»Was bist du denn sonst noch beinahe , außer Tierarzt?«, erkundigte sie sich mit glänzenden Augen.
Benny wusste ebenso gut wie Julius, dass die Entwicklungen der letzten Tage nicht allzu ausführlich dargelegt werden sollten, daher war er dankbar, als die Fragen der Schönen Frau eine andere Richtung nahmen. Er könne sich leider nicht mehr an alles erinnern, behauptete er, man lernt ja doch so einiges, wenn man drei Jahrzehnte ununterbrochen die Schulbank drückt, vorausgesetzt, dass man seine Hausaufgaben auch immer einigermaßen ernst nimmt. Benny wusste jedenfalls, dass er beinahe Tierarzt war, beinahe Allgemeinarzt, beinahe Architekt, beinahe Ingenieur, beinahe Botaniker, beinahe Sprachenlehrer, beinahe Sportpädagoge, beinahe Historiker und beinahe noch eine Handvoll anderer Sachen. Hinzu kam, dass er noch eine ganze Reihe anderer kürzerer Studiengänge von wechselnder Qualität und Relevanz beinahe absolviert hatte. Man hätte ihn beinahe als Streber bezeichnen können, denn oftmals hatte er während eines Semesters mehrere Fächer parallel belegt.
Dann fiel Benny noch etwas ein, was er beinahe war, obwohl er es beinahe vergessen hatte. Er stand auf, wandte sich an die Schöne Frau und deklamierte:
Aus meinem ärmlichen, dunklen Leben
Aus der langsamen Nacht meiner Einsamkeit
Erheb ich mein Lied zu dir, mein Weib,
meinem fürstlich glänzenden Schatz.
Da wurde es ganz still, nur die Schöne Frau murmelte einen unhörbaren Fluch, während ihre Wangen rot anliefen.
»Erik Axel Karlfeldt«, erläuterte Benny. »Mit seinen Worten möchte ich dir für das Essen und die warme Stube danken. Ich habe wohl noch nicht erwähnt, dass ich auch beinahe Literaturwissenschaftler bin?«
Dann ging er vielleicht einen Schritt zu weit, denn er forderte die Schöne Frau vor dem Kamin zum Tanz auf. Aber da lehnte sie hastig ab, mit der Bemerkung, irgendwann müsse auch mal Schluss sein mit den Dummheiten. Doch Julius merkte, dass die Schöne Frau geschmeichelt war. Sie machte den Reißverschluss ihrer Joggingjacke zu und zog sie glatt, um vor Benny möglichst vorteilhaft auszusehen.
Während Allan dankend ablehnte, gingen die anderen zum Kaffee über, und wer wollte, bekam noch einen Cognac dazu. Julius nahm gerne beides, Benny begnügte sich mit der Hälfte.
Dann bombardierte Julius die Schöne Frau mit Fragen zum Haus und ihrer eigenen Lebensgeschichte – einerseits war er neugierig, andererseits wollte er um jeden Preis vermeiden, dass sie selbst erzählen mussten, wer sie waren, wohin sie wollten und warum. Das ließ sich dann aber glücklich umgehen, weil sich die Schöne Frau in Fahrt redete und über ihre Kindheit sprach, über den Mann, den sie mit achtzehn geheiratet und zehn Jahre später rausgeschmissen hatte (diesen Teil der Geschichte würzte sie mit besonders vielen Schimpfwörtern), dass sie niemals Kinder bekommen hatte, dass Sjötorp früher das Sommerhäuschen der Eltern gewesen war, bis die Mutter vor sieben Jahren starb und der Vater der Schönen Frau das Haus ganz überließ, über den zutiefst uninspirierenden Job am Empfang der Poliklinik von Rottne, über das Erbe, das langsam, aber sicher zur Neige ging, und dass es wohl bald Zeit wurde, zu neuen Ufern aufzubrechen.
»Schließlich bin ich schon dreiundvierzig«, sagte die Schöne Frau. » Verdammte Scheiße , da ist das halbe Leben ja schon um.«
»Da sei dir mal nicht so sicher«, sagte Julius.
* * * *
Der Hundeführer gab Kicki neue Anweisungen, und sie begann einer Spur hinterherzuschnüffeln, die von der Draisine wegführte. Kommissar Aronsson hoffte, dass die betreffende Leiche irgendwo in der Nähe auftauchen würde, aber nach den ersten dreißig Metern begann Kicki im Kreis zu laufen und schien nur noch aufs Geratewohl zu suchen, bis sie ihren Hundeführer irgendwann flehend ansah.
»Kicki bittet um Entschuldigung, aber sie kann nicht sagen, wohin die Leiche verschwunden ist«, übersetzte der Hundeführer.
Vielleicht drückte der Hundeführer sich nicht exakt genug für Kommissar Aronsson aus, denn der deutete die Antwort so, dass Kicki die Witterung der Leiche schon bei der Draisine verloren hatte. Hätte Kicki jedoch sprechen können, hätte sie gesagt, dass der Tote auf jeden Fall noch ein paar Meter aufs Werksgelände geschleift worden war, bevor er verschwand. Dann hätte der Kommissar vielleicht ermittelt, welche Transporte in den letzten Stunden das Werk verlassen hatten. Und dann hätte es nur eine Antwort gegeben: Ein Lastwagen mit Anhänger war nach Göteborg gefahren, wo seine Fracht auf ein Schiff umgeladen werden sollte. Wenn das Wörtchen »wenn« nicht wär, dann wären auch die örtlichen Polizeireviere an der E20 alarmiert worden, und irgendwo bei Trollhättan hätte man den Lkw an den Fahrbahnrad gewinkt. Aber so verschwand die Leiche außer Landes.
Knapp drei Wochen später saß ein junger Ägypter, der die Fracht bewachen sollte, auf dem Lastkahn, der gerade den Suezkanal passiert hatte, und litt unter dem pestilenzialischen Gestank, der aus dem Frachtraum aufstieg.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er befeuchtete einen Lappen, band ihn sich vor Mund und Nase und ging auf die Suche. In einer der Holzkisten fand er schließlich die Erklärung – darin lag nämlich eine halb verweste Leiche.
Der ägyptische Seemann überlegte kurz. Die Leiche einfach dort liegen zu lassen und sich den Rest der Fahrt mit diesem Gestank verderben, war keine verlockende Aussicht. Außerdem würde das unter Garantie langwierige Vernehmungen bei der Polizei in Dschibuti nach sich ziehen, und wie die Polizei in Dschibuti drauf war, war weithin bekannt.
Die Leiche wegzuschaffen, war auch kein erhebender Gedanke, aber zu guter Letzt kam er doch zu einem Entschluss. Erst leerte er die Taschen der Leiche, damit er wenigstens einen gewissen Lohn für seine Mühen hatte, und dann warf er den Toten über Bord.
So kam es also, dass das, was einmal ein schmächtiger junger Mann mit langen, fettigen blonden Haaren, struppigem Bart und einer Jeansjacke mit der Aufschrift Never Again auf dem Rücken gewesen war, mit einem lauten Platsch im Roten Meer landete und Fischfutter wurde.
* * * *
Gegen Mitternacht löste sich die Gesellschaft in Sjötorp auf. Julius ging ins Obergeschoss, um sich schlafen zu legen, während sich Benny und die Schöne Frau in den Mercedes setzten, um der Poliklinik in Rottne, die um diese Zeit schon geschlossen hatte, einen Besuch abzustatten. Auf halbem Weg entdeckten sie Allan unter einer Decke auf dem Rücksitz. Der Alte wachte auf und erklärte, er habe eigentlich nur frische Luft schnappen wollen, aber dann sei ihm eingefallen, dass er doch auch im Auto schlafen könnte, denn die Treppe in den ersten Stock war ihm auf einmal ein bisschen zu viel für seine schwachen Knie vorgekommen, es sei ja doch ein langer Tag gewesen.
»Man ist eben keine neunzig mehr«, meinte er.
So war aus dem Duo ein Trio geworden, aber das machte natürlich nichts. Die Schöne Frau erläuterte ihren Plan jetzt im Detail: Mit Hilfe eines Schlüssels, den sie vergessen hatte zurückzugeben, als sie kündigte, würden sie sich Zutritt zum Krankenhaus verschaffen. Dort wollten sie sich in Dr. Erlandssons Computer einloggen und in seinem Namen ein Antibiotikarezept für die Schöne Frau ausstellen. Dafür brauchte man natürlich Erlandssons Benutzernamen und Passwort, aber das war kein Problem, wie die Schöne Frau verriet, denn Dr. Erlandsson war nicht nur eingebildet, er war auch dumm wie Brot . Als vor ein paar Jahren das neue Computersystem installiert wurde, musste die Schöne Frau dem Arzt beibringen, wie man elektronisch Rezepte ausstellt, und sie hatte damals auch Benutzernamen und Passwort ausgewählt.
Der Mercedes kam am angepeilten Tatort an. Benny, Allan und die Schöne Frau stiegen aus und überprüften erst die nächste Umgebung, bevor sie zuschlugen. Natürlich musste genau in diesem Moment ein Auto vorbeifahren, dessen Fahrer das Trio ebenso erstaunt musterte wie das Trio ihn. Schon eine Menschenseele, die in Rottne nach Mitternacht noch wach war, kam einer Sensation gleich. Heute Nacht waren sie gleich zu viert.
Читать дальше