» Verdammte Hacke, ich fass es nicht! «, sagte die Schöne Frau.
»Jetzt setzt euch mal hin, dann erzähl ich euch alles«, sagte Julius.
Genau wie Benny hatte die Schöne Frau am meisten daran zu knabbern, dass sie die Leiche in einer Holzkiste entsorgt hatten. Dafür imponierte ihr allerdings, dass Allan einfach so aus dem Fenster geklettert war und seinem alten Leben den Rücken gekehrt hatte.
»Ich hätte genau dasselbe tun sollen, und zwar, vierzehn Tage nachdem ich dieses Arschloch geheiratet hatte.«
Damit kehrte wieder Ruhe auf Sjötorp ein. Die Schöne Frau und Buster fuhren noch einmal zum Einkaufen: Lebensmittel, Getränke, Kleidung, Kosmetikartikel und noch so einiges mehr. Sie bezahlte alles bar, mit Fünfhundertkronenscheinen, die sie aus einem ganzen Bündel zog.
* * * *
Kommissar Aronsson verhörte die Zeugin von der Tankstelle in Mjölby, eine Ladendetektivin Mitte fünfzig. Sowohl ihr Berufsstand als auch die Art, wie sie ihre Beobachtungen wiedergab, machten sie sehr glaubwürdig. Außerdem war die Zeugin in der Lage, Allan auf Bildern von einer Geburtstagsfeier zu identifizieren, die vor ein paar Wochen anlässlich eines achtzigsten Geburtstags im Altersheim stattgefunden hatte. Schwester Alice war so freundlich gewesen, die Fotos nicht nur an die Polizei weiterzugeben, sondern auch an die Vertreter der Presse, die einen dahin gehenden Wunsch geäußert hatten.
Widerwillig musste sich Kommissar Aronsson eingestehen, dass er diesen Hinweis am Vortag fälschlicherweise sofort abgetan hatte. Aber es war zwecklos, sich nachträglich noch darüber zu ärgern. Stattdessen konzentrierte er sich lieber auf die Analyse der Situation. Aus der Perspektive der Fliehenden gab es zwei Möglichkeiten: Entweder wussten die beiden Alten und der Imbissbudenbesitzer, wohin sie wollten, oder sie fuhren einfach auf gut Glück Richtung Süden. Aronsson neigte zur ersten Annahme, denn es ist einfacher, jemanden zu verfolgen, der ein konkretes Ziel hat, als jemanden, der einfach planlos durch die Gegend irrt. Aber bei diesen Männern konnte man das unmöglich sagen. Es ließ sich kein einleuchtender Zusammenhang herstellen zwischen Allan Karlsson und Julius Jonsson einerseits und Benny Ljungberg andererseits. Jonsson und Ljungberg konnten Bekannte sein, sie wohnten ja kaum mehr als zwanzig Kilometer voneinander entfernt. Aber es war auch möglich, dass Ljungberg entführt worden war und man ihn zwang, das Fluchtauto zu fahren. Auch der Hundertjährige konnte zu dieser Reise gezwungen worden sein, obwohl diese Vermutung durch zweierlei relativiert wurde: 1. durch die Tatsache, dass Allan Karlsson ausgerechnet in Byringe Bahnhof aus dem Bus gestiegen und offenbar aus freien Stücken zu Julius Jonsson gegangen war, sowie 2. die Aussagen der Zeugen, die den Eindruck gehabt hatten, dass Julius Jonsson und Allan Karlsson sowohl auf der Draisinenfahrt durch den Wald als auch bei ihrem Spaziergang in der Nähe des Stahlwerkes in bestem Einvernehmen miteinander standen.
Auf jeden Fall hatte die Zeugin beobachtet, dass der silberne Mercedes die E4 verlassen und die Landstraße 32 Richtung Tranås genommen hatte. Das war zwar schon knapp vierundzwanzig Stunden her, aber interessant war es trotzdem. Denn wer in südlicher Richtung auf der E4 unterwegs ist und bei Mjölby auf die Landstraße 32 abfährt, kann nur wenige Fahrtziele im Auge haben. Die Gegend um Västervik/Vimmerby/Kalmar kam nicht in Frage, denn dann wäre das Auto schon in Norrköping abgebogen, oder in Linköping, je nachdem, wie weit nördlich sie auf die E4 aufgefahren waren.
Jönköping/Värnamo und die Region südlich davon konnte man auch ausschließen, denn dort gab es überhaupt keinen Grund, die E4 zu verlassen. Vielleicht Oskarshamn und dann weiter nach Gotland, aber in den Passagierlisten der Gotlandfähre fanden sich keinerlei Hinweise. Dann blieb eigentlich nur noch Nord-Småland: Tranås, Eksjö, vielleicht Nässjö, Åseda, Vetlanda und die unmittelbare Umgebung. Vielleicht sogar noch ein Stück weiter südlich, bis Växjö, aber dann hatten sie nicht die direkte Route gewählt. Was andererseits gut möglich war, denn wenn die Alten und der Imbissbudenbetreiber sich verfolgt fühlten, war es ja nur vernünftig, auf kleinere Straßen auszuweichen.
Auf jeden Fall sprach einiges für das Gebiet, das Aronsson gerade eingekreist hatte: erstens die Tatsache, dass im Auto zwei Personen ohne gültigen Pass saßen. Sie konnten sich also kaum ins Ausland absetzen. Zweitens die Tatsache, dass die Mitarbeiter von Kommissar Aronsson in einem Umkreis von drei- bis fünfhundert Kilometern um Mjölby jede erdenkliche Tankstelle in südlicher, südöstlicher und südwestlicher Richtung angerufen hatten. Niemand hatte von einem silbernen Mercedes mit den drei auffälligen Passagieren berichten können. Sie hätten das Auto zwar auch an einer Selbstbedienungstankstelle auftanken können, aber im Allgemeinen fuhren die Leute Tankstellen mit Service an, weil man nach einer gewissen Strecke doch noch eine Tüte Süßigkeiten, ein Getränk oder ein Würstchen obendrauf braucht. Für die bemannten Tankstellen sprach ebenfalls, dass die drei schon einmal eine solche angefahren hatten, nämlich in Mjölby.
»Also nach Tranås, Eksjö, Nässjö, Vetlanda, Åseda … und Umgebung«, stellte Kommissar Aronsson zufrieden fest. Doch im nächsten Moment verfinsterte sich seine Miene gleich wieder.
»Und dann?«
* * * *
Als der Anführer von The Violence in Braås nach einer grässlichen Nacht erwachte, fuhr er sofort zur Tankstelle, um seinen übermächtigen Drang nach einer Zigarette zu befriedigen. Neben dem Eingang war die Titelseite des Expressen ausgehängt, und das große Foto zeigte … ganz eindeutig denselben alten Mann, den er in der Nacht in Rottne gesehen hatte.
In der Eile vergaß er die Zigaretten völlig, sondern kaufte nur den Expressen und staunte Bauklötze über das, was er las. Dann rief er sofort seinen großen Bruder Humpen an.
* * * *
Das Geheimnis um den verschwundenen, vermutlich entführten Hundertjährigen beschäftigte die ganze Nation. TV4 brachte abends eine Doku zu den Hintergründen des Falles, »Kalte Fakten Spezial«, die zwar auch nicht weiter kam als der Expressen (und mittlerweile auch das Aftonbladet ), aber immerhin anderthalb Millionen Zuschauer verzeichnen konnte, darunter den Hundertjährigen selbst und seine drei neuen Freunde im småländischen Sjötorp.
»Wüsste ich’s nicht besser, dann könnte mir dieser alte Mann direkt leidtun«, bemerkte Allan.
Die Schöne Frau sah das Ganze nicht ganz so unbekümmert und meinte, dass Allan, Julius und Benny gut daran täten, noch eine ganze Weile in Deckung zu bleiben. Den Mercedes sollten sie ab jetzt lieber hinter dem Stall abstellen. Sie wollte morgen allerdings los
ziehen und sich den zum Möbelwagen umgebauten Reisebus kaufen, mit dem sie schon länger geliebäugelt hatte. Es war schließlich gut möglich, dass man demnächst rasch die Zelte abbrechen musste, und dann musste die ganze Familie mit. Einschließlich Sonja.
9. KAPITEL 1939–1945
Am 1. September 1939 lief Allans unter spanischer Flagge fahrendes Schiff im Hafen von New York ein. Er hatte sich das Land im Westen eigentlich nur mal kurz ansehen wollen, um dann den nächsten Dampfer zurück zu nehmen, doch am selben Tag spazierte einer von den Kumpels des generalísimo in Polen ein, und schon war der Krieg in Europa wieder in vollem Gange. Das unter spanischer Flagge fahrende Schiff wurde erst mit einem Auslaufverbot belegt, dann beschlagnahmt und diente schließlich bis zum Friedensschluss im Jahre 1945 der U. S. Navy.
Sämtliche Männer an Bord wurden zur Einwanderungsbehörde auf Ellis Island geschleust. Dort legte der Beamte jedem Mann dieselben vier Fragen vor: 1. Name? 2. Staatsangehörigkeit? 3. Beruf? 4. Zweck des Aufenthalts in den Vereinigten Staaten von Amerika?
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