niemand verdammt?«
Sie antwortete:
»Herr, niemand.«
Und dann sagte Jesus:
»So verdamme ich dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht mehr.«
Der Kommissar besaß genug Polizisteninstinkt, um zu wittern, dass hier immer noch der eine oder andere Hund begraben lag. Doch Karlsson und Jonsson und Ljungberg und Ljungberg und Björklund und Gerdin waren seit gestern ja vom eitlen Ranelid für unschuldig erklärt worden, und wer war Aronsson, sie jetzt noch Verbrecher zu nennen? Außerdem handelte es sich bei ihnen ja um eine besonders sympathische Gruppe, und – wie Jesus ganz richtig bemerkt hatte – wer konnte schon den ersten Stein werfen? Aronsson dachte an so manchen dunkleren Augenblick seines eigenen Lebens zurück, aber vor allem regte er sich über Staatsanwalt Ranelid auf, der dem durch und durch liebenswerten Piranha Gerdin den Tod gewünscht hatte, nur damit er selbst besser dastand.
»Nee, nee, das lös du mal schön allein, Ranelid«, sagte Kommissar Göran Aronsson und nahm den Fahrstuhl in den Frühstückssaal des Hotels.
Zu Cornflakes, Toast und Eiern genoss er die Lektüre von Dagens Nyheter und Svenska Dagbladet . In beiden Zeitungen sprach man vorsichtig von einem Fiasko für die Staatsanwaltschaft im Falle des verschwundenen und zwischenzeitlich des Mordes verdächtigten, inzwischen aber schon wieder für unschuldig erklärten Hundertjährigen. Allerdings mussten die Zeitungen zugeben, dass sie noch zu wenig über die Sache wussten. Der Alte selbst war unauffindbar, und der Staatsanwalt wollte vor Freitagnachmittag nicht mehr verraten.
»Wie gesagt«, wiederholte Aronsson. »Das lös du mal schön allein, Ranelid.«
Dann bestellte er sich ein Taxi nach Klockaregård, wo er um 9.51 Uhr eintraf, genau drei Minuten vor dem Staatsanwalt.
Für den von Ranelid so heiß ersehnten Blitzschlag bestand keinerlei meteorologisches Risiko. Doch es war trübe und kühl. Daher hatten die Bewohner des Hofes auch in der geräumigen Küche gedeckt.
Am Abend zuvor hatte sich die Gruppe auf eine alternative Schilderung der Geschehnisse geeinigt, die man Staatsanwalt Ranelid unterjubeln wollte, und zur Sicherheit hatten sie diese Version zum Frühstück noch einmal durchgespielt. Jetzt waren alle Rollen für das vormittägliche Schauspiel verteilt. Nun kann man sich ja immer viel leichter an die Wahrheit erinnern als – wie in diesem Fall – an ihr Gegenteil. Wenn einer schlecht lügt, kann das übel für ihn ausgehen, deswegen mussten die Mitglieder der Gruppe jetzt ihre Zunge hüten. Außerdem war alles gestattet, womit man Staatsanwalt Ranelid ablenken konnte.
Читать дальше